Bild: Catherine Draffin 2020

1 Jahr, 4 Jahreszeiten, 8 Tage

         Der Marktplatz, in der Mitte der Stadt, ist der Platz, auf den die Ludwigsbürger und Ludwigsbürgerinnen wegen seiner barocken Schönheit und seines italienischen Flairs stolz sind. Der Platz, auf dem die großen Stadtfeste gefeiert werden und auf dem ausgestellt, angeboten, gehandelt, verkauft und gekauft wird. Der Platz, auf dem flaniert, gesessen, gegessen, getrunken wird, wahlweise schwäbisches oder französisches Frühstück, Fish 'n' Chips mit Guinness, Bio-Tofu mit Curry-Sauce, Gelati und Kaffee. Der Platz, den man überquert, um von der Unteren Stadt zum Rathaus oder vom Asperger Buckel zur Eberhardstraße zu gelangen. Der Platz, der dazu einlädt, in der Sonne zu sitzen, sich auszuruhen, Ruhe zu finden oder ins Gespräch zu kommen, wo nicht nur mit Obst und Gemüse, sondern auch mit Informationen gehandelt wird. Kurz: Der Platz, auf dem sich das Leben abspielt.

          Was ist das Besondere am Ludwigsburger Marktplatz? Wie kann man das Herz dieses Platzes erfassen, seinen Puls spüren? Nur indem man hingeht, zuschaut, zuhört, aufnimmt, was täglich geschieht. Ein Jahr lang setzte ich mich an verschiedenen Wochentagen und zu unterschiedlichen Tageszeiten auf den Marktplatz oder schlenderte über ihn. Dabei beobachtete ich das Geschehen, erlebte das Alltägliche, das Gewöhnliche. Eben das, was täglich geschieht, aber nicht in der Zeitung steht, weil es nicht als erwähnenswert erachtet wird. Doch macht nicht genau das Gewöhnliche das Besondere des Platzes aus? Das Alltägliche, das auf einem anderen Platz in einer anderen Stadt zu einer anderen Zeit anders wäre?

          Um das Bild abzurunden, zuvor noch die unveränderlichen Daten des Ludwigsburger Marktplatzes: Der Platz erstreckt sich ungefähr 110 Meter in Nord-Süd-Richtung und 80 Meter in Ost-West-Richtung, begrenzt ist er von Arkadenhäusern. Zwei barocke Kirchen stehen einander gegenüber. Im Osten die katholische Kirche zur Heiligsten Dreieinigkeit, im Westen die evangelische Stadtkirche. Aus jeder der vier Himmelsrichtungen hat er einen Zugang. Von Süden die Obere Marktstraße, von Norden die Untere Marktstraße, von Westen der Stadtkirchenplatz und von Osten „Bei der katholischen Kirche“. Vor den Arkaden Bäumchen, die geweißten Stämmchen geschützt durch Eisengitter. Im Erdgeschoss der Arkaden zwei Apotheken, das evangelische Dekanatsamt, das Haus der Katholischen Kirche; fünf Restaurants, zwei Cafés, ein Bistro, jeweils mit Tischen und Stühlen auf den Außenterrassen; dazwischen Läden, Arztpraxen, eine Anwaltskanzlei und ein Honorarkonsulat. In der Mitte auf einem Sockel der Brunnen mit dem Denkmal Eberhard Ludwigs, dem Stadtgründer.

 

 

Herbst

 

Dienstag, 17.10. 2017
Zeit: 11.30 Uhr. Ort: Südseite des Marktbrunnens  mit der Statue von Eberhard Ludwig,
Blick zur Oberen Marktstraße. Wetter:  Sonnig, warm, 23 Grad, leicht windig.

 

        Vor mir Marktstände: Beyer, frisches Obst und Gemüse, rechts daneben Weilerhöfer Bauernladen, Wildspezialitäten. Auf der linken Seite Eier und Geflügel.

        Ich sitze vor dem Brunnen auf einem städtischen Sessel aus Drahtgeflecht und rauche eine Zigarette. Eine Dame rechts neben mir im kurzärmeligen Kleid liest die Ludwigsburger Kreiszeitung, hustet, als Rauch zu ihr zieht. Ich entschuldige mich. Nein, nein, ich huste nicht wegen dem Rauch, lassen Sie sich nicht stören. Erstaunlich, wie sich die LudwigsbürgerInnen verändert haben. Vor vierzig Jahren wurde ich angebruddelt, wenn ich nur nach dem Weg fragte. Die Dame packt die Zeitung in die Tasche und geht. Hoffentlich nicht meinetwegen.

        Auf der Bank zu meiner Linken unterhalten sich zwei italienische Rentner. Ein Dritter kommt hinzu, bleibt stehen, spricht die Sitzenden an: Parliamo tedesco?No, no, parliamo italiano, antwortet einer.

         Italienische Satzfetzen von links. Capito. Angenehme Stimmen, warmes Timbre. Viel verstehe ich nicht. Ich habe mich immer mit wenigen italienischen Wörtern und Sätzen durchgeschlagen: Dov‘ è la strada per? A destra, a sinistra? Und bin überall hingekommen. Il conto, per favore. Avete una camera per due? Mehr hat es meist nicht gebraucht. Die Männer stecken die Köpfe zusammen, gestikulieren, reden mit Nachdruck. Es scheint um etwas Wichtiges zu gehen.

        Eine Frau mit kurz geschnittenem graumeliertem Haar setzt sich auf den frei gewordenen Stuhl zu meiner Rechten, legt ein Taschenbuch auf den Stuhl zwischen uns. Titel: Der Gegenschlag. Den Autor kann ich nicht entziffern, zu kleine Schrift. Ein Krimi? Ein Thriller? Jedenfalls ein dicker Wälzer. Sie packt ein Sandwich aus, breitet sorgfältig eine Papierserviette auf dem Schoß aus. Ein Salatblatt ragt über den Rand des Brötchens. Sie schließt die Augen und kaut bedächtig. Danach schlägt sie ihr Buch auf und liest.

          Ich zünde mir die nächste Zigarette an. Zigarettenkippen zu meinen Füßen. Aber wohin mit den Kippen? Kein Abfalleimer am Brunnen, würde auch nicht zum barocken Stil passen. Also wohin mit meiner Kippe? Nicht rauchen, sagen missionarische Nichtraucher gern bei solchen Gelegenheiten, dann ist das Problem gelöst. Ach

          Die Italiener stehen auf, Domenica, Ciao, und gehen in verschiedene Richtungen davon.

         Ein grauhaariger Mann mit Stock setzt sich auf den leeren Stuhl zwischen der graumelierten Dame mit dem Buch und mir. Schlägt die Beine übereinander. Weiße Haut leuchtet zwischen Socken und Hosenbeinen. Er dreht sich mir zu, streckt die Beine aus, wippt mit dem linken Fuß. Ich schaue weg, schaue auf breit getretene schwarze Kaugummiflecken. Tauben spazieren vorbei, picken ab und zu etwas aus den Fugen.

          Ein Marktbeschicker zieht auf einem Handwagen halbvolle Gemüsekisten vorbei. Ein Gärtner in grüner Schürze fährt auf einem Klapprad in Richtung Obere Marktstraße, verschwindet hinter dem Transporter. Der Marktbeschicker kommt mit leeren Gemüsekisten auf seinem Handwagen zurück. Wo hat er das Gemüse hingebracht? Ich hätte ihn fragen sollen.

          Der grauhaarige Mann wendet sich der graumelierten Dame zu. Sie liest weiter in ihrem Buch.

         Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor.

         Ein Mitarbeiter der Stadtreinigung strebt mit Besen und Abfalleimer auf den Brunnen zu. Er also wird die Kippen aufsammeln. Ich könnte guten Gewissens die Zigarette austreten und liegen lassen. Nur blöd, dass ich sie noch nicht zu Ende geraucht habe. Der Stadtreiniger zieht mit den Fingernägeln Aufkleber vom Brunnenrand. Geschmackloses Design. Dazu sind harte Fingernägel gut, erklärt er, hält die Aufkleber wie eine Trophäe hoch und wirft sie dann in seinen Eimer. Danach geht er weiter. Die Zigarettenkippen auf dem Boden bleiben liegen. Wozu zieht er eigentlich einen Eimer mit Besen hinter sich her, wenn er die Zigarettenstummel nicht wegkehrt? Ich trete meine Zigarette mit dem Absatz aus, schiebe sie zu den anderen Kippen, damit es so aussieht, als ob sie nicht von mir wäre. Mein Gewissen regt sich. Wo Dreck liegt, kommt noch mehr Dreck hinzu, das weiß ich doch. Missmutig packe ich die Kippe in ein Papiertaschentuch. Der Abfalleimer ist ja nicht weit weg.

          Eine junge Frau, zierlich, glatte schwarze, kurzgeschnittene Haare, mandelförmige Augen, fotografiert mit ihrem Handy die Stadtkirche.

          Ein Radfahrer fährt zwischen den Ständen in Richtung Obere Marktstraße. Ein anderer stellt sein Fahrrad quer vor dem Eierstand ab, dann legt er seinen Rucksack auf den Boden, bückt sich und wühlt in ihm.

          Zwei junge Frauen mit Kinderwagen stellen Stühle vor den Brunnensockel, setzen sich einander gegenüber und reden miteinander, die Kinderwagen neben sich.

          12-Uhr-Läuten der Stadtkirche. Vier helle Doppelschläge der Glocken der Turmlaterne des Südturms zeigen die volle Stunde an, dann zwölf tiefere Glockenschläge der Betglocke, anschließend noch einmal zwölf Schläge der Herzog-Eberhard-Glocke des Nordturms. Sie tönt noch tiefer und voller als die Betglocke.

          Kunden schlendern zwischen den Marktständen und kaufen Gemüse, Obst und Eier.

         An der Westseite des Brunnensockels sitzt ein Mann in gelbem Sweatshirt mit gespreizten Beinen auf dem Boden mit dem Blick zur Stadtkirche. Zwischen seinen Beinen hockt ein Kleinkind und schaut sich um.

         Zwei junge Frauen mit Kopftuch, Jeans, Wolltunika und Stiefeln setzen sich auf die frei gewordenen Stühle der italienischen Rentner. Sie sprechen Türkisch, versetzt mit Deutsch. Ich schreibe lautmalerisch mit. Ütsch ötsch gutsch ödnü oina üsfiö. Was muss ich genau machen, um das zu bekommen? Ütsch meknon tschi djongub yildiirim öztürk ütsch äckmäck. Die Eine gibt der Anderen ein kleines Päckchen, eingepackt in Geschenkpapier. Ach, ist das süß, teschekür ederem, wenn ich mal down bin und dann wieder hochkomme, ösmäk ütsch häk ördurum ätschbäk gludurum. Ich kenn das ja, ötsch öwri bodrum ismir Fikriye nir dünne den Leuten was vorspielen. Ich komme mit Schreiben nicht hinterher, zu viele fremde unverständliche Wörter, die ich nicht rasch genug aufschreiben kann.

          Erinnerungen an den Urlaub in der Türkei 1990. Mit meinem siebenjährigen Sohn in einer Bucht zwischen Antalya und Alanya. Nur unter Protest setzt er sich unter den Sonnenschirm. Das müßige Strandleben unterbrechen türkische Jagdbomber in Richtung Südwesten. Was ist hier los? Manöver oder Angriff? In dieser Pension zwischen zwei Hotels gibt es keine deutschen Zeitungen. Am nächsten Tag bringen Urlauber aus Deutschland die Nachricht mit, dass irakische Truppen in Kuweit einmarschiert sind. Sind die verrückt geworden? Was, wenn wir nicht mehr nach Hause kommen? Die Fluggesellschaft ist nicht bereit, den Rückflug umzubuchen. Wir müssen noch eine Woche bleiben.

          12.05 Uhr. Die Glocken schweigen. Eine leichte Brise versetzt mit Käseduft streicht über den Platz. Zeit einzukaufen. Vier Leute stehen beim Kartoffelmann an. Also zuerst Eier bei Andy kaufen. Sechs freilaufende Eier, bitte. Andy grinst: extra öko, super bio. Er weiß, dass ich auf bio stehe. Aus alter Verbundenheit kaufe ich ab und zu Eier bei ihm. Als Studentin wohnte ich ein Semester lang auf der Hühnerfarm seiner Eltern. Wenn er zu mir in die Küche kam, zeichneten wir zusammen Strichmännchen oder ich versuchte mit Pfennigstücken ihm das Zählen beizubringen. Jetzt reicht er mir den Eierkarton, ich ihm Geld. Keine Pfennige mehr, sondern Euro und Cent. Tschüss und Adieu. Zucchini und Auberginen bei Naturkost Henk. Meine Zucchini sind dieses Jahr nichts geworden, zu spät gesetzt. Und jetzt schnell zum Kartoffelmann, nur noch eine Kundin, die wartet. Der Kartoffelmann bewegt sich langsam, mühsam, arg krumm geworden ist er. Wie lange wird er es noch auf den Markt schaffen?

          Nachtrag Oktober 2018: Der Kartoffelmann hat seinen Stand aufgegeben.

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Catherine Draffin
 2020