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Hier bin ich frei

Herkunft

           Ich wurde 1970 in Pülümür in Ostanatolien geboren. Ich war das fünfte von fünf Kindern. Ich habe zwei ältere Brüder und Schwestern. Bei den Aleviten sind Frauen und Männer gleichberechtigt, aber in der Erziehung von Söhnen und Töchtern gibt es große Unterschiede. Die Töchter müssen im Haushalt helfen, sie dürfen keine Freunde haben, sie dürfen nicht alleine in die Stadt gehen. Sie müssen tun, was die Eltern sagen. Die Söhne dürfen machen, was sie wollen. Sie haben mehr Freiheit.
         
Meine Familie hatte in Pülümür so wenig zum Leben, dass mein Vater 1969 nach Österreich zum Arbeiten ging, eineinhalb Jahre später nach Deutschland. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, war der Erste, der zum Arbeiten nach Österreich und dann nach Deutschland ging. Ein Teil der Verwandten blieb in Österreich, viele zogen aber nach Deutschland. Als ich sechs Jahre alt war, zogen wir nach Istanbul. Mein Vater hatte dort ein Haus gebaut. Wir wollten nicht im Dorf bleiben, denn dort hatten wir nicht genug zum Leben. In Istanbul ging ich zur Realschule. Als ich in der siebten Klasse war, zogen wir, meine Mutter, meine Brüder und ich, nach Deutschland zu meinem Vater. Das war 1984, ich war 14 Jahre alt.

 

Die ersten Jahre in Deutschland

           Da ich kein Wort Deutsch konnte, konnte ich in Deutschland die Realschule nicht weiter besuchen. In Bietigheim machte ich sechs Monate lang einen Sprachkurs. Deutsch fällt mir noch immer etwas schwer, weil ich nicht viel Gelegenheit hatte, Deutsch zu sprechen. Deutsch lesen kann ich gut. Mein Vater lernte nie richtig Deutsch.

           Nach dem Deutschkurs ging ich ein Jahr beim Internationalen Bund für Sozialarbeit (IB) zur Schule. Einen Tag die Woche hatten wir Mathematik, einen Tag Deutsch und die restlichen drei Tage lernten wir Nähen. Ich machte ein Praktikum bei Mapotex in Unterriexingen; diese Firma fertigte Innenausstattungen für Autos an. Eigentlich wollte ich Friseurin werden. Aber  weil mein Vater einen Schlaganfall erlitten hatte, nachdem ich ein Jahr in Deutschland war, musste ich Geld verdienen. Ich arbeitete bei Mapotex. Wir wohnten in der Kammgarnspinnerei und ich arbeitete in Unterriexingen. Morgens stand ich um 4.30 Uhr auf, ging zu Fuß drei Kilometer nach

Bietigheim zur Bushaltestelle und fuhr mit dem Bus nach Unterriexingen. Abends ging es den gleichen Weg umgekehrt zurück. Um sechs Uhr war ich wieder zu Hause. Im Winter war es sehr hart. Wir hatten so wenig Geld, dass wir uns keine richtige Winterkleidung leisten konnten. Wenn es regnete oder schneite, kam ich pitschnass zur Arbeit und musste im Betrieb meine Kleider trocknen. Bei Mapotex arbeitete ich bis 2002.

 

Kampf um die Aufenthaltsgenehmigung

Wir Kinder waren mit einem Visum der Familienzusammenführung  nach Deutschland gekommen, unsere Mutter aber mit einem Touristenvisum. Die Stadtverwaltung Bietigheim wollte ihr keine Aufenthaltsgenehmigung geben. Warum hatte die Mutter kein Visum der Familienzusammenführung? Die Mutter hätte wieder zurück in die Türkei reisen müssen und dort ein Visum für die Familienzusammenführung beantragen müssen. Wie hatten aber kein Geld für die Hin- und Rückreise meiner Mutter in die Türkei. Nach vielem Hin und Her hat Mutter doch noch eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Mein älterer Bruder hatte nach dem Kurs beim IB keine Stelle gefunden. Er fand erst 1987 eine. Im August 1987 starb mein Vater. Danach hatten wir wieder Probleme. Wir zogen nach Ludwigsburg. Die Stadtverwaltung sagte, nach dem Tod unseres Vaters sei die Familienzusammenführung nicht mehr gegeben, wir müssten zurück in die Türkei. Auch die Rechtsanwälte, die wir fragten, sagten alle, wir müssten zurück in die Türkei. Nach langem Suchen fanden wir einen Rechtsanwalt in Stuttgart, der sagte, die Stadt dürfe uns nicht abschieben, da die Familienzusammenführung nicht durch eine Scheidung abgebrochen sei. Der Tod des Vaters gelte nicht als Abbruch der Familienzusammenführung. Es war ein monatelanger Kampf mit der Stadt. Wir bekamen jeden Monat eine Aufforderung, zurück in die Türkei zu gehen. In der Türkei hätten wir keine Zukunft gehabt. Schließlich fanden wir eine Lösung: Wir Kinder mussten unterschreiben, dass wir unsere Mutter versorgen würden und sie keine Sozialhilfe beanspruchen würde. Unter diesen Bedingungen durfte sie in Deutschland bleiben. Dieser Versuch war ein Risiko, da das Rechtsanwaltshonorar unsere Ersparnisse aufgefressen hatte. Wenn wir abgeschoben worden wären, hätten wir in der Türkei nichts mehr gehabt. Mutter musste alle zwei Jahre ihre Aufenthaltsgenehmigung neu beantragen.



Heirat

 1994 heiratete ich einen Cousin, der in Österreich lebte. Ich habe ihn zuvor nicht gekannt. Er war zweieinhalb Jahre jünger als ich. Die Heirat hat meine Mutter in die Wege geleitet. Töchter dürfen keine Fremden heiraten, nur Verwandte oder Bekannte. Meine Mutter hat mich zu der Heirat nicht gezwungen. Meinen Bräutigam habe ich erst bei der Hochzeit meines Bruders kennen gelernt. Dann habe ich ihn beobachtet und mir Gedanken gemacht, ob ich mir eine Heirat mit ihm vorstellen könnte. Im Urlaub in der Türkei haben wir miteinander gesprochen. Danach haben wir uns verlobt. In der Zeit haben wir viel miteinander telefoniert, das heißt, er hat mich mehrmals täglich angerufen. Das war mich beinahe etwas zu viel. Zur Hochzeit wird man bei uns nicht gezwungen, aber die Erlaubnis der Eltern sollte schon da sein. Ich hätte die Verlobung lösen können, wenn ich gewollt hätte. Aber ich wollte nicht, ich fand meinen Bräutigam sympathisch. Am 26. Februar 1993 heirateten wir standesamtlich, das richtige Hochzeitsfest mit einer Trauung durch den Dede war erst 1994. Bis zur Trauung durch den Dede darf das Paar nicht zusammen sein. Die Braut muss bis zur Trauungszeremonie durch den Dede Jungfrau sein. Der Dede kommt nach Hause und fragt das Brautpaar: Willst du diesen Mann, willst du diese Frau?

 

Familie und Arbeit

           Nach der Hochzeit bezogen wir eine eigene Wohnung. Mein Mann zog meinetwegen nach Ludwigsburg. Mein Mann bekam keine Arbeitserlaubnis. Damals musste man fünf Jahre in Deutschland wohnen, bevor man eine Arbeitserlaubnis bekam.

           Die Vorarbeiterin und der Meister bei Mapotex verstanden sich nicht gut. Als mein Meister im Urlaub war, machte die Vorarbeiterin krank. Ich rief den Meister morgens an und meldete ihm, dass die Vorarbeiterin krank sei. Er kam in den Betrieb und erklärte mir alles, was ich bestellen und produzieren musste. Nun machte ich die Arbeit der Vorarbeiterin. Nach einigen Monaten machte mich der Meister zur Stellvertreterin der Vorarbeiterin. Eine Arbeitskollegin half mir, wenn ich etwas schreiben musste. Das war sehr nett von ihr, denn sie war schon viel länger im Betrieb als ich und hätte mir Steine in den Weg legen können.

           Mein Meister kümmerte sich um mich. Er fragte mich immer wieder, was mein Mann macht und ob er Deutsch könne. Er schickte meinen Mann zum Arbeitsamt, um eine Arbeitserlaubnis zu beantragen. Der Antrag wurde abgelehnt. Daraufhin forderte der Personalchef meinen Mann als Arbeitskraft an und er bekam die Arbeitserlaubnis. Wie das ging, weiß ich auch nicht.

           Ein halbes Jahr später kam meine Tochter auf die Welt. Mein Meister wollte, dass ich nach dem Mutterschaftsurlaub wieder in den Betrieb komme. Das klappte aber nicht, weil meine Mutter zu alt und zu krank war, um unsere Tochter zu betreuen. 2000 kam mein Sohn zur Welt. Nach wenigen Monaten war ich wieder schwanger. Das war schwierig, weil schon die beiden ersten Kinder durch einen Kaiserschnitt zur Welt gekommen waren. Ein Jahr Pause 

 zwischen der letzten Geburt und der nächsten Schwangerschaft wäre besser gewesen. Nach dem dritten Kaiserschnitt verlor ich viel Blut. Beinahe hätte

ich eine Bluttransfusion bekommen. Ich dachte, ich würde sterben. Der Arzt sagte, eine vierte Schwangerschaft wäre lebensbedrohlich. Ich musste meinen Traum von vier Kindern aufgeben, zwei Jungen und zwei Mädchen. Zum Glück waren aber meine drei Kinder gesund.

           1999 wurde meine Mutter sehr krank. Sie hatte einen hohen Blutdruck und Zucker. Bei der Beerdigung ihres Bruders in Istanbul bekam sie einen Schlaganfall. Sie lag 40 Tage im Krankenhaus in Istanbul. Dann ist sie nach Ludwigsburg gekommen und drei Monate später gestorben. Am 7. Januar 2001 wurde sie in der Türkei beerdigt, das war kurz vor dem Geburtstermin

unseres dritten Kindes. Die Ärzte haben mir empfohlen, nicht in die Türkei zu fliegen. Sie fanden einen Flug kurz vor der Geburt zu riskant. So konnte ich nicht bei der Beerdigung meiner Mutter sein, meiner Mutter, mit der ich fast mein ganzes Leben zusammengelebt habe.

           Als mein Sohn drei Jahre alt war, fing ich wieder an zu arbeiten. Mein Mann und ich konnten in Gegenschicht arbeiten. Mein Mann arbeitete in der Frühschicht und ich in der Spätschicht. Ich fuhr mit den Kindern zum Betrieb und stempelte. Mein Mann stempelte ab und fuhr mit den Kindern nach Hause. Nach der Geburt des dritten Kindes gab es bei Mapotex einen Sozialplan. Wenn ein Ehepaar im Betrieb arbeitete, musste einer von beiden aufhören. Das war ich. Nach der Entlassung war ich zwei Jahre zu Hause. Dann wurde ich wieder eingestellt und nach zwei Jahren wieder entlassen. 2006 wurde das Werk geschlossen. Nun war auch mein Mann arbeitslos. Ich nahm einen Job als Reinigungskraft an für zwei Stunden am Tag an. 2013 bekam ich über eine Leihfirma wieder eine Stelle. Am 20. Dezember 2013 wurde ich wieder entlassen. Nun bin ich wieder arbeitslos.

 

Familie und Kinder

           Meine älteste Tochter ist jetzt 18 Jahre alt. Sie hat die Werkrealschule besucht. Sie möchte gern eine Ausbildung zur Bürokauffrau machen. Bis jetzt hat sie noch keinen Ausbildungsplatz gefunden. Ich möchte, dass sie einen sauberen Arbeitsplatz hat und geregelte Arbeitszeiten, von 8 bis 17 Uhr. Mein Sohn besucht die achte Klasse der Werkrealschule und meine jüngste Tochter die fünfte.

           Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden. Ich habe einen guten Ehemann und gesunde Kinder. In der Familie bin ich die Innenministerin. Er ist ein so ruhiger und netter Mensch. Wir sind uns in der Erziehung einig, weil wir Gegenschicht gearbeitet und uns die Kindererziehung geteilt haben. Deswegen hat er eine enge Beziehung zu unseren Kindern. Er ist ein sehr guter Vater. Er kümmert sich um alles, er geht auch zum Elternabend. Mein Sohn muss sein Zimmer selbst aufräumen, den Müll runtertragen und im Haushalt helfen. Er soll ein guter Ehemann werden.

           Die Ehepartner sollen füreinander da sein. Keiner soll dem Anderen dienen, sie sollen gleichberechtigt sein.


 

Erzählt von Nimet Arslan,
aufgeschrieben und bearbeitet von Regina Boger

 

13. Januar 2014

Titelbild: Peter Pöschl