Kunst ist meine Leidenschaft, Pädagogik meine Mission

 

Ich möchte, dass die Kinder
mit Freude und Spannung in die Schule kommen

          Seit 10 Jahren arbeite ich als Grundschullehrerin und das sehr gern. Davor arbeitete ich als  Modedesignerin. Der Weg vom einen Beruf zum anderen ergab sich aus Neigung und Notwendigkeit. Als meine Kinder in die Grundschule gingen, bewarb ich mich als Kernzeitbetreuerin an ihrer Schule. Ich wusste, dass unsere Kinder für die LehrerInnen nicht einfach waren. Mein Sohn litt unter ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom). Auf einen kurzen Nenner gebracht, könnte man sagen, dass solche Kinder die Welt anders wahrnehmen als die meisten anderen Menschen. Sie nehmen häufig zu viel wahr, können Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden oder erkennen nicht, was von ihnen erwartet wird. Andererseits können sie sich auf Dinge stark konzentrieren, die ihnen Freude machen, nehmen in dieser Zeit aber andere Dinge nur eingeschränkt wahr. Um Alltagssituationen zu bewältigen, die für andere nebensächliche Routinen sind, müssen sie viel nachdenken. Für solche Kinder ist es schwierig, ihre Intelligenz zu nutzen. Das Wissen über ADS erwarb ich glücklicherweise bei Elternschulungen des     Sozialpädiatrischen Zentrums des Klinikums Ludwigsburg. Mein Sohn war eine Frühgeburt und kam deswegen in ein Kontrollprogramm. So wurde sein Entwicklungsstand ständig überprüft und ich konnte ihn fachgerecht unterstützen, seine Fähigkeiten zu entwickeln und seine Defizite zu kompensieren.

 

Ein Neubeginn – Studium an der PH          Mir wurde immer klarer, dass ich nicht nur betreuen wollte, mir fehlte eine eigenverantwortliche pädagogische Aufgabe. Neben der          

 

 

          Kernzeitbetreuung bot ich an einer Schule in Asperg für Eltern und Kinder Arbeitsgemeinschaften  in Werken und künstlerischem Gestalten an. Daher wusste ich, dass ich die Fähigkeiten besaß, die man als Lehrerin braucht. Und zum anderen fand ich es schockierend, wie respektlos die LehrerInnen an der Schule mit uns Kernzeitbetreuerinnen umgingen. Die meisten ignorierten uns einfach, grüßten uns nicht einmal, wenn sie uns begegneten.

 

           Nach zweieinhalb Jahren war es an der Zeit, etwas Neues zu beginnen. Das Neue war das Studium, zur selben Zeit ging etwas Altes zu Ende. Mein Mann und ich stellten fest, dass unsere Ehe gescheitert war. 2003 begann ich mein Studium an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg.  Ich belegte Kunst, Deutsch und Religion. Alles was ich studierte, machte mir Freude. Ich habe es genossen, so viele künstlerische Techniken auszuprobieren: Fotografie, Film, Drucktechniken, Bildhauerei, Arbeit mit Ton und Holz und sogar Bronzeguss. Durch die künstlerische Arbeit fand ich wieder zu mir, entwickelte wieder Selbstbewusstsein und entdeckte  die Vielzahl an künstlerischen Techniken. Gleichzeitig knüpfte ich an mein erstes Studium an, dem Modedesign, lernte nun aber eine viel größere Bandbreite an künstlerischen Techniken kennen. An dieser Stelle möchte ich von meinem ersten Beruf erzählen.



Mein erster Beruf war Modedesignerin

           Meine Mutter und meine Großmutter schneiderten und nähten sehr viel, alle meine Kleider als Kind waren von ihnen gefertigt. Aber auf die Idee, Modedesign zu studieren, brachte mich erst eine Beraterin des Arbeitsamts. So kam mein Interesse an Grafikdesign mit meiner Liebe zu Stoffen zusammen. Um die Wartezeit auf das Studium zu überbrücken, begann ich eine Lehre als Schneiderin. Diese währte nur kurz, da ich nach einem halben Jahr das Studium an der Fachhochschule in Trier aufnehmen konnte. Während des Studiums arbeitete ich als Assistentin in Ateliers, schnitt Musterteile zu, nahm Schnittänderungen vor und nahm an Ankleideproben teil. Auf diese Art und Weise konnte ich nicht nur meine Kenntnisse vertiefen, sondern verdiente auch einen Teil meines Studiums. Nach dem Studium fand ich sofort eine Stelle im Schnittatelier bei Louis London. Mir wurde schnell

 

 

 klar, dass ich keine Chance hatte, in die Entwurfsabteilung zu kommen. Deshalb bewarb ich mich für ein Stipendium in einem Atelier in Lyon, um Erfahrungen im Ausland zu sammeln. In diesem Atelier konnte ich eigene Entwürfe nähen und verkaufen.

 

Mein Leben als Modedesignerin      

          Als ich nach drei Monaten, im Dezember 1985, aus Frankreich zurückkam, fand ich sofort eine Stelle bei einer Im- und Exportfirma für Mode in Sindelfingen. Der Firma war ein kleines Atelier angeschlossen. Ich entwarf Kollektionen für Kinder- und Sportbekleidung.  Weder davor noch danach hatte ich so viele Freiheiten in einer Firma. Nach drei Jahren hatte ich meine Möglichkeiten dort ausgereizt und ich sehnte mich danach, wieder in das Chaos einer großen Firma einzutauchen.Ich bekam tatsächlich bei einer großen Modefirma die Stelle der Chefdesignerin. Wir arbeiteten rund um die Uhr. Es gab keine Wochenenden und keine Pausen, nur Druck. Ich hatte noch nicht einmal Zeit, das Geld auszugeben, das ich verdiente. Mein Partner und ich wären beinahe verhungert, weil wir noch nicht einmal genug Zeit hatten, um Lebensmittel einzukaufen. Mein Partner arbeitete ähnlich viel wie ich. Unser Leben war total von der Arbeit bestimmt. Ich sah, wie meine Kolleginnen ins Burn-out schlitterten. Manche kamen nicht mehr aus dem Urlaub zurück, weil sie am Strand zusammengebrochen waren. Am Ende der Probezeit kündigte ich.



Eine studierende allein erziehende Mutter

         Ich war immer sehr zielorientiert, ich wusste, was ich wollte und machte auch, was ich wollte. So habe ich auch das Studium und die Ehekrise gemeistert. Vormittags studierte ich an der PH, ging mittags rasch nach Hause, um für die Kinder zu kochen und sie zu versorgen, abends gab ich zwei Mal in der Woche Tai-Chi-Kurse. Außerdem war ich Springerin bei der Kernzeitbetreuung. Ich glaube, ich habe 20 Stunden am Tag gearbeitet, um alle Aufgaben zu bewältigen. Wir waren arm, wirklich arm. Das lag auch daran, dass ich von meinem Mann keinen Unterhalt  für mich verlangt hatte. So bekam ich nur Unterhalt für die Kinder und musste den Rest selbst verdienen. Aus heutiger Sicht finde ich das falsch. Mit mehr Geld hätten wir entspannter leben können.

 

          Meine Prüfungen am Ende des Studiums (2006) musste ich in zwei Wochen ablegen. Nach dem Ende der Prüfungen fiel ich in mich zusammen. Ich hatte mich total verausgabt und hatte nun keine Kraft mehr.

          Ich war immer sehr zielorientiert, ich wusste, was ich wollte und habe auch gemacht, was ich wollte. So habe ich auch das Studium und die Ehekrise gemeistert. Vormittags studierte ich an der PH, ging mittags rasch nach Hause, um für die Kinder zu kochen und sie zu versorgen, abends gab ich zwei Mal in der Woche Tai Chi-Kurse. Außerdem war ich Springerin bei der Kernzeitbetreuung. Ich glaube, ich habe 20 Stunden am Tag gearbeitet, um alle Aufgaben zu bewältigen. Wir waren arm, wirklich arm. Das lag auch daran, dass ich von meinem Mann keinen Unterhalt für mich verlangt hatte. So bekam ich nur Unterhalt für die Kinder und musste den Rest selbst verdienen. Aus heutiger Sicht finde ich das falsch. Mit mehr Geld hätten wir entspannter leben können.

           Meine Prüfungen am Ende des Studiums musste ich in zwei Wochen ablegen. Nach dem Ende der Prüfungen fiel ich in mich zusammen. Ich hatte mich total verausgabt und nun hatte ich keine Kraft mehr.

 

Das Referendariat

          Eine Viertel Jahr später begann ich das Referendariat. Ich hatte Glück und wurde der August-Lämmle-Schule in Oßweil zugewiesen. Vom ersten Tag an war ich eine begeisterte und zufriedene Lehrerin. Ich muss sagen „Grundschullehrerin“, an der Hauptschule fühlte ich mich nie zuhause. In dieser Einschätzung wurde ich auch von meiner Schulleiterin unterstützt. Hier möchte ich sagen, dass ich Glück hatte, eine wunderbare Mentorin und gute Kolleginnen zu haben. Ich konnte viel ausprobieren, musste nie nach Schema F arbeiten.

 

 

Mein Weg als Lehrerin

           Nach dem Referendariat wurde ich der Hirschbergschule zugewiesen. Mit den Schülerinnen und Schülern ging es mir gut. 18 Kinder aus 9 Nationen – das war richtig schön. Ich konnte selbständig arbeiten und meine Auffassung von Unterricht verwirklichen. Kurz gefasst, geht es mir darum, die natürliche Neugier und Wissbegierde der Kinder anzusprechen. Ich möchte, dass die Kinder mit Freude und Spannung in die Schule kommen und fragen: Was machen wir heute? Für mich ist die Schule ein Raum, in dem Neues entdeckt wird. Wo die Kinder ihre Fragen, ihre Ideen und ihr Vorwissen einbringen können. Wo auch ihre Weltvorstellungen einen Platz haben. Eine Schule, in die auch die Eltern gern kommen und sie ihr Wissen und Können einbringen können. In dieser Auffassung wurde ich auch von dem Schulleiter unterstützt, im Gegensatz zu vielen Kolleginnen, die Frontalunterricht bevorzugten. Meine Schülerinnen und Schüler waren von meiner Art des Unterrichtens begeistert. Sie brachten viele Ideen ein, die ich mit ihnen verwirklichte. Mein Grundsatz war: Wir sind eine Klasse und wir arbeiten miteinander. Das funktionierte hervorragend, obwohl die Klassen durchaus schwierig waren, aber sehr kreativ. Ich unterstützte ihre Kreativität und

förderte ihre Selbständigkeit durch einen Projekt orientierten Unterricht. Meine Klassen kamen morgens in den Unterricht und waren gespannt, was es Neues zu lernen und zu tun gab. Wenn man jedes einzelne Kind sieht, seine Bedürfnisse und sein Potenzial, kann man die Freude am Lernen wach halten.

           Diese Auffassung von Lernen machte es mir unmöglich, frontal zu unterrichten – und das ist bis heute so. Zum Glück gibt es immer mehr Lehrerinnen und Lehrer, die einen offenen Unterricht praktizieren.

 

Eine kleine Grundschule auf dem Land

 

          Nach vier Jahren an der Hirschbergschule ließ ich mich an die Grundschule in Neckargröningen versetzen. Dort fühlte ich mich vom ersten Augenblick an wohl. Vom Kollegium und der Schulleiterin fühlte ich mich von Anfang an gut aufgenommen. Wir hatten übereinstimmende pädagogische Konzepte und ich konnte meinen schülerzentrierten Unterricht fortsetzen. Das Glück währte nicht lange. Die Schulleiterin bewarb sich auf eine andere Stelle und verließ am Schuljahresende die  Schule. Für die freigewordene Schulleiterstelle gab es keine Bewerbungen. Mit einer Kollegin zusammen leitete ich die Schule kommissarisch, allerdings ohne Unterschriftsvollmacht. Die organisatorische Arbeit machte mir durchaus Spaß, aber Schulleiterin wollte ich nie werden. Verwaltungsaufgaben waren noch nie meine Sache und mit ihnen wollte ich mich nicht belasten.

 

          Unsere Arbeit als Schulleitungsteam wurde stark durch den Förderverein der Schule beeinträchtigt. Der Förderverein traf ohne Absprache mit uns Entscheidungen, die das ganze Schulleben betrafen und unseren Handlungsspielraum einschränkten. Da keine Veränderung der misslichen Lage absehbar war, stellte ich wieder einen Versetzungsantrag. Ich wollte an eine größere Schule mit einem ausgeprägten Schulleben und einer starken Schulleitung, die den Mut zu Entscheidungen hat und zu diesen Entscheidungen steht. 

 

 

Die Schwierigkeiten eines Ganztagskonzepts mit Jahrgangsmischung

 

          Diese Bedingungen fand ich in der Schlößlesfeldschule in Ludwigsburg. Bedauerlicherweise verließ die Schulleiterin am Schuljahresende die Schule. Jetzt lernte ich die Schwierigkeiten einer großen Ganztagsschule mit Jahrgangsmischung kennen. Die meisten Kinder sind zwischen 8 und 15 Uhr in der Schule, einige sogar von 7 bis 17 Uhr. Davon sind sechs Stunden Unterricht, der Rest ist Betreuung. In dieser Zeit werden die Schülerinnen von bis zu elf Personen betreut. Wie soll unter diesen Umständen eine tragfähige Beziehung gelingen, die Voraussetzung für einen Lernprozess ist, der sowohl den LehrerInnen als auch den SchülerInnen Freude macht?

 

          Aus meiner Erfahrung werden die Kinder in der ersten Klasse im Laufe des Schuljahrs von Kindergartenkindern zu Schülerinnen und Schülern. Sie lernen Regeln im Umgang miteinander kennen und die Grundlagen von Schreiben und Rechnen. So wachsen sie allmählich in den Schulalltag hinein.

 

In den jahrgangsgemischten Klassen werden die erste und die zweite Klasse gemeinsam unterrichtet. Die Idee ist, dass die Zweitklässlern den Erstklässlern helfen. Das ist in den ersten vier Wochen sinnvoll, wenn die Erstklässler die Regeln der Schule kennen lernen. In den folgenden 36 Wochen  muss ich zwei Klassenstufen in einem Raum unterrichten. Die Erstklässler verstehen nicht, was die Zweitklässler lernen und die Zweitklässler langweilen sich, wenn ich die Erstklässler unterrichte. Eine Gruppe muss immer warten. Um das Warten zu verkürzen, kürze ich spannende und anregende Einführungen. Dadurch kann ich einzelne Schülerinnen nicht mehr so gut in ihrem Lernprozess unterstützen. Und für mich ist das Unterricht im Akkord, anstrengend und unbefriedigend. So möchte ich nicht auf Dauer unterrichten. Mich zieht es wieder zu einer kleinen ländlichen Schule, in der ich Zeit für meinen Schülerinnen und Schüler habe, in der ich das Schulleben mitgestalten kann, in der wir zusammen lachen und Ideen verwirklichen können.

 



Meine Familie war für mich die Grundlage eines gelingenden Lebens

        Heidi Schönherr                                               1966. Heidi mit ihren Brüdern                                                                                 2001. Gemeinsames Essen

 

 

Meine Familie war für mich die Grundlage eines gelingenden Lebens

 

           Meine Familie ist seither nur in Randbemerkungen aufgetaucht. Dabei war und ist sie für mich sehr wichtig. Meine Eltern haben ihr Möglichstes getan, damit ich meine Neigungen und Talente entwickeln konnte. Sie ließen mir immer den Freiraum, den ich brauchte, um mich zu entwickeln. Wir leben in großer räumlicher und emotionaler Nähe zueinander, früher noch stärker als heute, als wir noch zusammen wohnten. Auch als wir Kinder eigene Familien gegründet hatten, unternahmen wir noch viel miteinander. Wir fuhren gemeinsam in den Urlaub und Grillabende bei meinen Eltern waren so selbstverständlich wie die gemeinsamen Geburtstagsfeste. Auch unsere Freunde wurden anstandslos in die Familie aufgenommen. Den Familiensinn habe ich von meinen Eltern übernommen. Sie waren immer für uns da und gaben uns Sicherheit und Geborgenheit. Sie hatten immer Zeit für uns und empfingen uns mit offenen Armen, selbst wenn wir erst nachts nach Hause

 

… zuerst die Geschichte meiner Mutter

          Meine Mutter lebte mit ihren Eltern und Verwandten, der Familie Ratsch, in dem schlesischen Bauerndorf Deutsch Hammer. Mein Großvater war als Soldat im Krieg, meine Großmutter bewirtschaftete mit ihren drei kleinen Kindern ihren Bauernhof. 1943 beschloss das Dorf, vor der Roten Armee nach Westen zu fliehen. Also packten alle Familien ihre Sachen zusammen, luden sie auf ihre Wagen und zogen im Treck nach Westen. In Sachsen-Anhalt siedelten sie sich in einem  Dorf bei Weißenfels an. Im Juli 1945 zog die amerikanische Besatzungsmacht ab und die sowjetische rückte ein. Meine Mutter erzählt von dieser Zeit nicht viel, aber eine Geschichte muss sehr dramatisch gewesen sein. Die Kinder, meine Mutter war zu der Zeit neun Jahre alt, stellten sich um die Frauen, um die Frauen vor Übergriffen zu schütze, wenn russische Soldaten auftauchten. Diesen Mut meiner Mutter habe ich immer gespürt, auch wenn sie kein Aufheben davon macht. Ihr Wagemut zeigte sich auch in einem anderen Fall. Ihre Tante und deren Mann wünschten sich Kinder, konnten aber keine bekommen. Die Tante schlug meinen Eltern vor, die älteste Tochter zu sich zu nehmen. Zum einen, um selbst ein Kind großziehen zu können und zum anderen, die Familie, die wenig zu essen hatte, finanziell zu entlasten. Da die älteste Tochter um keinen Preis ihre Familie verlassen wollte, bot meine Mutter an, an ihrer Stelle zu der Tante zu gehen. Bei ihr blieb sie, bis sie 14 Jahre alt war. Sie besuchte ihre Eltern und Geschwister in den Ferien und an Weihnachten. Bei ihrer Tante hätte sie weiterhin die Schule besuchen und eine Schneiderlehre absolvieren können, doch sie vermisste die liebevolle Geborgenheit ihrer Familie so sehr, dass sie ihren Berufswunsch aufgab und in den Schoß der Familie zurückkehrte. Der Preis war hoch, denn nun musste sie im Dienst der LPG zu Arbeitseinsätzen. Das war harte Arbeit für junge Mädchen.

 

          1956, da war sie 20 Jahre alt, beschloss sie, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und gemeinsam mit ihrer Cousine die LPG in Richtung Westen zu verlassen. Sie landete in Ludwigsburg, ohne Geld und ohne Arbeit. Die ersten drei Tage konnte sie in einem Heim für christliche Mädchen verbringen. Aber was dann? Auf der Straße traf sie zufällig einen Bekannten aus Weißenfeld mit seiner Freundin. Diese gab ihr den Tipp, sich im Krankenhaus um eine Stelle zu bewerben, was sie auch umgehend tat. Dort bekam sie nicht nur eine Stelle, sondern auch ein Zimmer im Wohnheim.

1964. Besuch der Familie Ratsch in Schkortleben, DDR

kamen und sei es um drei Uhr. Die traditionelle Rollenteilung meiner Eltern
garantierte
die familiäre Stabilität. Später fand ich das Rollenmodell meiner Mutter einengend. Aber das ist eine andere Geschichte. Meine Eltern erlaubten mir, das Gymnasium zu besuchen und dort das Abitur zu machen, obwohl sie mich lieber auf der Realschule gesehen hätten. Sie stellten mir frei, das zu studieren, was ich wollte. Sie ließen mich machen, was ich wollte und unterstützten mich dabei. Dieses Vertrauen meiner Eltern in mein Wünschen und Wollen erlebte ich als große Sicherheit.   

Eine kurze Geschichte meiner Eltern

 

          Meine Eltern sind sogenannte Flüchtlinge, die ihre Heimat wegen des Zweiten Weltkriegs verlassen mussten. Mein Vater, Stephan Schönherr, (geb. am 18.03.1929) stammt aus dem Banat, meine Mutter, Christa Schönherr, geb. als Christa Ratsch am 16.05.1936, aus Oberschlesien.

 

… und jetzt die Geschichte meines Vaters

          Mein Vater hat ungarische und deutsche Wurzeln. Er ist 1928 im Banat geboren. Zu Hause sprach er Deutsch und außerhalb je nach Bedarf Ungarisch, Rumänisch oder Serbisch. Durch die Expansionspolitik der Nazis wurde das Banat dem serbischen Staat unter deutscher Verwaltung zugeschlagen. Damit wurde die Gruppe der Donauschwaben zu Volksdeutschen erklärt. Das war schwierig für die Bewohner des Dorfes, in dem die kulturelle Vielfalt selbstverständlich war. Die einen wurden aufgewertet, die anderen abgewertet oder gar enteignet. Mit einem Schlag war die Amtssprache Deutsch, auf den Ämtern und in den Schulen, wodurch die Serben, Rumänen und Ungarn diskriminiert wurden. Als 1945 der Krieg zu Ende war und Tito an die Macht kam, wurden die Volksdeutschen zu Feinden der neuen Machthaber erklärt. Die meisten flohen oder wurden vertrieben. Die Zurückgebliebenen wurden in Arbeitslagern interniert. So auch mein Vater, seine Eltern und seine Schwester, allerdings in verschiedene. Da sie nicht wussten, wo die anderen Familienmitglieder waren, konnten sie keinen Kontakt zueinander aufnehmen. Mein Vater hielt das Eingesperrt Sein im Lager nicht aus und sah sich nach einer Möglichkeit um, aus dem Lager zu kommen. Da kamen ihm sein technisches Können und seine Mehrsprachigkeit zu Hilfe. Er wurde als Maschinist eingesetzt, der die Traktoren auf den Feldern reparierte. Dadurch konnte er in einer Hütte außerhalb des Lagers wohnen. 1948 wurden die Arbeitslager aufgelöst. Die jungen Männer wurden nun in Notlagern interniert, um sie zu zwingen, einen Vertrag zur Zwangsarbeit im Bergwerk zu unterschreiben. Nach anfänglichem Widerstand unterschrieb mein Vater schließlich. Wegen seiner technischen Kenntnisse musste er nicht unter Tage arbeiten, sondern kam in eine Werkstatt. Nach vier Jahren wurde er entlassen und dachte, nun wäre er frei. Doch durch die Gründung der Republik Jugoslawien war er nun jugoslawischer Staatsbürger und somit verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. Sein Vater war sehr krank und so entschloss sich die Familie, sich aus der jugoslawischen Staatsbürgerschaft freizukaufen, nachdem der Sohn seinen Wehrdienst abgeleistet hatte. So kamen meine Großeltern und mein Vater als Staatenlose nach Deutschland und wurden hier eingebürgert.

          Beide Elternteile wurden in sichere und geborgene Verhältnisse geboren, doch durch äußere Umstände veränderte sich ihre Welt vollständig. In jungen Jahren waren sie lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt und meisterten diese.

 

1965. Die Familien Ratsch und Schönherr, DDR



Eine Familie mit österreichisch-ungarischer Lebensweise

 

          Meine Eltern lernten sich in Ludwigsburg über gemeinsame Freunde kennen. Nachdem sie geheiratet hatten, lebten sie mit den Eltern meines Vaters in einer Wohnung. Unser Tagesablauf und die Küche waren österreichisch-ungarisch dominiert. Meine Großmutter kochte gemeinsam mit meiner Mutter, wobei die Großmutter den Speiseplan bestimmte. Nachmittags wurden Handarbeiten gemacht, genäht, gestickt und gestrickt und dabei von den alten Zeiten gesprochen. Meine Brüder und ich wurden stark von der dörflichen österreichisch-ungarischen Lebensweise bestimmt, da meine Großeltern in Ungarn geboren wurden. Bei uns wurde sehr viel gesprochen. Wir haben noch heute eine stark ausgeprägte Gesprächskultur. Die Großeltern erzählten viel von der verlorenen Heimat, von ihrem verlorenen Paradies. Meine Eltern und meine Großeltern legten großen Wert auf Sicherheit. Der Drang meines Vaters nach Fortbewegung drückte sich darin aus, dass er uns schon früh das Rollschuhlaufen beibrachte und natürlich bekamen wir alle Fahrräder. Jedes Kind durfte mit 18 den Führerschein machen. Mein Vater hatte sich bei der ersten Gelegenheit ein Auto zugelegt. Er schaffte ein Kinderauto an - ein Auto für seine Kinder -, damit diese beweglich waren. Dieses Bedürfnis nach Fortbewegung hat vermutlich seine Wurzeln in seiner Erfahrung, dass er sich durch Fahrzeuge aus den erdrückenden Lagerverhältnisse befreien konnte. Fahrzeuge waren für ihn der Schlüssel zur Freiheit.

Unsere Familienkultur

 

Typisch für meine Familie ist diese stark ausgeprägte Gesprächskultur. Bei uns wird viel erzählt und viel zugehört. Stark ausgeprägt ist auch der Familienzusammenhalt. Meine Eltern richteten ihr Leben ganz auf uns Kinder aus. Sie gaben uns ihre ganze Liebe und Unterstützung. Meine Brüder und ich machten mit unseren Freunden und Freundinnen zusammen Urlaub. Auch als

1998. Heidi Schönherr-Böhm mit ihrem Mann

 

 

Erwachsene unterstützten wir uns ganz selbstverständlich und unsere Kinder wuchsen gemeinsam auf. Diese familiäre Innigkeit und Enge war meinem Mann fremd, der aus einer ganz anderen Familie kam. Dass es auch ganz andere Familienkulturen gibt, begriff ich erst viel später. Ich war der Überzeugung, dass jede Familie so funktioniert wie meine Herkunftsfamilie. Denn auch die Familie meiner Mutter, die weiterhin in Sachsen-Anhalt lebte, war so herzlich und innig wie meine jugoslawische Familie.

 

          Meine beiden Kinder betrachten meine Wohnung als ihr Zuhause. Und ich war immer bestrebt, ihnen diese familiäre Sicherheit und Geborgenheit zu geben, die ich bei meinen Eltern erlebt hatte. Diese Geborgenheit in meinem Elternhaus betrachte ich als großen Schatz, den mir meine Eltern gegeben haben. Es ist das Urvertrauen, das mir wie ein Kompass den Weg zeigte, sowohl beruflich als auch in der Liebe. Ich wusste, dass meine erste Liebe die richtige für mich war, wie ich auch wusste, dass Modedesignerin der richtige Beruf war.



Ehekrise     

          Dennoch war mein Leben nicht nur auf Rosen gebettet. Von der angesehenen Modedesignerin zur Mutter eines zu früh geborenen Kindes bedeutet eine radikale Änderung meines bisherigen Lebens, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich konzentrierte mich ganz auf mein anspruchsvolles Kind und geriet zunehmend in ein tiefes Loch der Erschöpfung. Mein Mann war von der Situation ebenso überfordert und floh aus der Familie in sportliche Aktivitäten. Auch als unser zweites Kind auf die Welt kam, fanden wir nicht mehr zueinander. Nach ein paar Jahren war unsere Ehe so zerrüttet, dass ich keine Chance mehr auf eine glückliche Familie sah und mich von meinem Mann trennte. Dennoch versöhnten wir uns nach einiger Zeit und wurden wieder Freunde, wie wir es schon immer gewesen waren. Schließlich bestand zwischen uns eine tiefe Verbundenheit und Vertrautheit seit der Zeit, als wir zusammen im Sandkasten gespielt hatten. Nachdem zwischen uns alles besprochen und geklärt war, feierten wir wieder als Familie Geburtstage und

 

 

 

Erzählt von Heidi Schönherr-Böhm,
aufgeschrieben und bearbeitet von Regina Boger 2018

 Weihnachten miteinander. Als mein Mann an Krebs erkrankte, war es für meine Kinder und mich selbstverständlich, ihn zu versorgen und zu pflegen.

 

Resümee

           Die schwierigen Zeiten habe ich durch den Zusammenhalt und die Liebe meiner Familie überstanden. Die Liebe meiner Kinder hat mir Kraft und Halt gegeben und natürlich die Unterstützung meiner Eltern und meiner Brüder. Sie waren immer für uns da. Auf der anderen Seite ermöglichte mir das Kunststudium an der PH, mein künstlerisches Potenzial zu entfalten und zu entwickeln. Dadurch konnte ich diese Prozesse mit künstlerischen Mitteln bearbeiten und bewältigen. Für diese Möglichkeit bin ich sehr dankbar. Mein Leben ist durch diese Erfahrungen reicher und vielfältiger geworden.

           Ludwigsburg bedeutet für mich Geborgenheit. Hier kenne ich mich aus. Hier leben meine Familie und meine Freunde. Deswegen liebe ich diese Stadt.