Bild: Catherine Draffin 2020

  Herbst

 

Samstag, 29.09.2018

Zeit: 17.30 Uhr. Ort: Marktplatz, Stadtkirche.

Wetter: sonnig, 15 Grad, Himmel leicht bedeckt

 

           Um 18 Uhr lädt die Stadtkirche zur Stunde der Kirchenmusik zum Michaelstag ein. Die milde Witterung verlockt zu einem Gang über die Antikmeile. Stände mit altem Schmuck, alten Uhren, Blechspielzeug, Märklin-Eisenbahnen, Taschenmessern, Porzellangeschirren, Möbeln und, und, und. Wie  würden Sie nennen, was Sie anbieten?, frage ich einen Händler. Antiquitäten, Trödel, Krempel, seine kurze Antwort. Ich sehe Vieles, was wir von unseren Eltern und Großeltern kennen und nicht wollen oder brauchen können. Die Märklin-Eisenbahn, mit der wir nur an Weihnachten spielen durften. Die alte Mundlos Nähmaschine mit Fußantrieb, auf der ich im Wohnzimmer meiner Großeltern meinen ersten Rock aus rotem Fahnenstoff nähte. Oder eine Kaffeemühle aus Buchenholz, die bis in die 60er Jahre Groß und Klein zwischen die Knie klemmte und eifrig die Kurbel drehte, bis die Schublade voll Kaffeemehl war. Und tatsächlich am nächsten Stand eine Zeiger-Schreibmaschine, Typ Mignon von AEG aus dem Jahr 1913. So eine Schreibmaschine stand im Büro meines Großvaters. Vor ihr saß ich gerne und suchte mit einem Zeiger auf Buchstabenfeldern nach Buchstaben. Wenn der Zeiger auf dem richtigen Buchstaben stand, musste man auf eine Taste hauen. Ja, hauen, sonst drückte die Type nicht deutlich genug durch das Farbband auf das Papier. Der Sammler, der diese Maschinen anbietet, erklärt: Die Zielgruppe waren Handwerker. Diese schrieben abends ihre Rechnungen auf der Maschine. Mein Großvater war zwar Handwerker. Aber seine Rechnungen schrieb er von Hand mit einem Tintenstift. Wozu brauchte er dann in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Schreibmaschine von 1913, die technisch längst veraltet war? Der Privatsammler, der früher Büromaschinenmechaniker war, weiß darauf auch keine Antwort und zeigt mir stattdessen eine Remington Portable. Auf diesem Typ soll Hitler Mein Kampf geschrieben haben. Jedenfalls soll eine Maschine dieses Typs in seinem Nachlass gefunden worden sein. Hält der Händler diese Information für ein Verkaufsargument? Ich wende mich zur Seite. Dabei fällt mein Blick auf eine mechanische Rechenmaschine. Eine Dame gesellt sich zu uns und bedient die Maschine fachkundig. Damit habe ich lange gearbeitet, sagt sie und lächelt. Bürokauffrau? frage ich. – Kaufmann, korrigiert sie mich, damals hießen auch Frauen Kaufmann.

          Eine Duftmischung aus Bratwurst und Donuts weht herüber. Rund um den Brunnen Stände mit Bratwürsten, Maultaschen, Donuts, Crêpes und Langos.

          Eine Händlerin von alten Leinenstoffen legt an ihrem Stand die Handtücher, Tischdecken und Servietten wieder zusammen, die Interessenten aufgefaltet liegen gelassen haben.

          Die Leute schauen, befühlen, plaudern, bleiben stehen, gehen weiter, plaudern, bleiben an einem anderen Stand stehen. Ach, weißt du noch? … Kennst du noch? … Das hatten wir doch auch!Komm, lass des alte G‘lomb! Ein Mann zieht eine Frau von einem Stand mit großformatigen Engelbildern in goldschimmernden Rahmen weg. 

          Das Glockenläuten und die offenen Türen der Stadtkirche laden ein zur Stunde der Kirchenmusik zum Michaelstag. Während auf dem Marktplatz geschaut, gegessen, getrunken, geplaudert und gehandelt wird, sitzen die BesucherInnen locker verteilt in den Kirchenbänken, mehr Frauen als Männer. Nur wenige Schritte vom Markttreiben entfernt herrscht hier Stille. Auf dem Programm stehen musikalische Werke aus dem 17. und 18. Jahrhundert und Texte zum Lob und Preis der Engel von der Bibel bis zu zeitgenössischen Autoren. Und wirklich, der Ludwigsburger Motettenchor singt geradezu mit Engelsstimmen, instrumental begleitet vom ensemble flessibile. Ich schließe die Augen und überlasse mich der Musik. Der ganze Raum ist von Musik erfüllt und ich fühle mich als Teil dieser an- und abschwellenden Klänge, der Melodiebögen, des Rhythmus‘. Hin und wieder erreicht mich ein Satz, der mich berührt und eine Weile in mir klingt, sich mit der nächsten Musik verbindet und mich in eine andere Welt trägt, eine Welt voll Licht und Schönheit. Zum Schluss verbindet ein Text die Welt der Engel mit der Welt der Menschen: Lächelnd gebt ihr uns zu versteh’n, ihr umgebt uns, wo immer wir steh’n. Ich öffne die Augen und sehe auf vielen Gesichtern ein Lächeln.

          19.15 Uhr. Mit diesem Lächeln verlassen wir die Stadtkirche und treten wieder in die Welt hinaus. Eben fühlte ich mich noch verbunden mit den Menschen in der Kirche. Nun zerstreuen wir uns wieder. Die Stände sind mit weißen, gelben, grünen und gestreiften Zeltplanen abgedeckt. Der Trubel ist vorbei, ein kühler Wind fegt über den Platz. Der Himmel grau-blau, Lichtreklamen über den Arkaden und Geschäftshäusern. Zwei, drei Paare und Familien eilen über den Platz. Leises Stimmengewirr von der Terrasse des BarON. Menschen sitzen nah beieinander, reden, essen, trinken und rauchen.

          Zeit, nach Hause zu gehen.

 Regina Boger