Gelebte Nächstenliebe: Die Lebensgeschichte von Brunhilde Haaß

          Mein Name ist Brunhilde Haaß, ich werde in diesem Jahr achtzig Jahre alt, wohne im Ortsteil Neckarweihingen und schaue auf ein bewegtes und ereignisreiches Leben zurück. Meine Geschichte aufzuschreiben, hat mir viel Freude bereitet und im Rückblick erkenne ich, wie wunderbar sich Vieles in meinem Leben gefügt hat, trotz vieler Herausforderungen und Schicksalsschläge.

           Meine Mutter stammt aus Ludwigsburg und mein Vater auch. Als sie sich kennenlernten war sie zwanzig und mein Vater dreißig Jahre alt. Sie begegneten sich beim Bäcker Bauer am Holzmarkt und in dessen Wirtshaus nebenan. Der Ludwigsburger Gesangverein von damals traf sich dort einmal die Woche nach der Chorprobe. Er war ein sauberer, attraktiver Mann und sie eine hübsche, selbstsichere junge Frau. Sie nähte sich ihre Kleider selbst, denn schon ihre Oma war Schneiderin und die Urgroßmutter Hofschneiderin. So war meine Mutter auch stolz auf ihr Können und auf die Frauen in ihrer Familie. Und er, der Vater, stolz als bester Sänger im Chor.

          So kam es, dass sie sich liebten und ich wurde 1939 geboren. Doch es war nicht nur Sonnenschein in dieser Liebe, denn als meine Mutter ihm gestand: „Ich bin schwanger“, zog ein Unwetter auf. Er gestand ihr: „Ich bin verheiratet.“ In ihrer Verzweiflung beging meine Mutter einen Selbstmordversuch, doch er gelang nicht. Das war mein Glück und Unglück zugleich, denn meine Mutter konnte mich als alleinstehende Frau nicht versorgen und gab mich bis zu meinem vierten Lebensjahr in ein Kinderheim nach Stuttgart. Da Stuttgart im zweiten Weltkrieg bombardiert wurde, habe ich aus dieser Zeit folgende Erinnerung: Wir Kinder kommen aus dem Luftschutzkeller und ich bin so froh, die Sonne zu sehen, denn im Bunker gab es nur Kerzenlicht, das bei jeder Erschütterung flackerte und da hatte ich große Angst.
           An dieses Kinderheim habe ich noch eine weitere klare Erinnerung. Ich sitze beim Sandkasten, sehe die Sonne und sage zu ihr: „Liebe Sonne, du kommst jeden Tag, aber meine Mutter nicht.“ Ich wusste damals nicht, dass sie in Kornwestheim bei der Firma Salamander arbeiten musste. Wenn meine Mutter mich besuchte und dann wieder gehen musste, weinte ich oft tagelang und war sehr niedergeschlagen. Deshalb sagten die Schwestern zu meiner Mutter, sie solle mich eher selten besuchen. Mutter wollte auch keinen Kontakt mehr zu meinem Vater und sie verhinderte auch, dass ich ihn kennenlernte und so sah ich meinen Vater mein ganzes Leben lang nie.

Das Kinderheim in Stuttgart wurde von Diakonissinnen geleitet und sie waren sehr liebevoll zu den Kindern. Viele Frauen mussten damals in den Fabriken arbeiten, da die Väter im Krieg oder auch oft schon gefallen waren. Die meisten Frauen aus Ludwigsburg arbeiteten bei der Firma Bleyle oder beim Salamander als Näherinnen. Bald wurden die Luftangriffe immer schlimmer und viele
Häuser in Stuttgart waren schon zerstört. Da lösten die Schwestern das

                Brunhilde mit vier Jahren                        Besuch der Mutter in Stuttgart

 

Kinderheim auf und meine Mutter nahm mich zu sich nach Ludwigsburg. Doch ihre Not war groß: „Wo bringe ich mein Kind den Tag über unter?“

          Das Jugendamt war mein Vormund und vermittelte mich an eine Frau, die gerade ein Tagesheim für Kinder eröffnet hatte. Das Heim befand sich in der Asperger Straße gegenüber der heutigen Krankenkasse in einem großen Lokal, das leer stand, denn der Wirt war zum Militär eingezogen worden. Die Leiterin war Frau Waage, eine gelernte Erzieherin, und schon über 60 Jahre alt. Doch in der damaligen Not und dem Elend konnte sie es nicht mehr mit ansehen, dass viele Frauen nicht wussten, wohin sie ihre Kinder bringen sollten, und so leitete sie das Heim zwei Jahre lang. Und ich war gerne dort, von morgens um 7 Uhr bis abends um 5 Uhr. Frau Waage wurde mein großes Vorbild, ihr Einsatz im sozialen Bereich hat auch mich geprägt. So war auch ich viele Jahre tätig im sozialen Bereich, betreute z.B. 15 Jahre lang Kinder im Frauenhaus in Ludwigsburg, das in den 70er Jahren gegründet wurde. Heute verstehe ich meine Motivation, mich sozial zu engagieren.

          Als Frau Waage das Tagesheim auflöste, sie war müde und es ging über ihre Kräfte, suchte meine Mutter wieder einen Platz für ihr lediges Kind, das sie morgens um 7 Uhr abgeben konnte, um zur Arbeit in die Fabrik zu gehen. Zum Glück fand sie eine Lösung: Katholische Nonnen, Franziskanerinnen, betrieben in der Uhlandstraße die erste Krankenpflegestation und einen Kindergarten. Denn eine wohlhabende Ludwigsburger Frau hatte ihre Vermögen der katholischen Kirche vermacht mit der Auflage, diese Einrichtungen zu gründen. Als meine Mutter um Hilfe bat, nahmen diese Schwestern mich auf, obwohl ich evangelisch war. Deshalb war ich „als Ausnahme“ vier Jahre lang ganztägig bei den Nonnen in Ludwigsburg.



          Sehr gut erinnere ich mich an Schwester Gemelina vom Kindergarten in der Uhlandstraße. Um 7 Uhr morgens war ich meist noch allein im großen Raum des Kindergartens, denn die Schwestern waren in ihrer kleinen Kapelle unter dem Dach beim Frühgottesdienst. Im Winter nahm mich ab und zu eine der Schwestern mit hoch in die Kapelle. Es gefiel mir, weil sie sangen und immer eine Kerze brannte.

          So erklärte mir Schwester Gemelina, dass Gott der himmlische Vater ist. Weil ich meinen Vater ja nicht kannte, verstand ich das so, dass ich deshalb ihn habe, den göttlichen Vater. Wenn ich Hilfe brauchte, die Mutter war ja in der Fabrik, bat ich ihn und sagte: „Du hilfst mir jetzt, du himmlischer Vater!“, und ich bekam oft, oh Wunder, die Hilfe, die ich brauchte. So nahm mich manchmal die Schwester, die vor dem Haus Blumen pflanzte, mit in die katholische Kirche am Marktplatz. Sie kniete immer nieder, wenn sie am Altar vorbei ging, den sie mit ihren Blumen schmückte. Es gab auch zwei weitere Altäre an der Seite, einen für Maria und einen für Josef. Dann suchte ich nach Gott Vater und dachte: „Vorne am Hauptaltar ist er ja nicht, also muss er dahinter sein.“  Leise schlich ich mich hinter den Hauptaltar, doch wie war ich enttäuscht. Da standen ein Eimer und ein Besen, aber kein Vater-Gott. Also folgte ich ihr einmal heimlich, als sie in den Keller unter dem Gebetsraum ging, doch auch da war niemand.
           Heute weiß ich, dass Gott das Lebendige ist in uns allen. In allem, was lebt. Während der Zeit der Kinderbetreuung im Frauenhaus fragten mich einmal die Buben: „Brunhilde, wie ist das eigentlich mit dem Gott?“ Ich überlegte, dann sagte ich genau das zu den Kindern: „Gott ist das Lebendige in dir, in allen Menschen, in allen Lebewesen, in den Blumen, in den Bäumen.“
„Nein“, sagte da ein Junge, „Ein Baum ist doch nicht lebendig.“ „Doch, er ist lebendig!“ entgegnete ich. Dann fragte der Jüngste: „Was ist, wenn ich jetzt eine Ameise tot mache?“ Ich antwortete: „Dann kann sie kein Mensch mehr auf der ganzen Welt wieder lebendig machen. Der Mensch macht Maschinen, aber die sind nicht lebendig.“ „Ja“, sagten sie, und zählten auf: „Staubsauger, Kaffeemaschinen, Flugzeuge, Roboter, das kann man alles zum Laufen bringen.“ „Aber diese Ameise kann man nicht wieder zum Laufen bringen, also lebendig machen, das kann kein Mensch auf der ganzen Welt. Das Leben ist Gott“, betonte ich nochmal.
           Nach 20 Jahren fragte ein junger Mann im Frauenhaus nach mir, er wollte sich für damals, als er Kind war, bei mir bedanken dafür, dass wir ihm und seiner Mutter Raum gaben in unseren Herzen und Räume bereitstellten für Frauen mit ihren Kindern aus gewalttätigen Familiensituationen.

Die Nonnen aus der Uhlandstraße waren für mich gute und liebevolle Frauen und ich war dort, bis ich zehn Jahre alt war. Ich sprach zwar wenig, doch das fiel keinem auf. 1952 wurde ich in der Pestalozzischule eingeschult, die ich bis zur 8. Klasse besuchte. Da ich damals schon gerne malte und zeichnete, entfernte ich immer aus den Schulheften in der Mitte eine Seite, in dem ich die Klammern löste. Dann zeichnete ich heimlich unter der Schulbank, entwarf Kleider, malte kleine Bildchen, die ich dann mit meinen Schulkameradinnen tauschte. Der Lehrer, da bin ich sicher, hat das damals gemerkt, aber er hat mich gewähren lassen. Bei über sechzig Kindern in der Schulklasse konnte er sich nicht um alles kümmern.

          Als ich zehn Jahre alt war, heiratete meine Mutter. Vorher sprach sie mit mir nie darüber, auch nicht über die Hochzeitsfeier. Und ich dachte: „Heute Abend geht dieser Mann wieder!“ Doch so war es nicht. Jetzt schlief ich auf dem Sofa im kleinen Wohnzimmer und hatte kein eigenes Bett mehr. Dieser Mann war mir fremd und blieb es die ganzen Jahre, mein Leben lang.

           So wurde ich 14 Jahre alt und wie viele andere Mädchen in meinem Alter musste auch ich in der Fabrik beim Salamander arbeiten, Schuhe am Band nähen, im Akkord, 13 Jahre lang. Der Stundenlohn lag damals bei 54 Pfennig, erst viel später gab es eine zusätzliche Akkordprämie.

 

Brunhilde als junge Frau

 



          Was meinem Leben auch eine wichtige Richtung gab, war eine Jugendgruppe der evangelischen Kirche, geleitet von Pfarrer Paul Koller. Ich kam in meinem 15. Lebensjahr zu der Gruppe und war viele Jahre dabei. Denn hier lernte ich eine andere Welt kennen als die in der Fabrik. Da wurde gesungen und gespielt und über wichtige Themen gesprochen. Wir trafen uns einmal in der Woche am Abend und im Sommer gab es jährlich einige Tage oder ein Wochenende eine gemeinsame Freizeit. Später leitete ich selbst die Jungschar der evangelischen Kirche. Die Schulungen dafür gefielen mir sehr und ich erhielt große Anerkennung. Dieser Pfarrer und seine Frau gaben mir Halt, daraus entstand zwischen uns eine lebenslange Freundschaft. Heute verstehe ich sehr gut, dass mir diese Begegnungen mit Menschen halfen, meine seelische Gesundheit und mein Gleichgewicht zu erhalten.
           Meine kleine Halbschwester hatte dieses Glück nicht. Sie starb mit 24 Jahren, hatte Bulimie, erstickte an ihrem Erbrochenen. Sie lag acht Tage tot in ihrer ersten kleinen Wohnung, bis man sie fand. Die dunklen Seiten des Lebens sind mir nicht fremd, doch heute sehe ich klar die Führung in meinem Leben und bin dankbar für die Menschen, die mich förderten und die mir beistanden.

           Über eine Arbeitskollegin lernte ich mit 17 deren gleichaltrigen Bruder, meinen späteren Mann, kennen und wir hatten eine gute und sehr freundschaftliche Beziehung. Mit 24 Jahren heiratete wir, zwei Jahre später bekamen wir unseren Sohn. Als Mutter blieb ich zuhause, wie es damals üblich war. Doch das ungetrübte Glück währte nur ein paar Jahre. Mein Mann wurde krank und starb mit 39 Jahren an einem Herzleiden. In der Zeit seiner Krankheit ließ ich mich in Krankenpflege ausbilden, um ihn gut pflegen zu können.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Brunhilde mit ihrem kleinen Sohn

          Nach seinem Tod arbeitete ich noch fünf Jahre in einer kleinen Fabrik in Neckarweihingen, anschließend machte ich beim Roten Kreuz eine Ausbildung zur Schwesternhelferin. Schon die Schwestern des Franziskanerordens in der Uhlandstraße machten ambulante Krankenpflege in vielen Häusern in Ludwigsburg und auch sie waren mir in dieser Hinsicht ein Vorbild. Und wie die Franziskanerinnen pflegte ich jetzt über die Sozialstation kranke und pflegebedürftige Menschen in ihrem Zuhause. Schon als Kind spürte ich den Wunsch: „Das will ich auch tun“, - und ich tat es zehn Jahre lang.



Doch mit 50 wurde ich krank. Ich dachte: „Das kann doch nicht alles gewesen sein!“ Dann erfüllte ich mir meinen Traum, ich studierte fünf Jahre lang Malerei und Zeichnen bei Belindes Ageten, einer Malerin, die in Kornwestheim eine freie Mal- und Zeichenakademie hatte. Da ich als Kind schon immer gerne gezeichnet hatte, spürte ich, dass ich dieses Talent jetzt endlich zum Ausdruck bringen wollte. Auch Frau Ageten erkannte dies, sie forderte und förderte mich. Bald folgten Ausstellungen im Frauenzentrum und im Frauenhaus, wo ich etliche Jahre die Kinder betreute. Ich malte auch mit den Kindern und war glücklich. Eine erste große Ausstellung meiner Bilder war 1991 im Haus der Diakonie in der Gartenstraße, wo ich überwiegend großformatige Bilder und Zeichnungen mit Reiseimpressionen aus Malta zeigte.



          In den 70er Jahren gründete die Diakonie der Evangelischen Kirche einen Gesprächskreis für seelisch kranke Menschen unter der Leitung von Pfarrer Theo Salzgeber. Auch dort half ich ehrenamtlich, über 15 Jahre lang. Zuerst traf man sich in der Gartenstraße und später, weil man einen größeren Raum brauchte, im Keller der Friedenskirche.
           Treffpunkt war jeden Donnerstagabend. Ich war den Menschen dort eine gute Ansprechpartnerin und Begleiterin und dadurch entstanden Freundschaften, die bis heute andauern. Ich besuchte Fortbildungen und Schulungen und erweiterte mein Wissen durch das Lesen von Fachliteratur. Einmal im Jahr gab es auch eine Freizeit, die ich gerne begleitete. Es war eine gute Sache, die mir viel Freude bereitete, denn die Menschen kamen oft in größter Not und diese Gruppe war einmal die Woche ein Lichtblick für sie.

          Doch halt, ein Erlebnis möchte ich zum Schluss noch gerne erzählen: Wie oben erwähnt, war mein leiblicher Vater, den ich ja nicht kannte, ein guter Sänger im Chor. Ich war ja als Kind und Jugendliche sehr beeinflusst von meiner Mutter und sie wollte nicht, dass ich ihn sähe und mit ihm Verbindung hätte. An einem Abend vor vier Jahren dachte ich an ihn und wünschte mit „mit ihm in Kontakt zu treten“. Darauf träumte ich von ihm. Ich sah ihn das erste Mal in meinem Leben, aber im Traum. Ich zeigte auf ihn und sagte: „Ich weiß, dass du mein Vater bist.“ Da fing er an zu singen: „ Good bye my love, good bye … das Glück wird nie vergehn … bis wir uns wieder sehn..“
Ich sang mit ihm dieses Lied, obwohl ich es gar nicht kannte. Mit Tränen in den Augen erwachte ich. „So, jetzt geh ich in einen Chor!“ entschied ich und fragte hier in Neckarweihingen bei einem Chor an, doch da sagte man mir:

 

„Ab 60 nehmen wir niemanden mehr.“  „Es ist zu spät“, stellte ich enttäuscht fest und war traurig. Doch es kam anders. Kurze Zeit später war ich mit einer Freundin im Forum bei einem Weihnachtskonzert. Eine Frau neben mir sprach mich freundlich an: „Gell, sie können singen, ich fass mir jetzt ein Herz und spreche Sie an.“ Ich erzählte ihr, dass ich vor einigen Tagen bei einem Chor angefragt hätte, doch sie hätten mich nicht genommen. Die Frau entgegnete: „Aber ich nehme sie an, ich bin Rita Martin, die Chorleiterin vom Seniorenchor in Ludwigsburg.“ Seitdem singe ich  im Chor mit, ich „singe mit meinem Vater“ und fühle mich ihm sehr verbunden.

          Auch heute male und zeichne ich noch sehr gerne, habe in meiner kleinen Wohnung ein kleines Atelier eingerichtet und gebe auch ab und zu interessierten Bekannten Mal- und Zeichenunterricht. Das macht mir viel Freude, und meine Wohnung ist auch heute mein „ Ausstellungsraum“.

 



 

 

 Am 30. März dieses Jahres werde ich 80 Jahre alt und ich bin dankbar für mein reiches und erfülltes Leben, meinen großen Bekanntenkreis und für die vielen Menschen, denen ich begegnen durfte und die mich in wichtigen Phasen meines Lebens begleitet haben. Durch meine Erfahrungen bin ich überzeugt, dass wir durch eine göttliche Führung das im Leben erhalten, was wir zu unserer Entwicklung brauchen. 

 

Brunhilde Haaß
redigiert von Hedi Seibt