Crumble, gâteau miettes oder Trümmertorte …

          Der Titel dieser Geschichte mag ein wenig überraschen. Was er mit meiner Biographie gemeinsam hat, wird beim Lesen noch deutlich werden.

          Es ist faszinierend zu entdecken, was hinter manchen Wörtern steckt, umso mehr, wenn ein Phänomen in mehreren Ländern fast gleichzeitig passiert.

          Eine bestimmte Kuchenart ist während des Zweiten Weltkriegs entstanden, zuerst in Großbritannien mit dem Namen „Crumble“ (was Krümel bedeutet), als die deutschen Flugzeuge London bombardierten. Da die englischen Männer an der Front waren, mussten ihre Frauen alles alleine bewältigen. Die Nahrungsmittel waren äußerst knapp und ein neues „Kochrezept“ ohne Eier, mit Mehl, Zucker und Margarine als Grundlage entstand. Darüber kamen so genannte „Krümel“, also Reste von dem, was übrig bzw. vorhanden war: Gemüse, Früchte, Samen oder Gartenkräuter. Es ging darum, alles zu verwerten, nichts sollte verloren gehen. Dasselbe gab es in Frankreich unter dem Begriff „gâteaux miettes“.

          Diese Kuchen waren ein Gericht für Krisenzeiten. Es ging darum, in einer Zeit der Zerstörung und der Hoffnungslosigkeit mit wenig viel zu erreichen.

           Anfang der 50er Jahre kamen Trümmertorte und Streuselkuchen in Deutschland auf. Die Trümmerfrauen sollten es endlich besser haben. Lange konnten sie sich in den mageren Jahren des Wiederaufbaus nichts leisten. Erst später wurde es möglich, sich und ihrer Familie eine aufwendige kalorienreiche Leckerei zu gönnen, zumal Schlagsahne noch lange Zeit Mangelware war.

           Heutzutage werden Crumbles oder Trümmertorten in vielen Kochbüchern beschrieben. Sie gehören jetzt zu den Bestsellern, sind modern und beliebt. Diese Kuchensorten erfahren eine Umwandlung. Sie sind nicht mehr Sinnbild von Krisenzeiten, sondern gelten heute als besonders feine Kuchen.

           Im weiteren Sinne heißt die Devise in schweren Zeiten: nicht resignieren, sondern handeln, sein Potential nutzen mit der Zuversicht, dass etwas Neues und Besseres gelingen mag.

 

Schwere Zeiten

          Ende der 50er Jahre kam ich in Lille als drittes von sieben Kindern zur Welt. Mit zwei Jahren musste ich ins Krankenhaus, weil ich „schwach“ war. Als ich später fragte, warum ich im Krankenhaus war, wollte keiner so richtig eine Antwort geben. Den wahren Grund habe ich nie erfahren.

        

 

 

 

Appetit hatte ich nie. Meine Leistungen in der Schule waren eher mäßig. Ich besuchte eine streng katholische Nonnenschule, fühlte mich dort unglücklich, war immer allein und hatte das Gefühl, nicht zugehörig zu sein.

Die Dreijährige

          Auch zu Hause war dieses Gefühl sehr intensiv. Eines Tages fragte ich meine Mutter, ob es nicht sein könnte, dass man mich in der Klinik verwechselt hätte. Meine Mutter antwortete, dass dies nicht sein könnte. Ein paar Jahre später stellte ich dieselbe Frage wieder. Meine Mutter erklärte mir dann, dass ich ein „Unfall“ sei, also kein Wunschkind.         

          Mit etwa zehn Jahren – meine Familie lebte jetzt in Dijon – wurde es ernst. Monate lang ging die Diskussion, ob ich in ein gemischtes Gymnasium gehen sollte oder in ein „Mädchengymnasium“. Meine Eltern entschieden sich dann für das gemischte Gymnasium. Ich hatte fürchterliche Angst davor und dachte: „Hoffentlich muss ich nicht neben einem Jungen sitzen“, denn ich hatte eine sexuelle Aufklärung der besonderen Art erhalten. Meine Mutter zeigte mir ein Schwarz-Weiß-Bild, auf dem ein Bauch zu erkennen war. Sie erklärte mir, dass Gott sehr intelligent sei und sich alles genau ausgedacht habe. Es gebe Millionen und Abermillionen von Samen, die überall in der Luft schwebten und Gott könne diese fliegenden Samen super gut steuern. Meine Mutter erklärte mir dann, dass wenn es „soweit“ sei, der Bauch der Frau sich öffnen würde, damit die Samen eindringen könnten.

           Mit elf Jahren konnte ich nicht mehr zur Schule gehen. Der Lehrer hatte mich neben einen Jungen gesetzt und ich durfte den Sitzplatz nicht wechseln. Erschwerend kam dazu, dass dieser Junge sehr gern im Unterricht redete. Er wollte immer Briefmarken mit mir tauschen. Dem Unterricht konnte ich gar nicht mehr folgen und hatte nur noch Angst wegen den fliegenden Samen. Die Eltern verstanden mich nicht. Ich weinte nur noch, bis meine Großmutter mütterlicherseits mich zu sich holte. Sie wohnte in der Nähe von Lille mit ihrer ledigen Tochter, meiner Tante. Ich war sehr froh, dort zu sein, obwohl ich den ganzen Tag ohne andere Kontakte war. Es gab tagsüber nur die Großmutter und abends noch die Tante. Meine Großmutter hatte meiner Mutter gesagt: „Was dieses Kind braucht, ist Liebe und rotes Fleisch.“ Beides bekam ich von ihr.

          Ich blieb etwa acht Monate bei Großmutter und Tante und wollte gar nicht mehr zurück nach Hause. Aber meine Großmutter erklärte mir, dass ich meine Firmung mit den Mitschülern aus Dijon feiern müsste.

           
Meine Mutter holte mich ab. Bei der Fahrt nach Hause weinte ich sehr und versuchte, mich mit den von der Tante mitgegebenen Süßigkeiten zu trösten. Die Klasse musste ich wiederholen, da ich lange in der Schule gefehlt hatte. Mein Bruder Christophe war ein Jahr jünger. So kam es, dass wir in dieselbe Klasse kamen. Wir verstanden uns gut und spielten gern miteinander.


1969. Meine Firmung (links)



          Mit vierzehn Jahren wurde ich körperlich eine Frau. Innerlich war ich ein bisschen stolz und ahnte nicht, dass viele Probleme dadurch entstehen würden. Ich erhielt allerlei Berichte über Gefahren beim Umgang mit Jungen. Freundinnen, deren Eltern geschieden waren, durfte ich nicht haben und dies wurde streng kontrolliert, auch mit Hilfe meines ältesten Bruders Remi, dem Lieblingskind meiner Mutter. Freundinnen waren sowieso unnötig. Nur die Familie war wichtig. Meine Familie war „gut“ und alles drumherum „schlecht“. Dies war das Gesetz der Familie. Ständig wurde über das Verbot des „Verlobten Kusses“ vor der Eheschließung gesprochen, was nichts anderes bedeutet als ein Kuss auf dem Mund.

          Zu meinem Bruder Christophe, der in der Zwischenzeit das Abitur bestanden hatte, hatte ich eine enge Beziehung. Er zog nach Vierzon, um dort an einer Ingenieurschule zu studieren. Ab und zu am Wochenende kam er nach Orléans, wo wir inzwischen wohnten, und unternahm etwas zusammen mit mir und meinen Freundinnen.

           Mit zwanzig Jahren ging ich wieder ins Ferienlager. In dieser Zeit erhielt Christophe den Führerschein und fragte mich, ob er mein Auto verwenden dürfe. Dem stimmte ich gerne zu. Der älteste Bruder Remi aber verbot ihm, mit meinem Auto zu fahren, wenn er andere mitnehmen würde. Deswegen fuhr Christophe an einem 14. Juli als Beifahrer im Auto seines Freundes mit, um einen gemeinsamen Freund abzuholen. Dabei ereignete sich der Unfall, bei dem er mit neunzehn Jahren starb.

          Später musste ich mir anhören, dass es wahrscheinlich besser war, dass mein Bruder gestorben war, weil ich ihn sonst verdorben hätte, da ich einen negativen Einfluss auf ihn gehabt hätte. Meine Mutter sagte, dass diese Aussage von der Tante käme und meine Tante sagte, dass dies eine Aussage der Mutter sei. Bis heute kenne ich noch immer nicht alle Umstände des Todes meines Bruders, da mir meine Eltern die Einsicht in die Gerichtsakten des Unfalls verwehrt hatten.

          Für mich brach eine Welt zusammen. Nochmals ein Verlust, ein Abschied, denn ich hatte im Alter von drei Jahren auch meine jüngere Schwester, sechs Monate alt, verloren. Sie starb bei einem Autounfall, als meine Mutter bei Glatteis auf dem Weg zum Arzt gegen einen Baum fuhr. Im Ort gab es wohl einen Arzt, aber man sagte, dass er Jude sei und zu einem Juden konnte man ja nicht gehen. Ich erfuhr nicht, dass meine kleine Schwester bei diesem Unfall umkam und habe sie lange gesucht.

          Ich studierte BWL mit Schwerpunkt Fremdsprachen in Orléans und absolvierte mein Abschlusspraktikum bei dem Parfümhersteller Christian Dior. Sobald ich zu Hause war, kümmerte ich mich um meine zwei kleinen Brüder. Das Essen musste gemacht werden und es gab auch sonst noch viel zu tun. Meine Eltern hatten eine Firma übernommen und kamen jeden Abend spät nach Hause. Dann wollten sie von ihren Kindern bedient werden und schimpften nur – übereinander, über ihre Kunden und natürlich über uns.

          Nach dem Tod von Christophe kam ich auf die Idee, das elterliche Haus zu verlassen. Das Studium hatte ich gerade beendet und somit konnte ich entweder als Lehrerin in einem Wirtschaftsgymnasium oder in der Industrie als Assistentin arbeiten. Ich teilte meine Eltern mit, dass ich keine Stelle in Orléans finden würde, denn die Stadt wäre viel zu klein und keine Firma würde Fremdsprachen benötigen. Für meine Eltern war es wichtig, dass ich ziemlich schnell eine Arbeit aufnehmen würde. Sie hatten einen Bekannten, der in Paris eine Firma leitete. Daher konnte ich mich dort bewerben, erhielt eine Stelle und zog nach Paris. Dort fing eine schwere Zeit für mich an. Tagsüber arbeitete ich und abends war ich ziemlich allein. Am Wochenende fuhr ich nach Orléans. Dort hatte ich allerdings nicht das Gefühl, wirklich willkommen zu sein. Später fuhr ich nicht mehr jedes Wochenende nach Orléans und auch das war meinen Eltern nicht recht. Ich fühlte mich so fremd und wusste nichts vom Leben. Mein familiärer Ballast führte zu psychosomatischen Beschwerden und diese zu häufigen Fehlzeiten. Das hinderte mich natürlich an einem Aufstieg in der Firma. Mir ging es besser, als ich einen Freundeskreis fand, in dem ich mich wohl fühlte.

 

Die Hölle auf Erden

          Meine Herkunftsfamilie war streng katholisch. Vor jeder Hochzeit musste der Klerus gefragt werden, ob der Hochzeit etwas entgegenstünde. Mein Vater hatte einen Bruder, der Jesuit war und meine Mutter einen Onkel, ebenfalls Jesuit. Dies war ein Pluspunkt für meine Eltern, denn es gehörte zur Familiensitte, den bzw. die Auserwählte gründlich zu überprüfen, bevor eine Eheschließung erlaubt wurde. Also wurden beide Pfarrer konsultiert. Es wurde recherchiert und „glücklicherweise“ stellte sich heraus, dass die Pfarrer sich kannten und somit auch die Herkunftsfamilien. Der Hochzeit wurde zugestimmt und sie heirateten, da sowohl mein Vater als auch meine Mutter aus „guten“ Familien stammten.

          Mein Vater war Ingenieur. In Reims geboren, zog er nach dem Abitur nach Nordfrankreich, um dort an einer der wenigen katholischen Elite-Ingenieurschulen in Lille zu studieren. Diese Ingenieurschule organisierte Tanzbälle. Meine Mutter, die in Nordfrankreich geboren war und auch dort lebte, besuchte fast nur solche Veranstaltungen, denn sie wollte eine gute Partie machen. So fand sie ihren Ehemann, meinen Vater. Sie heirateten 1952.

          Bestandteile meiner Erziehung waren Strenge, Schuldzuweisung, Einschüchterung und Missgunst. Von Glück und Wohlfühlen keine Spur. Dies war nicht gewollt, denn es wäre mit einem „sich Selbsterlösen“ gleichgestellt gewesen, eine der schlimmsten Sünden, denn die Menschheit könne nur durch Jesus erlöst werden. Dafür sei er für uns am Kreuz gestorben. Schließlich, erklärte mein Vater, sei man auf der Welt, um zu leiden, um später das Paradies zu verdienen und somit den Aufenthalt im Fegefeuer ein wenig zu verkürzen. In diesem Klima wurde ich immer ängstlicher und fühlte mich grundlos an allem und jedem schuldig.

          Ich war sehr kurzsichtig und überzeugt, dass meine Brille mich hässlich machte. Meine Brillengläser waren sehr dick und hatten eine bläuliche Farbe. Das Gestell hatte ich nicht gewählt. Es wurde per Post von einer Tante, einer Optikerin aus Honfleur, gesandt. Daher trug ich die Brille so wenig wie möglich. Meine Eltern gaben uns Kindern wenige und ärmliche Kleider. Das gehörte zum Erziehungsstil, denn nur durch Knappheit lerne ein Kind, seine Eltern zu respektieren. Meine Mutter erklärte, ein Kind dürfe es nicht zu schön haben, sonst würde es im Erwachsenenalter auf seine Eltern keine Rücksicht nehmen. Daher habe ich große Minderwertigkeitskomplexe entwickelt und mich geschämt.

 

Abwertung und Kontrolle

          Mein Wirtschaftsabitur war meiner Familie nicht hochwertig genug. Dies galt auch für mein Studium, denn ich studierte weder Medizin noch wollte ich Ingenieurin oder Rechtsanwältin werden. Daher wurde ich als nicht besonders intelligent eingestuft.

          Später, als ich in Paris berufstätig war und mich weniger zu Hause in Orléans blicken ließ, wurde ich intensiver kontrolliert. Meine Mutter rief sehr oft an: entweder sehr spät abends oder sehr früh morgens. Sie wollte wissen, ob ich zu Hause übernachten würde oder bei einem Mann. Manchmal erreichte sie mich am Telefon nicht. Sie rief in der Firma an und meinte, dass ich in Paris keine Wohnung, sondern ein „Bordell“ hätte. Sie sagte, dass sie so eine Tochter nicht verdient hätte, nach all ihrem Einsatz für mich. Das traf mich immer sehr und ich fühlte mich grundlos schuldig.

 

Machtmissbrauch

          Im Katechismus lernte ich die absolut wichtige Rolle der Taufpaten, die Unfehlbarkeit der Eltern und die große Macht des Teufels. Ich war sehr ängstlich und wollte nichts machen, was zur Sünde führt. Ich fürchtete seine Macht. Schon ein Glas Marmelade beim Frühstück zu lange anzuschauen, galt als Gier, was zu den Sünden gehörte.

           Einmal passierte etwas Schreckliches. Wie jedes Jahr am Nikolaustag bekam mein Vater von seiner Firma eine Kiste pro Kind, gefüllt mit Obst und Süßigkeiten, die mein Vater aber nicht an die Kinder verteilte, sondern im Keller lagerte. Im Nachhinein wurde mir klar, dass meine Eltern sich die Leckereien abends, als die Kinder im Bett waren, gönnten. An irgendeinem Abend lag eine angefangene Tüte Karamellbonbons auf der Kommode des Wohnzimmers. Ich sah sie und hatte große Lust, ein Stück davon zu probieren. Ich hielt mich zurück, denn ich wusste, dass der Genuss als Sünde angesehen wurde. An einem Sonntagvormittag konnte ich es nicht mehr aushalten und nahm ein Stück. Kaum war das Karamellbonbon in meinem Mund, wurde mir bewusst, dass ich gestohlen hatte. Noch schlimmer wurde es, als mir klar wurde, dass es Sonntag war, dass der Gottesdienst bald stattfinden würde und dass ich durch dieses Karamellbonbon im Mund nicht mehr zur Eucharistie gehen dürfte. Denn man musste immer eine Zeit von drei Stunden zwischen Frühstück und Eucharistie einhalten. Das konnte ich auf keinem Fall den Eltern erzählen, denn ich wäre bestraft worden. Ich hatte schon überlegt, nicht zur Eucharistie zu gehen, aber diese Entscheidung wäre noch schlechter gewesen, denn nicht nur der Pfarrer hätte das bemerkt, sondern auch die Eltern und wenn man nicht zur Eucharistie geht, bedeutet dies, dass man gesündigt hat. Also ging ich doch zur Eucharistie. Ich konnte nicht mehr schlafen und hatte große Angst zu sterben und für immer in die Hölle zu kommen.

          Einige Tage später fuhr meine Mutter uns zur Schule. Sie war ein wenig knapp mit der Zeit und fuhr daher etwas zügiger, so dass ich einen Unfall fürchtete. Vor lauter Angst erzählte ich im Auto, dass ich ein Karamellbonbon gelutscht hätte. Meine Mutter erwiderte, sie werde mit dem Pfarrer vereinbaren, dass ich gleich nach der Schule beichten würde, was denn auch geschah. Der Pfarrer hörte die Beichte kommentarlos an, die Mutter sprach nicht mehr über diesen Vorfall. Trotz der Beichte fühlte ich mich weiterhin schuldig.

Die Zuflucht zu Gott

           Meine Familie setzte alles daran, mir die letzte Zuflucht zu einem liebenden Gott zu versperren. Glücklicherweise klappte es nicht, auch wenn ich große Phasen des Zweifels hatte. Der unerschütterliche Glaube meiner Großmutter setzte sich letztendlich bei mir durch und ich spürte immer diese große Sehnsucht nach Gott in mir, fand ihn aber in der Kirche meiner Eltern nicht. Ich besuchte andere Kirchen in der Stadt, um endlich Gott zu finden. Manchmal hatte ich das Gefühl, ihn ein wenig gefunden zu haben, vor allem wenn schöne Lieder mit Gitarrenbegleitung gesungen wurden.

 

Die erste Liebe

          Nach dem Abitur arbeitete ich in einem Ferienlager und lernte einen jungen Mann kennen, in den ich mich verliebte. Angeblich nahm meine Mutter Kontakt mit dem Leiter des Ferienlagers auf (einem katholischen Pfarrer). Dieser habe ihr berichtet, der junge Mann habe kurz vor der Hochzeit seine Braut verlassen und dies würde er sicher auch mit mir machen. Es war die Hölle. Die permanenten Intrigen meiner Familie wurden dem jungen Mann zu viel und er verließ mich. Auch dieser „Fall“ ist bis heute nicht aufgeklärt. Es wird wohl eine erfundene Geschichte sein, wie viele andere auch. Auffallend ist, dass Kirche und Gott immer wieder für Intrigen meiner Familie verwendet wurden.

 

Verleugnung

          Es kam die Zeit, in der meine Schwester sich in einen jungen Mann verliebte, der mich kannte. Wenn er zu Besuch kam, wurde er zudringlich. Einmal bekam meine Mutter das mit. Sie fragte, was das solle. Der Freund meiner Schwester Florence antwortete: „Nichts, nichts, das ist nur ein Spiel“. Am Abend, als er weg war, schimpfte meine Mutter und sagte mir, dass ich daran schuld sei, denn ich würde alle Jungen anmachen und sollte dies unterlassen. Ich versuchte, mich zu rechtfertigen, aber sie wollte das nicht hören. Ich hatte keine Chance.

            Jahre später, als ich in Paris lebte, besuchte mich mein Schwager Dominique. Er versuchte mich zu zwingen, mit ihm zu schlafen. Ich wehrte mich erfolgreich. Mit aller Mühe konnte ich ihn zum Bahnhof bringen und er erreichte gerade noch den letzten Zug nach Orléans! Lange stand ich unter Schock. Später erzählte ich dies meiner Schwester und meinen Eltern. Florence meinte, dass dies nicht sein könne und beschimpfte mich. Die Eltern gaben mir die Schuld und sagten meiner Schwester, dass sie auf mich aufpassen solle, damit ich ihr den Ehemann nicht wegnehme. Bei Familienfeiern versuchte Dominique weiterhin, mich anzufassen und zu küssen. Bisher war ich nicht in der Lage, ihn direkt darauf anzusprechen.

 

Zwistigkeiten und Intrigen

            Meine Verwandtschaft war sehr uneins untereinander. Meine Mutter mochte die Verwandtschaft von väterlicher Seite gar nicht und sagte es auch oft.

           Es gab immer wieder Konflikte und die Verwandtschaft meines Vaters wurde gemieden. Ich mochte fast alle Verwandten, durfte es aber nicht zeigen und verstand das nicht.

           Häufig hatte meine Mutter Streit mit ihrer Schwester, der Tante, die ich gernhatte. Das war schlimm für mich. Nachdem meine Mutter angeblich sehr negative Informationen über meinen deutschen Freund erhalten hatte und nicht verraten wollte, woher sie die Informationen hatte, sagte ich ihr, dass ich nicht verstehen könne, dass sie bereit wäre, ihre Tochter zu verlieren, dadurch, dass sie die Quelle der Information verschwieg. Sie behauptete, dass diese Informationen von der Tante stammen würden. Sie habe die Tante decken wollen, weil sie es geschworen hätte. Natürlich bestritt dies die Tante vehement. Ich wusste nicht, wem ich glauben sollte. Dies gehört zu den vielen Themen, die nie geklärt wurden.

           Kaum verheiratet und in Deutschland angekommen, gab es eine neue Beschuldigung gegen mich, die jeder Grundlage entbehrte. Dasselbe Muster wiederholte sich. Meine Mutter behauptete, meine Tante hätte mich beschuldigt, das Besteck meiner Großmutter gestohlen zu haben. Meine Tante behauptete, diese Geschichte sei eine Erfindung meiner Mutter. Mein älterer Bruder Remi stellte sich auf die Seite meiner Mutter und forderte mich auf, das Besteck zurückzugeben. Bis heute weiß ich nicht, wo das Besteck geblieben ist und wer von den drei Personen diese Intrige inszeniert hat. Wahrscheinlich werde ich es auch nie erfahren.

          Die Streitigkeiten zwischen meiner Mutter und meiner Tante nahmen an Heftigkeit zu. Ich wurde immer miteinbezogen, obwohl ich nichts mit dieser Beziehung zu tun hatte und nur Kanonenfutter für Mutter und Tante war. Diese Rolle wollen sie mir noch heute geben. Obwohl meine Mutter und meine Tante sich nicht leiden können, pflegen sie Kontakte und sind weiterhin gemeinsam sehr erfinderisch, natürlich auf meine Kosten. Dies hat dazu geführt, dass es keinen Kontakt mehr mit meiner Herkunftsfamilie gibt.

 

Positives nicht nur aus dem Ausland

          Mit elf Jahren entschied ich mich, am Chor des Gymnasiums teilzunehmen. Diese Zeit im Chor war ein Schlüsselerlebnis für mein Leben. Ich mochte die Musik sehr. Zuhause hörte ich jedes Wochenende „klassische Musik“, weil mein Vater beim Lesen seiner Zeitung („Le Figaro“) diese Musik hörte. So entwickelte ich eine Vorliebe zum Beispiel für Schubert, dessen Stück „Winterreise“ ein einzigartiger Genuss war. Ich bewunderte die deutsche Sprache und meinte, bei keiner anderen Sprache könne das Herz so mitempfinden. In solchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass meine undefinierte Sehnsucht endlich gestillt war. Der Chor war sehr aktiv und veranstaltete einmal pro Jahr eine Singreise ins Ausland. Ich war froh, in diesem Chor zu singen und mit nach England fahren zu dürfen. Der Bus fuhr nach York, wo jeder Schüler in einer englischen Familie untergebracht wurde. Ich wohnte bei einer sehr armen Bergarbeiterfamilie. Diese Leute waren sehr liebevoll und interessierten sich für ihren Gast. Das konnte ich gar nicht fassen! Jeden Abend fragten sie, ob alles in Ordnung sei. Dasselbe morgens nach dem Aufstehen. Sie hatten sogar einen Hund. An einem Morgen wachte ich mit dem Gefühl auf, nass zu sein und hatte mich nicht getäuscht: der Hund stand neben meinem Bett und hatte mich ordentlich abgeschleckt. Der Hund schaute mich mit solch treuen und lieben Augen an, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte.

           Ein Jahr später fuhr der Chor nach Mainz. Der französische Präsident Pompidou sollte den deutschen Kanzler Willy Brandt am Rhein treffen und der Chor nach der Landung des Hubschraubers einige ausgewählte Stücke singen. Wegen der Fahrt nach Deutschland gab es Probleme in der Familie. Ein Familienrat wurde einberufen. Glücklicherweise fiel die Entscheidung positiv aus. Schließlich wäre es eine gute Tat, die französische Kultur den „Barbaren“ nahezubringen. Es wurde viel über die „Deutschen“ diskutiert. Man erklärte mir, wie falsch die Deutschen doch seien. Vordergründig wären sie freundlich, dies wäre aber ein Trick, um die Leute reinzulegen. Einem Deutschen dürfe man nie trauen. Ich bekam Angst, fuhr aber trotzdem mit dem Chor nach Deutschland und wurde bei einer deutschen Familie unterbracht. Und auch da machte ich eine wunderbare Erfahrung. Die deutsche Familie war sehr herzlich und nett, ich aber sehr vorsichtig. Trotz großer Mühe der deutschen Familie traute ich mich nicht zu essen. Vielleicht hatten sie mein Essen vergiftet? Das Thema „Gift“ war sowieso ein Lieblingsthema in der Familie. Meine Mutter erzählte liebend gern Geschichten über Giftmorde, was mich in Angst und Schrecken versetzte. Weil ich auch Gift in den Getränken fürchtete, trank ich öfters heimlich Wasser aus dem Wasserhahn im Badezimmer.

 

 

 

 

 

Juli 1971: Pompidou und Willy Brandt treffen sich in Mainz. Pompidou grüßt den Chor.

          Ein Jahr später verbrachte ich vier Wochen in London. Auch da ging es mir sehr gut. Die englische Familie war sehr aufmerksam und zuvorkommend. Der englische Gastgeber muss wohl gemerkt haben, dass ich Kummer hatte. Ich war sehr schüchtern und trug immer dieselben Kleider, die sowieso nicht modisch waren. Er führte einige Gespräche mit mir und ermutigte mich, wo er nur konnte. Später schrieb er einen Brief an meine Eltern. Darin stand der Satz: „B… is a present for her family“. Ich war sehr berührt, jedoch traurig, weil meine Eltern ihm keine Beachtung schenkten. Zudem betrübte mich, dass sie nie ein Konzert meines Chores besuchten.

          Ich hatte sehr schöne Erfahrungen im Ausland gesammelt, die für mein Leben wichtig wurden und mir insgeheim gewünscht, dass ich später einmal einen Engländer oder einen Deutschen heiraten würde.

1974: in London bei Bob und Margarett

          Glücklicherweise hatte ich auch Kontakte mit einer Bauernfamilie in Burgund. Diese waren arm, zeigten aber viel Herz und Liebe, waren hilfsbereit und kümmerten sich sehr um mich. Bei ihnen fand ich die Liebe, nach der ich mich immer gesehnt hatte.



Glück im Ausland und Unglück daheim

           Als ich mit einigen Freundinnen in einem Pariser Café saß, lernten wir eine Gruppe Studenten aus Deutschland kennen. Wir unterhielten uns gut und ich spürte, dass in der Gruppe ein bestimmter junger Mann mir nicht gleichgültig war. Im Lauf des Abends verstärkte sich unsere Sympathie für einander und ein Verhältnis bahnte sich an. Darüber war ich glücklich. Wie aber konnte ich das meiner Familie beibringen? Als meine Eltern erfuhren, dass ich in einen Deutschen verliebt war, versuchten sie mit allen Mitteln, diese Beziehung zu sabotieren. Meine Mutter sagte mir, dass ich die Verbindung sofort abbrechen müsse. Damit war ich überhaupt nicht einverstanden. Nachdem mein Freund mich an Weihnachten besucht hatte, behauptete sie, er sei untreu und sexgierig, hätte keine Bildung und schon gar kein Abitur. Er solle aus einer Arbeiterschicht stammen und würde damit protzen, dass alle seine Freundinnen die Pille nehmen würden. Dies machte mich sprachlos. Ich wollte unbedingt wissen, woher ihre Informationen stammten. Darauf begann wieder das bekannte Spiel, sie dürfe den Namen des Informanten nicht preisgeben. Ich war zutiefst schockiert, aber es gelang mir doch, meinen Freund telefonisch zu erreichen. Er war bestürzt. Wie konnte er beweisen, dass er mir treu war? Das war mir das Wichtigste. Ich besuchte ihn in Karlsruhe. Schon bei der Fahrt merkte ich, dass sich eine unangenehme Entzündung anbahnte, die sehr lästig wurde. Und so war es fast immer. Wenn ich meinen Freund traf, kam es gleich zu irgendwelchen körperlichen Beschwerden. Es war kein Zufall, denn das Gefühl, etwas Sündiges zu tun, zog eine Strafe nach sich.

          Dennoch vertiefte sich unser Verhältnis und wir entschieden uns zu heiraten. Ich hätte meinen Freund so gern meiner Großmutter vorgestellt. Obwohl sie zwei Brüder im Ersten Weltkrieg und ihren Sohn im Zweiten Weltkrieg verloren hatte, war sie ohne Groll gegen den deutschen Freund ihrer Enkelin. „Ein Mann ist ein Mann“, sagte sie, „egal aus welchem Land er kommt“. Meine Großmutter erklärte mir, dass ein Mann einige Tugenden besitzen müsste, wenn es um eine Heirat gehe. Sie meinte, dass ein Mann an Gott glauben müsse, tüchtig und gesund sein solle und gute Manieren haben müsse. Ich war der Auffassung, dass dies auf meinen Freund zutreffe und sagte dies meiner Großmutter. Damit stand aus ihrer Sicht der Heirat nichts mehr im Weg. Sie sagte: „Weißt Du, ich vergesse nicht, was im Krieg passiert ist, aber ich verzeihe.“

           1980 heirateten wir, obwohl meine Eltern ihre Einstellung nicht geändert hatten. Wir mussten alles selbst organisieren, sogar mein Hochzeitskleid nähte ich selber. Mein Mann und ich wollten es beiden Familien recht machen, deshalb fand die standesamtliche Hochzeit in Deutschland und die kirchliche in Paris statt. Beide Feiern waren sehr traurig. Eine richtige Sabotage der beiden Herkunftsfamilien war deutlich spürbar, denn auch die Familie meines Mannes stand der Eheschließung nicht positiv gegenüber. Für sie gehörte meine Familie zu einer höheren, wohlhabenden Schicht, mit der sie nicht mithalten konnte. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Schwiegerfamilie mich wohlwollend aufnehmen würde und war enttäuscht, dass dem nicht so war. Mein Ehemann hatte erfolgreich ein Universitätsstudium abgeschlossen und seine Familie kam damit nicht zurecht, was die gefühlte Distanz noch größer machte. Ich spürte viele körperliche Beschwerden. Die Ärzte dachten, dass ich „Heimweh“ hatte. Gerade das kannte ich nicht. Ich hatte noch nie ein Heim gespürt. Aber Weh hatte ich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1980: Unsere kirchliche Hochzeit

Unsere Glückbringer

           1983 kam unser erstes Kind in Stuttgart auf die Welt. Wir waren überglücklich. Die Geburt verlief ohne Probleme. Unsere Tochter kam an einem Sonntag um acht Uhr bei Glockengeläut zur Welt. Nach einem Tag kam es zu Komplikationen. Ich musste vier Wochen im Krankenhaus bleiben und erhielt Besuch nur von meinem Ehemann, der aus beruflichen Gründen leider keinen Urlaub machen konnte. Die Schwiegerfamilie und die eigene Familie zeigten sich nicht. Die Fronten verschärften sich. Die Schwiegerfamilie wollte keinen Kontakt zu uns. Ein Jahr zuvor hatten sie ihren Sohn enterbt, ohne mit ihm ein Wort darüber gesprochen zu haben. Meine Familie zeigte kein großes Interesse, da das Kind trotz der zwei Staatsangehörigkeiten „deutsch“ war.

           1985 kam unser zweites Kind zur Welt, ein Junge. Die Geburt verlief gut und ich konnte nach fünf Tagen zurück in unsere Wohnung nach Ludwigsburg.  

           Meine Eltern konnten sich nicht an ihren deutsch-französischen Enkelkindern erfreuen. Ich bekam immer Vorwürfe über meinen Erziehungsstil und meine Art zu leben. Sie kreideten mir besonders an, dass ich mich in den ersten Jahren nur um meine Kinder kümmerte und nicht berufstätig war. Deswegen fuhren wir kaum noch nach Orléans. Unsere Kinder konnten zu der französischen Oma und dem französischen Opa keine Bindung spüren. Leider galt dasselbe auch für die deutschen Großeltern. Bei beiden Familien waren die gegenseitigen Vorurteile stärker als das Interesse an ihren Kindern und Enkeln.

          Ich war überglücklich, zwei Kinder zu haben und sehr bemüht, alles richtig zu machen sowie unseren Kindern genug Liebe zu geben.

Ich war manchmal unsicher und wollte keine Fehler machen. Für mich war das Leben trotz allem schwer. Diese Schwere haben unsere Kinder bestimmt auch gespürt, was für mich leidvoll ist. Die Spannung zwischen den beiden Herkunftsfamilien war enorm und deshalb habe ich unsere Kinder nicht so genießen können, wie ich es gern getan hätte. Das tut mir heute noch sehr weh.

           Etwas Positives geschah. Wir dachten daran, nicht mehr in Miete zu wohnen, sondern ein Haus zu kaufen bzw. zu bauen. Wir hatten nur äußerst wenig Eigenkapital zur Verfügung. Glücklicherweise war mein Mann Beamter, was den Banken ein wenig Sicherheit gab. Nach dem Hausbau zogen wir in unser neues Heim. Für mich war es das erste Mal, dass ich ein Zuhause spürte.

 

 

Beruflicher Wiedereinstieg

           Als ich meinen „deutschen“ Freund heiratete und nach Stuttgart zog, wollte ich sofort arbeiten, um meine deutschen Sprachkenntnisse zu verbessern. Dies ist der Grund weshalb ich eine weniger anspruchsvolle Stelle in Stuttgart annahm. Ich wurde schwanger und die Industriewelt spielte lange Zeit keine Rolle mehr für mich.

           Unsere Kinder wurden größer und ich begann, wieder beruflich tätig zu sein. Ich unterrichtete Wirtschaftsfranzösisch, zuerst zwei Unterrichtsstunden pro Woche, bis ich Jahre später vierzehn Stunden pro Woche erreichte. Auch war ich Prüferin der Industrie- und Handelskammer von Paris für die Prüfungen, die in Stuttgart abgelegt wurden. Irgendwann dachte ich, ich könnte wieder halbtags arbeiten und fand eine Stelle im internationalen Kunsthandel. Bei den Kunden war ich beliebt und erfolgreich.

 

Eine besondere Beziehung entstand zu dem Modeschöpfer Pierre Cardin und seinem Manager.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Cardin hatte sogar darauf bestanden, dass ich bei der Lieferung seiner Bestellungen in seinem Sprudelpalast in Cannes dabei war. Der Umgang mit Menschen war mir immer sehr wichtig. Mich bereicherte sehr, dass viele Kunden über das erzählten, was sie im Leben bewegte.

            An meinem nächsten Arbeitsplatz war ich nicht so glücklich. Parallel zu meiner Arbeit begann ich mit einer Ausbildung zur Heilpraktikerin. Ich träumte von dem Tag, an dem ich meine Kündigung schreiben würde, die Prüfung hinter mir hätte und in eigenen Räumen arbeiten könnte. Es war eine schwere Zeit. Ich lernte Tag und Nacht und übte in Lerngruppen mit anderen Prüflingen. Obwohl die Durchfallquote bei 85 % lag, bestand ich die Prüfung gleich beim ersten Mal.

           Inzwischen führe ich eine eigene Praxis. Das Unterrichten habe ich nicht ganz aufgegeben, denn es ist eine Möglichkeit für mich, meine Muttersprache mit anderen zu teilen. Ab und zu trainiere ich Manager und Ingenieure großer Automobilkonzerne in der französischen Sprache. Mit meinen Kindern gibt es leider kaum Gelegenheiten, Französisch zu sprechen und meinem Mann ist die Freunde an Französisch lernen längst vergangen. Interessanterweise ist die deutsche Sprache eindeutig meine Gefühlsprache.

           Eine dritte Beschäftigung rundet das Ganze ab. Ich bin auch Stadtführerin und verkörpere eine Sagengestalt, die Glückbringerin ist. All diese Tätigkeiten haben einen gemeinsamen Nenner: das Miteinander sein und miteinander wachsen. Die Kunst spielt eine immer größere Rolle in meinem Leben: ob malen, schnitzen, töpfern oder filzen. Auch aus der Natur schöpfe ich Ruhe, Kraft und Zuversicht. Das teile ich mit meinem Ehemann.

 

Erkenntnisse

          Im Laufe der Jahre verschlechterte sich die Situation in den beiden Herkunftsfamilien drastisch. Weitere Verleugnungen, Ungerechtigkeiten, viel Lästereien und Intrigen gegen uns. Noch schlimmer: die von uns neu gegründete Familie existiert für die zwei Herkunftsfamilien überhaupt nicht, sie haben keinen Wunsch nach Kontakten in irgendeiner Form. Aus einer gefühlten Distanz ist eine vollkommene Ablehnung geworden. Für mich bedeutet es viele Verluste: zuerst meine zwei Geschwister, dann meine Bindungen zum Herkunftsland. Für die Franzosen bin ich keine „richtige“ Französin mehr und fühle mich dort fast wie eine Touristin, die französisch kann. Ganz „deutsch“ bin ich nicht, auch wenn ich mich 2004 einbürgern ließ, was mir sehr am Herzen lag. Ich verlor meine Herkunftsfamilie  sowie meine Schwiegerfamilie. Zuletzt stellte sich vor einigen Jahren durch eine Operation heraus, dass ich einen ungeborenen Zwilling fast fünfzig Jahre in mir getragen habe. Dies empfand ich als neuerlichen Verlust einer Schwester, die mich bis dahin begleitet hatte, ohne dass ich dies wusste.

          Für meinen Mann und mich ist es zur Aufgabe geworden, endlich zu begreifen, dass es Dinge gibt, die man nicht ändern kann und die man akzeptieren muss, ohne Groll und in Liebe, denn jeder kann nur derjenige sein, der er ist, mit all seinen Sorgen und Nöten. Unsere Ehe hat die Schwierigkeiten wohl überstanden und wir halten zusammen. Allen Hindernissen und Schwierigkeiten zum Trotz haben wir uns den Sinn auch für das Schöne im Leben bewahrt.

          Immer wieder komme ich auf das Sinnbild bestimmter Kuchen zurück, deren Namensgebung und Form außergewöhnlich sind. Der „Granatsplitter“ darf nicht fehlen. Sein Name ist nach dem ersten Weltkrieg entstanden: ein Süßgebäck, welches aus den anfallenden Abschnitten von Torten- bzw. Biskuitböden hergestellt wird. Diese Reste werden mit Buttercreme, Kakao und Rum vermengt, auf einen Mürbegebäck etwa 10 cm hoch aufgeschichtet und dann mit Kuvertüre überzogen. Im übertragenen Sinne handelt es sich um die Fähigkeit und den Willen, nicht nur Schwierigkeiten zu überwinden, sondern auch stärker dabei herauszukommen. Diese Haltung wird Resilienz genannt. Leider vergessen wir oft, dass wir viel mehr in der Hand haben, als wir ahnen und dass wir nicht immer Opfer bleiben müssen. Jeder Mensch begegnet irgendwann irgendjemandem in seinem Leben, der ihn auf seinem Weg unterstützt. Manchmal reicht eine kurze, einmalige Begegnung. Manchmal wiederholen sich diese Begegnungen. In Zeiten der Verzweiflung ist es wichtig, sich an diese Personen zu erinnern.


 

21.08.2019

B. E., Lektorat: Regina Boger