Als Christ
      muss man
  einen Standpunkt haben

 

 

Kindheit in Masuren

           Wenn ich an meine Kindheit in Ostpreußen denke, erinnere ich mich zuerst an die Wälder und Seen Masurens, an Alleen und Wiesen, meterhohen Schnee und Kälte bis zu minus 30 Grad. Ja, meine Kindheit war schön. Ich lebte mit meiner Familie auf einem großen Bauernhof in einem Dorf mit weit auseinanderliegenden Bauernhöfen, dem Dorf Skurpien, Kreis Neidenburg, Bezirk Allenstein. Das Gebiet war landwirtschaftlich geprägt und damals noch nicht elektrifiziert. Die Elektrifizierung war geplant, wurde aber durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhindert. Autos und Traktoren gab es noch nicht, die Pferde waren unsere Zugtiere. Im Winter fuhren wir in dicke Pelzdecken gehüllt mit dem Schlitten zur Kirche oder zu Besuchen bei Verwandten. Meine Eltern waren religiös, ließen meiner älteren Schwester, meinem jüngeren Bruder und mir aber viel Freiheit. Wir lebten mit der Natur und mit den Tieren. Mein Vater züchtete neben der Landwirtschaft Pferde. Dass ich lieber auf dem Rücken eines Pferdes saß, wenn mein Vater die Pferde zum Baden brachte, als in den Kindergarten zu gehen, war sonnenklar. Ich ging nicht gern in den Kindergarten, lieber stromerte ich auf dem Hof und auf den Feldern herum. Ich legte mich auch gern zu unserem Hund, der als bissig galt, und zu den jungen Welpen in seine Hütte. Das war aufregender als alles, was der Kindergarten zu bieten hatte. Aufregend war auch, als Soldaten der Wehrmacht kamen und Schützengräben aushoben. Geboren am 29.12.1936, besuchte ich  im Sommer 1944 die erste Klasse. Der Unterricht fiel meist aus, weil die Soldaten die Schule als Unterkunft nutzten, was wir nicht bedauerten. Das Leben war aufregender als der Unterricht.

 

 Die Rote Armee macht Quartier in unserem Hof

           Auf unserem Hof lebten russische und polnische Zwangsarbeiter, mit denen unsere Eltern Russisch und Polnisch sprachen. Mein Vater sprach akzentfrei Russisch und so lernten wir Kinder die Sprache so nebenbei. Im Januar 1945 kam die Rote Armee näher und viele Familien aus dem Dorf flohen in Richtung Westen. Doch mein Vater wollte auf seinem Hof bleiben. Dass das Leben gefährlicher wurde, spürten wir, wenn die Erde von den Bombeneinschlägen zitterte und wir statt dem Abendrot das brennende Allenstein sahen. „Wir beschützen euch, wenn die Russen kommen“, sagten unsere polnischen Zwangsarbeiter und das taten sie auch. Als am 18. Januar 1945 eine Vorhut der Roten Armee einrückte, sagten die Polen, die Eigentümer seien geflohen und meine Familie tat so, als würde sie auf dem Hof mitarbeiten. Wenn sie sich als Deutsche zu erkennen gegeben hätte, wäre sie vermutlich sofort erschossen worden. Die Erwachsenen waren bei den Tieren, um sie zu beruhigen und gegebenenfalls ins Freie zu führen, denn die waren durch die Bombeneinschläge nervös. Ich stand mit meiner Großmutter und meinem kleinen Bruder vor der Haustüre, mit einem Rucksack mit Namen und Adresse auf dem Rücken, als ein russischer Offizier fragte: „Wo ist ihr Herr?“ – „Im Stall bei den Tieren“, antworte meine Oma.

           Als die russischen Soldaten den Hof umstellten, beschloss ich, mich in Sicherheit zu bringen und verkroch mich unter dem Bett meiner Großmutter. Die Offiziere hatten sich in unserem Haus einquartiert, die Soldaten kampierten im Hof. Sie schlachteten Tiere und brieten sie über einem offenen Feuer oder kochten sie in ihren Gulaschkanonen. Die Offiziere tranken nicht einfach Wasser und aßen nicht einfach unser Brot und unseren Schinken, sondern ließen alles von einem Soldaten vorkosten. Nachdem sie sicher waren, dass unser Essen und Trinken nicht vergiftet war, langten sie ordentlich zu. Nach dem Essen tranken, sangen und tanzten sie. Ich kam erst wieder unter dem Bett hervor, als ich die Musik der Offiziere hörte. Als meine Geschwister und ich uns zu ihnen wagten, herzten und drückten sie uns.
           Unsere Familie erinnerte sie an ihre Familien, an ihre Eltern und ihre Kinder, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatten. Ihre stürmischen

 

Umarmungen retteten zwar unsere Leben, übertrugen aber auch ihre Läuse und ihre Krätze auf uns. Die jungen Mädchen versteckten sich in Kornschobern, um Vergewaltigungen zu entgehen. Meine Großmutter badete

die Füße der Offiziere, die sie wochenlang nicht waschen konnten und die verletzt und sehr wund waren. Die Füße waren in Lappen gewickelt, weil die verletzten Füße in keine Schuhe mehr passten.

           Für uns Kinder war die Vorhut der Roten Armee, die bei uns Quartier gemacht hatte, keine Bedrohung, sondern ein aufregendes Abenteuer. Wir kletterten auf ihre Panzer und erkundeten ihre Fahrzeuge. Unsere Eltern verboten uns, aus dem Fenster zu schauen, wenn auf dem Hof geschossen wurde, aber wir entdeckten die toten Soldaten der deutschen Wehrmacht natürlich und sahen auch, dass sie von den russischen Soldaten in die Schützengräben geworfen wurden, die sie zuvor ausgehoben hatten, um die vorrückende Rote Armee aufzuhalten. Ich fand einen Wäschekorb mit Papieren, Erkennungsmarken und Fotos der toten Soldaten. Ich sah alles durch und dachte: „Ach, die sind ja so jung und haben so schöne Freundinnen.“ Meine Eltern wollten die Papiere aufbewahren, damit man die Angehörigen über ihren Tod benachrichtigen konnte. Aber die Polen nahmen sie uns weg und verbrannten sie.

 

 

Kriegsende

           Nach kurzer Zeit zog der Trupp der Roten Armee weiter in Richtung Königsberg, um Zugang zur Ostsee zu bekommen. Ihr Ziel war Berlin. Danach kamen die polnischen Plünderer, die alles mitnahmen, was nicht niet- und nagelfest war und besetzten die Bauernhäuser. Wir mussten unser Haus verlassen und in das Insthaus[1] der Zwangsarbeiter umziehen. Eines Tages mussten wir uns alle in der Schule versammeln. Dort nahmen Polen den deutschen Frauen ihren Schmuck und ihre Wertgegenstände ab. Meine Mutter steckte heimlich ihren Ehering unter ihre Zunge, denn diesen wollte sie auf keinen Fall hergeben. Mein Vater wurde verhaftet und kam in das Gefängnis von Allenstein. Das Gefängnis war so voll, dass die Häftlinge nachts stehen mussten. Tagsüber mussten sie auf den Feldern arbeiten, dazu gehörte auch, tote Soldaten zu bergen. Auch wurden sie geschlagen und gedemütigt, erzählte mein Vater, nachdem er entlassen worden war. Ich erkannte ihn nicht, als er auf der Straße auf uns zugewankt kam, so ausgezehrt und gebrochen war er.

           Vater war nicht so sehr als Landwirt, sondern vor allem wegen seiner russischen und polnischen Sprachkenntnisse gefragt. Deshalb wurde er zwischen 1945 und 1948 auf großen Domänen eingesetzt, wo die deutschen Kriegsgefangenen und Familien versammelt waren. Sie mussten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten, um Nahrungsmittel, Korn und Vieh für die hungernde russische Bevölkerung bereitzustellen. Ostpreußen war ja damals die Kornkammer des deutschen Reiches. Wir zogen mit unserem Vater mit. Die Kinder hatten keinen Schulunterricht, außerdem war es verboten, Deutsch zu sprechen. Unser einziges Buch war die Bibel. Da wir kein einziges Kinderbuch hatten, lasen wir die biblischen Geschichten.


[1] Insthaus – Haus der Landarbeiter in Nordostdeutschland



Übersiedlung in die sowjetisch besetzte Zone

          1948 standen die Deutschen vor der Wahl, entweder die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder das Land zu verlassen. Meine Eltern entschieden sich mit vielen anderen dafür, das Land zu verlassen. Den Ausreisewilligen wurde ein Güterzug zur Verfügung gestellt, der sie in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands brachte. Wir durften außer den Kleidern, die wir auf dem Leib trugen, und Reiseproviant nichts mitnehmen. Die Fahrt nach Sonneberg in Thüringen dauerte drei Wochen. Dort angekommen, kamen wir in ein Auffanglager, in dem zuvor jüdische und polnische Zwangsarbeiter interniert waren, vier Wochen in Quarantäne. Danach kamen wir in verdreckte und verlauste Baracken nach Gößnitz, in denen wir uns erneut ansteckten. Einige Monate später bekamen wir, das waren unsere Eltern, unsere Großmutter und wir drei Kinder, eine feuchte, kalte Zweiraumwohnung in Gößnitz. Der Waschkessel stand im Hof, eine Waschküche gab es nicht. In dieser Zeit erlebte ich zum ersten Mal, was Hunger ist. Wir bekamen Lebensmittelmarken, die aber nicht ausreichten, um satt zu werden. Die Lebensmittel waren so knapp, dass sie rationiert wurden. Das betraf alle Thüringer, nicht nur Flüchtlinge.

          In Gößnitz besuchten meine Geschwister und ich die Grundschule. Unterrichtet wurden wir von sogenannten Neulehrern, jungen Leuten ohne pädagogische Ausbildung, welche die Lehrerinnen und Lehrer ersetzten, die Mitglied der NSDAP und des NS-Lehrerbunds gewesen waren. Diese durften nicht mehr unterrichten und mussten in Betrieben arbeiten. Wenn sie sich in der Produktion bewährt hatten, durften sie wieder unterrichten.

 

Das Leben in der DDR

 

Schule

          Mit der Gründung der DDR im Jahr 1949 wurde alles sehr politisch und antiklerikal. Vormittags besuchten wir die Volksschule, einmal in der Woche nachmittags den Christenlehre- und Konfirmandenunterricht im Pfarrhaus. Der Unterricht begann morgens mit einem politischen Appell „Seid bereit, immer bereit“, den alle Klassen gemeinsam sprachen. Der Pionierleiter war Teil des Lehrkörpers, er kam manchmal in den Unterricht, um uns für die Jungen Pioniere zu gewinnen. Er bot uns auch außerschulische Veranstaltungen wie Wanderungen und Lagerfeuer an. Vormittags hörten wir Parolen wie „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ und „Religion ist das Opium des Volkes“. Nachmittags besuchten wir den Christenlehreunterricht der evangelischen Kirche. Im Russischunterricht mussten wir das Gedicht lernen „Stalin ist unsere Sonne“. Mein Vater verbot uns, dieses Gedicht zu rezitieren. Er beschwerte sich beim Schulleiter, dieser Text sei eine Zumutung für Kinder, die den Schrecken des Krieges erlebt hatten. Außerdem störte sich mein Vater an dem schlechten Russisch der Neulehrer. Wegen unseres christlichen Glaubens wurden wir von manchen Lehrern angefeindet. Die Lehrer machten uns unmissverständlich klar, dass wir aus diesem Grund auch nicht die Oberschule besuchen und Abitur machen durften. der sehr gut Russisch sprach,

          Am 17. Juni 1953, der Tag, der als Arbeiteraufstand gegen die vom Politbüro verfügte Arbeitsnormerhöhung in die Geschichte einging, fuhren russische Panzer durch Gößnitz, um die Proteste niederzuschlagen. Mit zwei Freundinnen stand ich am Straßenrand. Wir konnten nicht glauben, dass so kurz nach dem Krieg wieder Panzer durch Deutschland fuhren. Es sollte ja nie wieder Krieg geben. Am nächsten Morgen erzählten wir in der Schule, was wir gesehen hatten. Der Lehrer sagte: „Ihr seid Lügnerinnen. Mir sollen die Hände abfaulen, wenn dies wahr ist.“

Berufswahl

           Da es in der DDR einen Mangel an Fachkräften in technischen Berufen gab, die früher Männern vorbehalten waren, wurden Mädchen in solchen Berufen ausgebildet. Ich wollte nicht Traktoristin, Dreherin oder etwas Ähnliches werden, sondern suchte nach einem Beruf, der mit Kindern zu tun hatte. Ich durfte ja nicht Abitur machen und Pädagogik studieren, aber ich fand einen Ausweg. Mit noch nicht ganz 18 Jahren bewarb ich mich am Katechetenseminar der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, das im Magdalenenstift in Altenburg untergebracht war. Wegen der Trennung von Kirche und Staat musste die Kirche ihre Religionspädagog*innen selbst ausbilden. Glücklicherweise wurde ich aufgenommen. Die Ausbildung war anspruchsvoll und streng. So anspruchsvoll, dass uns nach der Wiedervereinigung der Fachhochschulabschluss anerkannt wurde. Von den 30 jungen Frauen, mit denen ich die Ausbildung begonnen hatte, schlossen sie nur 13 ab. Für mich war es jedoch die richtige Entscheidung für meinen künftigen Beruf. Nach drei Jahren Ausbildung am Katechetinnenseminar absolvierte ich ein Probejahr in der Kirchengemeinde Treben bei Altenburg.

 

Im Spannungsfeld zwischen Kirche und Staat

          Laut Verfassung der DDR waren Kirche und Staat getrennt, der Christenlehreunterricht somit der Zuständigkeit der Kirche unterstellt. Der Christenlehreunterricht war also verfassungsrechtlich abgesichert und wurde von der Partei geduldet, dennoch wurde den Angestellten der Kirchengemeinde das Leben und die Arbeit durch Denunziationen schwer gemacht. So auch gelegentlich mir.

          Der Schulleiter und die Parteileitung warfen mir vor, ich hätte im Unterricht gesagt: „ In der Schule lernt ihr nichts Gescheites und bei den Pionieren nur Dummheiten!“ Damit verstieße ich gegen die sozialistische Erziehung. Ein Volkspolizist kam in eine Grundschulklasse und befragte die Kinder: „Wer von euch war bei Frau Klingbeil im Christenlehreunterricht und was habt ihr bei ihr gehört?“ Dabei legte er eine Waffe demonstrativ auf das Katheder, was die Kinder sehr verstörte. Außerdem wurden Hausbesuche bei den betreffenden Eltern gemacht. Nichts von den Vorwürfen konnte belegt werden. Ich wurde zu einem Verhör in den Saal eines Gasthauses geladen. Vor mir saßen der Schulleiter, die Lehrer, Pionierleiter, Parteifunktionäre und der Bürgermeister. Nach einem eingehenden Verhör und einer anschließenden Beratung sagten sie, die Kinder würden manches nicht im Zusammenhang sehen und das Mädchen habe schon öfter gelogen. Und seither hätten die Kirche und die Schule ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis gehabt. Ich musste eine schützende Hand über mir gehabt haben, denn das Verfahren wurde eingestellt. Schlechter erging es einem Kantor in Kahla. Er wurde inhaftiert, weil ein Junge behauptet haben sollte, er hätte ihm das Pionierabzeichen abgerissen.

           Der Superintendent legte mir nahe, die DDR zu verlassen, die Kirche könne mich nicht mehr schützen. Er bot mir an, mir in einer anderen Stadt eine Fahrkarte nach West-Berlin zu kaufen, damit ich unbehelligt die DDR verlassen könnte. Ich fand so eine Flucht unwürdig. Außerdem war ich erst im Probejahr meines Berufs und wollte bei meinen alten Eltern bleiben, die schon im Rentenalter waren. Zum Glück bot mir ein Dozent des Katechetenseminars eine Stelle in Stadtroda bei Jena an.



         Bei einem sommerlichen Tanzfest an der Uni in Jena lernte ich meinen Mann kennen, der als Ingenieur bei der Firma Zeiss arbeitete. Wir heirateten 1960 und bekamen zwei Töchter. 1965 zogen wir nach Jena, weil wir dort von Zeiss eine Neubauwohnung bekamen. Darüber waren wir sehr froh. Mein Mann hatte keinen langen Arbeitsweg mehr und wir wohnten mitten in der Stadt. Zu meinem neuen Arbeitsplatz in der Gemeinde der Schillerkirche konnte ich mit dem Rad fahren und die Kinder konnten zu Fuß zum Kindergarten und zur  Schule gehen.

 

Die Schillerkirche in Jena

 

Tote Fische schwimmen mit dem Strom, lebendige dagegen
- Konflikte mit der SED

           Meine älteste Tochter trug in der Schule Jeans und an der Halskette ein goldenes Kreuz. Jeans galten als kapitalistische Kleidungsstücke, die sie nicht in der Schule tragen durfte. Sie musste nach Hause gehen, sich umziehen und in einem Rock in die Schule kommen. Das akzeptierten wir, aber nicht, dass sie keinen Kreuzanhänger tragen durfte. Ich ging zum Schulleiter und legte das Kreuz auf seinen Schreibtisch. 15 Minuten lang saßen wir uns schweigend gegenüber. Schließlich sagte er: „Im Westen tragen die Leute das Kreuz als Schmuck und wir dürfen uns dem Westen nicht anpassen. Das ist eine Anweisung vom Bezirksschulamt.“ Ich hielt ihm entgegen: „Für Antje ist das Kreuz kein Schmuck, sondern ein Bekenntnis.“ Uns war das Kreuz als Bekenntnis zu ihrem christlichen Glauben wichtig und deshalb trug sie es weiter. Alle, die kirchlich gebunden waren, durften nicht die Oberschule besuchen. Meine Töchter wählten deshalb die Ausbildung zur Krankenschwester an der Fachschule für medizinische Berufe.

           Viele Akademiker und Professoren schickten ihre Kinder gern in meinen Christenlehre-Unterricht. Sie wollten, dass die Kinder auch die biblischen Geschichten kennenlernten, um die Kunstgeschichte verstehen zu können und die Prägung der Sprache durch Luthers Bibelübersetzung. Die Kinder lernten von mir oft eine andere Sichtweise als die von dem sozialistischen Schulunterricht verbreitete kennen. Während im Schulunterricht Luther als „Tellerlecker der Fürsten“ dargestellt wurde, vermittelte ich ein möglichst umfassendes Bild des Reformators, neben seinen Verdiensten auch seine Schattenseiten.

           Von 1966 bis 1976 arbeitete ich mit Pfarrer Topp an der Schillerkirche zusammen. Nach seiner Emeritierung siedelte er nach Würzburg über. Als Nachfolger kam ein Pfarrer, der sich dem sozialistischen Regime verpflichtet fühlte. Ausgerechnet er wurde als Pfarrer an der Schillerkirche und Jugendpfarrer für Jena eingesetzt. Nach kurzer Zusammenarbeit stellte ich fest, dass er mich und den Pfarrkonvent bespitzelte. Sofort entschloss ich mich, eine neue Aufgabe im Bereich der Kirche zu suchen. So wurde ich Mitarbeiterin bei der Kreisstelle für Diakonie in Jena. Ich führte seelsorgerliche Gespräche mit Menschen in Krisensituationen. Dabei ging es um alltägliche Nöte oder Notsituationen von Menschen, die aus der Haft entlassen wurden und nicht wussten, wohin, oder Ausreisewillige, die von Behörden schikaniert wurden. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, diese Stelle war ein Geschenk des Himmels.

          Als Wolf Biermann, Sänger und Schriftsteller, im November 1976 während seiner Konzerttournee durch die Bundesrepublik ausgebürgert wurde, protestierten Intellektuelle, Künstler*innen und Christ*innen der Jungen Gemeinde gegen diese Maßnahme, die viele als falsch und ungerecht empfanden. In den Jungen Gemeinden in Jena wurde offen und kritisch diskutiert. Aus diesen Protesten entwickelte sich die Friedenbewegung, in der meine Töchter aktiv waren. Die jungen Leute forderten Frieden, das Recht auf freie Meinungsäußerung, Umweltschutz und Reisefreiheit. Die Stasi beobachtete diese Entwicklung, dann schlug der Staat erbarmungslos zu: Studierende verloren ihren Studienplatz, Ausreisewillige wurden schikaniert, ebenso die Angehörigen von Geflüchteten.

aMeine Tochter Antje wurde 1983 nach West-Berlin ausgewiesen. Sie blieb In West-Berlin, holte das Abitur nach und studierte Psychologie. Heute arbeitet sie als Psychoanalytikerin in Berlin. Meine Tochter Uta machte Urlaub in Ungarn, als Antje ausgewiesen wurde. Am liebsten wäre sie ihrer Schwester gefolgt, doch die Behörden gaben ihr erst ein Jahr nach dem Abschluss ihres Examens als Kinderkrankenschwester ihr Zeugnis, damit sie nicht sofort die DDR verlassen konnte. Sie sollte noch eine Gegenleistung für die Ausbildung erbringen. Sie fand dann doch einen Weg, auszureisen, indem sie einen Cousin aus Dortmund heiratete. Im Rahmen der Familienzusammenführung durfte sie schließlich in die BRD ziehen.

 

Allein in Jena

           Nun war ich allein in Jena. Meine Eltern und meine Geschwister waren schon vor dem Bau der Mauer in den Westen gegangen, von meinem Mann war ich geschieden. Seit 1978 arbeitete ich in Jena in dem kleinsten Altenheim Thüringens, einer Einrichtung mit nur 15 Bewohnern. Meine Aufgabe, die seelsorgerliche Betreuung und aktivierende Förderpflege der alten Menschen, entsprach mir. Von der Stasi wurde ich umso mehr behelligt. Mir ging es nicht schlecht, aber ich war von meiner Familie getrennt. Sollte ich auch einen Ausreiseantrag stellen? Nein, sagte ich mir. In der Nachfolge Jesu nehmen wir auch Unangenehmes an und ertragen Schikanen. Ich bleibe also bis zum Ruhestand in der DDR.

 

Überall Stasispitzel

          Um mich mit meinen Töchtern zu treffen, überlegten wir eine List. Eine Freundin fuhr mich mit ihrem Auto zur Raststätte am Hermsdorfer Kreuz. Dort wartete schon meine Tochter Uta. Als sie mich sah, ging sie zur Toilette, ich folgte ihr. Dort wähnten wir uns unbeobachtet. Allerdings hatte die Stasi das Telefongespräch aus dem Altenheim mit meiner Tochter abgehört und wusste, dass wir uns auf der Toilette treffen wollten.  Die Toilettenfrau war von der Stasi informiert worden und verpfiff uns. Meine Tochter hatte schon die Toilette verlassen, als Polizisten kamen, mich abführten und mich 20 Minuten lang auf einem schmalen Pfad durch den Wald zu einer Holzbaracke führten, zu Fuß versteht sich. Die Stasi verhörte mich und wollte wissen, was ich meiner Tochter mitgegeben hatte. Sie befürchteten, ich hätte ihr Papiere von Oppositionellen zugesteckt. Aber es war nur eine Korallenkette meiner Mutter. Dennoch erzählte ich ausschweifend von meinem Leben, von meiner Kindheit in Ostpreußen, dem Krieg, der Vertreibung, den Läusen, der Ausbildung zur Katechetin, den reizenden Bewohnern des Altenheims und den neuen Ansätzen zum Umgang mit alten Leuten, die wir in dem Altenheim entwickelten. Ich hatte nur ein Ziel und das hieß: Zeit gewinnen, bis meine Tochter die Grenze nach Westdeutschland passiert hat und sie nicht mehr in die Fänge der DDR kommen kann. Um Mitternacht hatten die Stasi-Mitarbeiter genug von mir und schickten mich weg. Die Freundin, die mich mit dem Auto in die Raststätte gebracht hatte, war inzwischen nach Hause gefahren. Beherzt stellte ich mich an die Autobahn und wartete auf ein Auto, das mich nach Jena mitnehmen würde. Nach kurzer Zeit hielt ein für DDR-Verhältnisse luxuriöses Auto, ein Lada. Es war allgemein bekannt, dass solche Autos nur von der Stasi gefahren wurden. Der Fahrer war mit einem feinen Anzug bekleidet. Er schwieg die ganze Fahrt über, ich dagegen redete wie ein Wasserfall. Ich erzählte ihm den Verlauf des gesamten Treffens mit meiner Tochter. Obwohl mir klar war, dass er ein Mitarbeiter der Stasi war, stellte ich mich ahnungslos und schüttete ihm mein Herz wegen der falschen Verdächtigungen aus. Er hörte mir regungslos zu. Normalerweise reagieren Menschen bei solchen Geschichten mit Mitgefühl, er aber verzog keine Miene. Nun gut, dachte ich, meine Tochter ist in Sicherheit und die Stasi fährt mich nach Hause, anstatt mich zu verhaften.

           Da ich inzwischen wusste, dass das Telefon im Altenheim abgehört wurde, fuhr ich ab und zu an meinen freien Tagen  nach Ost-Berlin, um ins Theater zu gehen, Freunde zu besuchen und von Telefonzellen aus mit meinen Töchtern im Westen zu telefonieren. Im Januar 1986, früh um 5 Uhr 30, kurz vor meinem Aufbruch nach Ost-Berlin, hielt mir der Leiter des Altenheims eine Erklärung unter die Nase, die ich unterschreiben sollte. Ich sollte bestätigen, dass ich nicht beabsichtigte, die DDR zu verlassen. „Wie kommen Sie dazu?“ wies ich empört sein Ansinnen zurück. Ich empfand diesen Schrieb als Frechheit und dumme Machtdemonstration, denn an meinen freien Tagen konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Vielleicht wollte mir die Stasi auf diesem Weg zeigen, dass sie mich überwachte und mich dadurch einschüchtern. Aber das gelang ihr nicht. Ich hatte zwar vor, bis zur Rente in der DDR zu bleiben, aber mein Gottvertrauen sagte mir, dass ich eines Tages wieder in der Nähe meiner Töchter leben würde.

 

Ausreise aus familiären Gründen

          In den kommenden Jahren traf ich mich mit meinen Töchtern in Karlsbad. Wir reisten getrennt an, sie mit dem Auto, ich mit dem Zug, um keinen Verdacht zu erregen. Doch ich wollte näher bei meinen Kindern sein und sie in Freiheit besuchen können. Denn die Behörden der DDR verwehrten mir die Besuchserlaubnis nach West-Berlin zu meinen Kindern für immer. Deswegen stellte ich 1988, während der Geraer Gespräche zwischen Staat und Kirche, meinen Ausreiseantrag mit der Bitte um die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Der damalige Thüringer Landesbischof Werner Leich übermittelte meine Bitte um Ausreise aus familiären Gründen an Honecker. Schon im Oktober konnte ich ausreisen. Dass es zwei Jahre später die DDR nicht mehr geben würde, konnte ich mir damals nicht vorstellen.



In Ludwigsburg

           Nur war ich 52 Jahre alt und wagte einen Neubeginn in einem Land, dessen Sprache und Geschichte ich teilte, das die letzten vierzig Jahre aber einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Ich hatte mir Ludwigsburg als Wohnort ausgesucht, weil in Stuttgart meine Eltern gewohnt hatten und in der Nähe meine Geschwister wohnten. Ich stattete Dekan Eiding einen Besuch ab und schilderte meine Situation. „Sie kommen wie gerufen. Ich habe gerade eine frei gewordene Stelle als Seelsorgerin im Nebenamt“, reagierte er. Bis alle Papiere geprüft und anerkannt waren, dauerte es aber noch ein halbes Jahr. Dem zuständigen Sachbearbeiter des Arbeitsamts war der Begriff „Katechetin“ nicht bekannt, den musste ihm Dekan Eiding erst erklären. Schließlich konnte ich am 1. Mai 1989 im Albert-Knapp-Heim meine Stelle als „Seelsorgerin im Nebenamt“ antreten.

          Schon nach einem Jahr sprach mich der Heimleiter des Altenheims der Karlshöhe an, ob ich nicht an der Mitarbeit in einer gerontopsychiatrischen Abteilung auf der Karlshöhe interessiert sei, die dort im Aufbau begriffen war. Natürlich war ich interessiert. Ich hatte ja im Altenheim in Jena schon einschlägige Erfahrungen gesammelt. Das Projekt wurde von dem Heidelberger Institut für Altersforschung begleitet. Wir sollten für das Forschungsteam Daten sammeln, wie viel Zeit man für die Betreuung von psychisch veränderten Menschen braucht. Diese Daten sollten in die Gesetzgebung einfließen. Das ist bedauerlicherweise bis heute nicht geschehen. Dabei wird oft vergessen, was Prof. Dr. Kruse sagte: „Alte Menschen sind ein großer Schatz für die Kirche und die Gesellschaft.“

          2006 beendete ich meine Tätigkeit auf der Karlshöhe und ging mit 60 Jahren in den Ruhestand. Aber nicht ganz, denn im Albert-Knapp-Heim wurde ich als Seelsorgerin im Nebenamt noch gebraucht und so nahm ich dort wieder meine frühere Tätigkeit auf, jetzt aber als Minijob. 2013 ehrte mich die Diakonie mit dem goldenen Kronenkreuz für 25 Jahre Dienst in der Diakonie und einer Ehrenurkunde für 50 Jahre Dienst in der Kirche.

           Mein Minijob ruht im Augenblick, weil sowohl die Bewohner*innen als auch ich zur Covid-19-Risikogruppe zählen.

Dekan Bernhard Wandel überreicht Rabe für ihren Einsatz das Goldene Kronenkreuz.                                                                              Foto: Holm Wolschendorf

 

Engagement

 

 

Stadtseniorenrat

 

          Die Karlshöhe entsandte mich in den Stadtseniorenrat. Wir vertreten die Interessen der Senior*innen, informieren die Stadt über die Probleme von alten Menschen, Körperbehinderten und Rollstuhlfahrern und arbeiten an deren Lösungen mit. Es geht dabei beispielsweise um barrierefreie Zugänge zu Wohnungen und öffentlichen Gebäuden.

 

 

Seniorenunion

 

          Bonhoeffer schrieb: „Wer fromm ist, muss auch politisch sein.“ Für mich hieß das, als Christ muss man einen Standpunkt haben, auch einen politischen. Ich wollte mich engagieren und die Welt mitgestalten, in der ich nun lebte. Die CDU war für mich der Anlaufpunkt. Zuerst engagierte ich mich in der Frauenunion, im Ruhestand dann in der Seniorenunion, sowohl im Stadtverband als auch im Kreisverband. Zum einen bin ich gern mit Menschen zusammen, die gern mitdenken, zuhören, mitreden und einen regen Gedankenaustausch pflegen und zum anderen möchte ich im Ruhestand der Gesellschaft etwas von dem zurückgeben, was die Gesellschaft mir gegeben hat. Dabei geht es oft nur um kleine Dinge, die man verbessern kann, um das Leben für alte Menschen leichter zu machen.

 

 

 

 

 

Erzählt von Christel Rabe im Frühjahr 2020,
aufgeschrieben und bearbeitet von Regina Boger

Venezianer Ludwigsburg Herzog Carl Eugen 1767

          Wenn man hier lebt, die Stadt ein Schloss hat und das Schloss eine Geschichte, dann taucht man gern in diesZeit einzutauchen, bot mir der

Verein Venezianer Ludwigsburg Herzog Carl Eugen 1767. Inzwischen arbeite ich im Vorstand als Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit. Wir nehmen an vielen gesellschaftlichen Ereignissen teil. Die jüngeren Leute tanzen, ich beteilige mich an den Phantasieperformances im Geiste Herzog Carl Eugens. Wir treten natürlich bei der Venezianischen Messe auf dem Marktplatz und dem Kostümumzug auf, aber auch beim Umzug des Pferdemarkts und wo immer wir eingeladen sind, barockes Flair zu verbreiten. Wir haben das große Glück, dass wir uns in den Räumen des Albert-Knapp-Heims zu Proben und zu Vorstandssitzungen treffen können. In letzter Zeit wegen den Corona-Beschränkungen bedauerlicherweise nicht. Diese Gemeinschaft fehlt mir sehr.

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Goethe-Gesellschaft

          In Jena lebte ich in guter Nachbarschaft zu Weimar, wo ich viele Vorträge der Goethe-Gesellschaft besuchte. Meine Mutter gab mir ihre Liebe zu Goethe mit und in der Schule wurde ich durch einen guten Deutschlehrer zu Goethe geführt. Als ich 1998 in der Zeitung von der Gründung der Goethe-Gesellschafft in Ludwigsburg las, wurde ich sofort Mitglied und arbeitete im Vorstand als Verantwortliche für „Organisation und Öffentlichkeitsarbeit“ mit. Inzwischen bin ich 2. Vorsitzende. Goethe hat in meinem Leben einen wichtigen Platz. Ich empfinde für ihn höchste Wertschätzung.

 

Rückblick

          Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, möchte ich sagen: Als Christ muss man einen Standpunkt haben. Und: Wir müssen als Christen am Unmöglichen festhalten. Die deutsche Einheit ist ein Glücksfall und ein Wunder Gottes.