Trotz Elend und Leid: Ein reiches und erfülltes Leben
Die Lebensgeschichte von Herrn Ottomar Schüler

 

1 Umsiedlung:
Von Bessarabien in das von den Deutschen besetzte Polen

           Am 1. April 1934 wurde ich in Seimeny in Bessarabien als zweites Kind meiner Eltern geboren. Schwester Hilde war zwei Jahre älter, meine Schwester Lilly zwei Jahre jünger als ich. Mein Vater Waldemar Schüler, der auch russisch sprach, war Landwirt und Bürgermeister des Ortes. Meine Mutter Eleonore Mathilde, geb. Mayer war Hausfrau.  Das Dorf Seimeny gehörte damals zu Rumänien, war 1867 gegründet worden und hatte etwa 600 Einwohner, die fast alle von Landwirtschaft und Weinbau lebten. Die Vorfahren meines Vaters und meiner Mutter waren schon in den Hungerjahren 1816/17 nach dem Aufruf der russischen Zaren Alexander aus der Gegend um Reutlingen und Calw nach Bessarabien eingewandert und siedelten zuerst in anderen damals entstandenen Ortschaften bis zur Gründung meines Heimatdorfes Seimeny, das auch der Geburtsort meiner Eltern war. Nach dem ersten Weltkrieg wurde Bessararabien  im  Friedensvertrag von Trianon Rumänien zugesprochen.

           Zu unserem Hof gehörten etwa 25 ha Land, auf dem vor allem Weizen, Gerste und Hafer angebaut wurden und natürlich auch Wein, denn der gedieh in diesem Klima besonders gut. Seimeny liegt am Liman, einem breiten Fluss, und der war für das Dorf lebenswichtig. Ich erinnere mich noch gut, dass die Bauern des Dorfes am Samstag oder auch sonntags ihr Vieh dorthin trieben, um es im Fluss zu säubern. Besonders die Pferde waren in der damaligen Zeit für einen Landwirt das wichtigste Kapital. Meine frühe Kindheit erlebte ich geborgen im Kreis der Familie und der großen Verwandtschaft und in der Idylle des dörflichen bäuerlichen Alltags.

Links: die Eltern von Ottomar Schüler. Rechts: der Bauernhof der Großeltern

Rechts oben: Familie Schüler. Ottomar auf dem Pferd, Vater passt auf.
Rechts Mitte: die große Verwandtschaft von Ottomar Schüler
Rechts unten: Ottomar Schüler auf dem Schoß des Lehrers


          Im Jahre 1940 – da war ich sechs Jahre alt – wollte die Sowjetunion Bessarabien von den Rumänen wieder zurück, was durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939, geschlossen kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges, ermöglicht wurde. Da die Bessarabiendeutschen im 19. Jahrhundert aus Deutschland ausgewandert waren, wollte Hitler diese wieder „Heim ins Reich“ führen. Die Sorge um die ungewisse Zukunft unter dem kommunistisch-stalinistischen Regime bewog dann über 93.000 Menschen, ihre schon zur Heimat gewordenen Ortschaften samt Hab und Gut zu verlassen.
           Die Mütter und Kinder wurden zuerst umgesiedelt und mit Schiffen auf der Donau Richtung Deutschland gebracht. Die Männer kamen später nach, da sie sich noch um die Abwicklung ihrer Höfe kümmern mussten. Da ich noch sehr jung war, erinnere ich mich nicht mehr an viele Einzelheiten. Lediglich eine Erinnerung ist mir noch von der Schifffahrt präsent: Wenn uns auf der

Donau ein Schiff entgegenkam, stürmten alle an Bord auf eine Seite, um das vorbeifahrende Schiff zu sehen. Dann bekam unser Schiff bedenklich

            Viele Familien aus Seimeny wurden im Dorf Buchen und der Umgebung im Kreis Kempen, angesiedelt, auf Bauernhöfen, die in ihrer Größe denen der in Bessarabien zurückgelassenen entsprachen. So erhielten wir wieder einen Hof mit ca. 25 ha Fläche, der der Familie Czedan gehörte, die nach ihrer Vertreibung bei einer Schwägerin unterkamen. Mein Vater erlaubte dem Ehepaar Czedan, dass sie weiterhin auf dem Hof mitarbeiten konnten, was natürlich verboten war. Vater wurde erst im Jahre 1942 zum Militär eingezogen, denn Landwirte wurden ja für die Versorgung der Bevölkerung und der kämpfenden Truppen gebraucht. Dafür musste er nach Litzmanstadt (heute Lodz), kam zur Waffen-SS und war bei den Fliegern als Bodenpersonal eingesetzt. Nach Kriegsende kam er in amerikanische Gefangenschaft. Hier im Wartheland besuchte ich von 1940 bis 1945 die deutsche Schule. Nach vier Jahren Grundschule konnte ich wegen meiner guten Leistungen direkt auf die staatliche Oberschule in der Kreisstadt Kempen wechseln.

          Das heißt, mit zehn Jahren war ich damals schon von meiner Familie, wenn auch nur für acht oder 14 Tage, getrennt und im Internat untergebracht und habe die Selbständigkeit früh lernen müssen. Knapp ein Jahr genoss ich die schöne Schulzeit, der Lehrstoff war für mich etwas ganz Besonderes, denn es gab Englischunterricht, und das war für uns Kinder sehr interessant. Mit zehn Jahren kam ich auch als Pimpf in die örtliche Hitlerjugend, meine ältere Schwester war beim BDM.

Schlagseite und der Kapitän musste eine Durchsage machen, damit sich alle wieder gleichmäßig an Deck verteilten. Für die meisten an Bord war dies die
erste Fahrt auf einem größeren Schiff und deshalb war die Neugierde groß. Nach der Ankunft in Österreich wurden wir in einem Durchgangslager in der Tschechei untergebracht, Vater kam nach einigen Wochen nach.

Der Treck der bessarabiendeutschen Bevölkerung in Richtung Deutschland

 



2 Das Scheitern der Flucht vor der russischen Armee:
Von Polen nach Kasachstan

           Eines Abends kam die Schulleiterin und sagte: „Kinder, ihr müsst so schnell wie möglich nach Hause fahren, eure Familie wartet auf euch.“ Wir wussten natürlich nicht, worum es ging, es musste ja alles schnell gehen. Zu Hause, spät am Abend angekommen, da der Zug schon etwa vier bis fünf Stunden Verspätung hatte, saßen Mama und meine zwei Schwestern im verdunkelten Zimmer, geschützt vor Fliegerangriffen, die Koffer schon gepackt, nur ich fehlte noch. Da sich die russische Armee unaufhaltsam näherte, war klar, dass wir fliehen mussten. Die im Dorf angesiedelten Deutschen wurden auf zwei Trecks verteilt, meine Familie und ich waren im zweiten Treck, der einige Stunden später sich auf den Weg nach Westen machte. Der Flüchtlingstreck, der vor uns losgezogen war, erreichte noch die Oder und konnte noch den russischen Truppen entkommen, unser Treck aber wurden von den russischen Truppen eingeholt und die Menschen sollten wieder zurück in die Dörfer geschickt werden, aus denen sie geflüchtet waren. Doch zuerst mussten wir uns alle auf der Straße in einer Reihe aufstellen, mit dem Gesicht zum Straßengraben. Mutter flüsterte mir zu: „Dreh dich nicht um, wir werden hier wahrscheinlich erschossen.“ Jetzt wurden vor allem junge Frauen und. Mädchen auf Lastwagen geladen und weggebracht. Die Soldaten liefen hin und her, wir wurden dann in einen nahegelegenen Luftschutzkeller gebracht, und als wir wieder herauskamen, war unser Fuhrwerk verschwunden. Dann musste ich mitansehen, wie eine uns gut bekannte junge Frau aus unserem Dorf, die offensichtlich schon vergewaltigt worden war, von einem Soldaten erschossen wurde und im Graben lag. Mutter bat mich immer wieder, da nicht hinzuschauen. Was sich hier unmittelbar nach der Einnahme durch die russische Armee abgespielt hat, war grauenhaft. Es wurden nicht

nur junge Frauen, sondern auch noch halbe Kinder vergewaltigt, Menschen wurden ihre Kleidung entrissen sowie Uhren und Schmuck weggenommen oder sie wurden auch erbarmungslos ermordet.

           Wir landeten wieder auf dem Hof, den wir jahrelang bewirtschaftet hatten, und die Frau Czedan hat uns in einem kleinen Zimmer im Haus versteckt, damit die marodierenden Soldaten oder die polnischen Jugendlichen uns nicht finden konnten. Sie stand öfters mit der Mistgabel vor der Tür, bereit uns zu verteidigen. Sie tat das, weil mein Vater sie und ihren Mann bei der Übernahme des Hofes menschlich behandelt hatte.

       Nach ein paar Wochen Aufenthalt auf dem Hof wurden wir in ein Sammellager bei Krotno geschickt. Da die Russen nicht wussten, was sie mit den Bessarabiendeutschen anfangen sollten, hatte die russische Besatzungsmacht beschlossen, die Verbliebenen mit dem großen Transport aller deutschstämmigen Menschen nach Kasachstan zu verschleppen, das damals zur UdSSR gehörte. Nach etwa zwei bis drei Wochen wurde ein Transport mit deutschen Zivilisten, Frauen und Kindern zusammengestellt. Wir wurden in Viehwaggons eingesperrt und in Richtung Kasachstan abtransportiert.
           Nach wochenlanger Irrfahrt quer durch Russland kamen wir halb verhungert und mittellos im Juni 1945 dort an. Man verteilte uns in Kolchosen und Sowchosen, d.h. dorthin, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden. Da wir

während der Zugfahrt keinerlei Verpflegung bekommen hatten, mussten wir hungrig unsere wenigen Wertgegenstände, die wir mitnehmen konnten, auf den Bahnhöfen gegen Nahrungsmittel wie Brot oder Kartoffeln eintauschen. Als wir schließlich am Zielort ankamen, hatten wir nichts mehr. Lediglich meine Mutter besaß noch den großen warmen Wintermantel meines Vaters, den sie Tag und Nacht nie ausgezogen hatte und der uns später vor dem Erfrieren rettete, denn er diente uns in den folgenden Jahren in der bitteren Kälte als wärmende Decke. 



3 Überlebenskampf: Die ersten Jahre in Kasachstan

           Für uns begann in der Kolchose „Stalina“ die Hölle auf Erden, denn dort wurden wir wie Gefangene behandelt. Als wir mit ca. 150 Flüchtlingen am Bahnhof der Kreisstadt Karaganda angekommen waren, wurden wir, ca. 80 Personen, darunter etwa 25 aus unserer alten Heimat Seimeny vom Kolchosen-Natschalnik (Vorsteher) im Empfang genommen und dann ging es mit einer Ochsenfuhre in das abgelegene Dorf „ Stalina“. Später nach Stalins Tod hieß die Kolchose „Lenina“. Es war einer der riesigen Agrarbetriebe mit 20.000 Hektar Land, wie sie nach dem Sieg der Sowjets überall im Lande entstanden waren. Dort angekommen, wurde das Vieh, also Ochsen, Kühe und Pferde, aus dem Stall ins Freie getrieben und aus Holzpritschen Schlafgelegenheiten geschaffen. Wir nächtigten auf den kahlen Brettern, nicht einmal Stroh als Unterlage gab es. Wir schliefen wie die Heringe, Mensch an Menschen zusammengepresst. Nach kurzer Zeit hatten sich Wanzen, Flöhe, Läuse und anderes Ungeziefer verbreitet. Es war eine höllische Plage für uns, wir wurden fast aufgefressen.

           Da keiner der Verschleppten die russische Sprache beherrschte, war das Überleben nochmals so schwer. Aus diesem Grunde besuchte die jüngste Schwester die russische Schule und ich lernte abends bei den Hausaufgaben fleißig mit und so konnte ich bald russisch sprechen und lesen. Mit elf Jahren musste ich schon den ganzen Tag arbeiten, meistens das Vieh hüten, barfuß, und dies auch bei morgendlicher Kälte. Denn da durch den Krieg und die Verschleppung nach Kasachstan alle persönlichen Gegenstände verloren gegangen waren, hatte nicht nur ich, sondern auch meine beiden Schwestern weder etwas zum Anziehen noch genügend zu essen.
           Zum Glück gab es in der Kolchose große Gemüsefelder von ca. 500 – 600 ha, dort arbeiteten auch viele von unseren Erwachsenen. Dort „versorgten“ wir uns auch – d.h. wir klauten, was möglich war, man durfte sich natürlich nicht erwischen lassen. Aus der Großküche der Kolchose gab es dünne Suppen mit etwas Kraut, Kartoffeln und etwas Brot. Aber eigentlich waren wir immer hungrig.

           Im Herbst 1945 entstand ein Problem für alle bisher im Stall untergebrachten Verschleppten: Wohin mit den Menschen? Denn das Vieh musste ja über den Winter wieder in den Stall und die Leitung der Kolchose hat uns kurzerhand aus dieser Unterkunft vertrieben. Einige von uns fanden bei den Einheimischen, es waren meistens Wolgadeutsche, Unterschlupf. Für den Rest, darunter war auch unsere Familie, fand man folgende Lösung: Es wurden Erdlöcher auf Russisch „Semljanka“ von ca. 25 bis 40 Quadratmeter
von ca. 25-40 Quadratmeter ausgehoben, die mit Weidenzweigen der Bäume

 vom Ufer des Flusses Nura abgedeckt wurden. Darauf kam dann Stroh und als letztes wurde eine ca. 20-25 cm dicke Erdschicht darüber geschüttet.
Der erste Winter war grauenhaft, es gab keine Fenster, kein Wasser, kein Brot, kein Tageslicht und zum größten Teil nichts zum Heizen. Aber durch die Tiefe des Erdlochs sowie die dicke Schneeschicht rundherum, war die Kälte innen erträglich. Lediglich die Kamine ragten aus der Schneeschicht hervor. Wenn der durch Schneeverwehungen verstopft war, wurde es für die Bewohner gefährlich, denn dann konnten sie ersticken. Deshalb kontrollierten wir uns gegenseitig, denn wenn der Schneefall vorbei war, ging jemand nach draußen und rief durch die anderen Kamine von oben: „Lebt ihr noch?“  Unter diesen Umständen wohnten wir ca. 2-3 Jahre.

 

          Zu Beginn dieser „Höllenzeit“ in den Wintern von 1945-47 war es so schlimm, dass viele Menschen durch Hunger und Erfrierungen gestorben sind. Meine Familie hat nur dadurch überlebt, weil meine ältere Schwester und ich im Winter bei minus 30-40 Grad Kälte auf den abgeernteten Feldern manchmal ein paar gefrorene Krautblätter gefunden hatten. Diese Blätter wurden im Wasser aufgebrüht, soweit etwas zum Heizen da war, wenn nicht, auch roh gegessen.
           Geheizt haben wir mit großen Unkrautstengeln, mit dem Holz von Hecken oder mit Kuhfladen.
           Im Frühjahr gingen wir dann auf die Kartoffelfelder, hier fanden wir vom Herbst des Vorjahres liegen gebliebene, erfrorene Kartoffeln. Aus den Resten einer Blechbüchse habe ich ein Reibeisen hergestellt, damit wir die Kartoffeln zerkleinern und als eine Art Frikadelle auf dem Feuer braten konnten. Im Sommer gab es dann alles, was wir auf den Feldern ergattern konnten, auch Brot gab es, aber nur in kleinen Rationen und nicht alle Tage. Am schlimmsten aber waren die Winter, denn bei minus 30-45 Grad hat sich außer Spatzen nichts draußen aufhalten können.
           Wir fühlten uns wie Gefangene, denn wir durften uns nur im Umkreis von 8 km frei bewegen; was darüber hinaus ging, bedurfte einer Sondergenehmigung von der Kommandantur. Monatlich mussten wir uns beim Kommandanten melden und wer unerlaubt den Umkreis überschritt, machte sich strafbar und musste sogar ein paar Tage ins Gefängnis.

Im Jahre 1949, also mit 14 Jahren machte ich meine erste Ausbildung: In einem ca. 10-12 km entfernten Dorf lernte ich etwa 6 Monate lang auf der Maschinen- Traktoren- Station den Umgang mit den Landmaschinen. Morgens besuchte ich die Schule, nachmittags musste ich Ersatzteile für die Landmaschinen reinigen. Anschließend arbeitete ich wieder in „unserer“ Kolchose mit den Traktoren auf den riesigen Feldern.



4 Heirat, Kinder und beruflicher Aufstieg

           Hier in der Kolchose habe ich auch meine Frau Swetlana kennengelernt. Swetlana wurde 1933 in Moskau geboren, sie war Deutsche wie ihre Vorfahren, die 1921 von Riga nach Moskau umgesiedelt waren. 1941 wurde Swetlana, sie war gerade in einem Jugendlager, dort von ihrer Mutter abgeholt und weil sie Deutsche waren, durften sie nach dem Beginn des Russlandfeldzugs nicht mehr nach Moskau zurück und so schickten die russischen Behörden Mutter und Tochter nach Kasachstan.

           Schon als Kinder haben Swetlana und ich nach der Feldarbeit miteinander gespielt, an eine spätere Heirat haben wir allerdings nicht gedacht. Aber bei der Hochzeit eines Kollegen hat es dann zwischen uns „gefunkt“, wie man heute sagen würde. Swetlana wurde schwanger und so haben wir dann am 16. November 1952 geheiratet. Statt eines Hochzeitsfestes kauften wir eine Kuh, denn „das Kind brauchte doch Milch“. Leider ist unser Erstgeborener mit viereinhalb Jahren im nahgelegenen Fluss Nura ertrunken. Auch dieses schlimme Unglück hat uns bis heute nicht losgelassen.

           Nach unserer Hochzeit wohnten wir mit meiner Mutter und einer weiteren Familie mit zwei Kindern gemeinsam in einem Raum eines Gebäudes für die Bediensteten der Kolchose. Als unsere Familie größer wurde, kauften wir ein Lehmhaus mit zwei Zimmern, Küche und Stall, denn drei unserer weiteren Kinder wurden ebenfalls in Kasachstan geboren: 1954 kamen Lydia, 1956 Lilly und 1958 Otto dort zur Welt.

Ottomar Schüler als junger Brigadist           und mit seiner Frau Svetlana

          Nach Stalins Tod 1953 wurden die Deutschen etwas besser behandelt und ab sofort durften wir uns frei bewegen. Man hat uns auch nicht mehr als „Fritzen“ und „Faschisten“ beschimpft und der Lebensstandard wurde etwas besser. Wir mussten uns auch nicht mehr monatlich bei der Kommandantur melden.  In den folgenden Jahren konnte ich mich beruflich weiter
entwickeln. Ich besuchte 1955 bis 1956 im ca. 75 km entfernten Tokarowka diMeisterschule für Landwirtschaft, Traktoren und Maschinen, die ich mit einem sehr guten Zeugnis als Meister für Traktoren und Landwirtschaft abschloss, denn ich war sehr ehrgeizig und habe Tag und Nacht gelernt. Dann leitete ich auf unserer Kolchose eine Brigade mit 15 Traktoren und 30 Fahrern – eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit. Auf 3.500 Hektar Fläche bauten wir Getreide an. Auch wenn wir nur 150 km vom Dorf entfernt arbeiteten, war ich wochenlang von der Familie entfernt. Eine Heimfahrt dauerte wegen der schlechten Straßenverhältnisse etwa zwei Tage.

Die Absolventen der Meisterschule für Landwirtschaft, Traktoren und Maschinen. Ottomar Schüler: untere Reihe, der Zweite von rechts

 

Ottomar Schülers Zeugnis aus dem Jahr 1956.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ottomar Schüler vor einer seiner großen  landwirtschaftlichen Maschinen

Da wir nun mehr „Freiheit“ hatten und inzwischen auch mein Vater, der in Hamburg lebte, über das Deutsche Rote Kreuz und die Familie Czedan aus Polen herausgefunden hatte, dass seine Familie in Kasachstan lebte, wurde alles daran gesetzt, damit wir nach Deutschland zurückkehren konnten.
           Schwierig wurde es mit der Ausreise, weil mein Vater vier Jahre bei der deutschen Wehrmacht war und an der Ostfront gekämpft hatte. Dies wusste der russische Geheimdienst und machte große Schwierigkeiten.



5 Aussiedlung nach Deutschland
           Im Jahre 1959 war wegen des schlechten Wetters und einer verspäteten Aussaat die Ernte von 200 Hektar verdorben und mir drohten zehn Jahre Zuchthaus. Da nahm ich allen Mut zusammen und reiste mit Mutter in die nächste Kreisstad Karaganda und fragte nach den lange beantragten Ausreisepapieren. Seit dem Besuch des Bundeskanzlers Konrad Adenauer 1955 in der Sowjetunion hatte ich immer wieder, wie viele andere Deutsche, Ausreiseanträge gestellt.
           Ich saß also mit Mutter im Gebäude des NKWD (Geheimdienstes) mit vielen anderen Menschen, die auf eine Ausreisegenehmigung hofften. Da ging die Tür auf und der zuständige Herr rief in die Menge: „Es gibt keine Genehmigungen zur Ausreise!“ Viele Menschen fingen an zu weinen und verließen hoffnungslos das Gebäude. Doch ich blieb sitzen, obwohl meine Mutter mich drängte, auch zu gehen, aus Angst, dass sie mich einsperren. Ich stand auf, klopfte an die Tür, einmal, zweimal, und als ich keine Antwort erhielt, öffnete ich die Tür, trat ein und sprach ohne Akzent auf Russisch: „Ich hab‘ keine Zeit, Herr Capitanow, ich muss meine Ernte einbringen.“ Der Chef wusste nicht, wen er vor sich hatte. „Wie ist ihr Familienname?“ fragte er. Ich sagte: „Schiller“, denn der Dichter ist in Russland bekannt. „So, Schiller“ sagte er, ging zu einer Schublade und holte die Papiere raus. „Ihre Papiere sind schon lange fertig!“ Ich war völlig sprachlos, fing an zu zittern. „Wo bleibt Ihre

Courage?“ fragte der Capitanow. „Ich sage Ihnen jetzt, was zu tun ist.“ Und dann informiert er mich über die weiteren Schritte. Noch völlig benommen ging ich nach draußen zu Mutter und sagte: „Mama, wir fahren heim.“ „Damit macht man keinen Spaß“, entgegnete Mutter und konnte es auch kaum fassen.

           Als ich nach Hause kam, war meine Frau gerade dabei, den Boden unserer Lehmhütte mit Kuhmist zu reinigen. Ich sagte zu ihr: „Die Arbeit brauchst du nun nicht mehr zu machen, wir fahren nach Deutschland.“ Auch sie war zuerst überrascht und sprachlos, doch die freudige Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Ort. In kurzer Zeit war unser Haus voll mit Menschen, die sich mit uns freuten.

           Innerhalb von drei Tagen hatten wir unsere Sachen gepackt. Was wir nicht brauchen konnten, haben wir verschenkt, die Tiere wurden verkauft. Dann flogen wir von Karaganda nach Moskau und von dort ging es mit dem Zug weiter nach Deutschland, ins Lager Friedland. Dort musste ich mich die erste Zeit immer wieder versichern, dass wir tatsächlich in Deutschland sind, denn die Ängste aus den langen Jahren unter sowjetischer Herrschaft suchten mich noch heim. Vater kam aus Lüneburg, wo er inzwischen wohnte und sah nach über 18 Jahren seine Familie endlich wieder, die er lange Jahre für tot gehalten hatte. Leider fanden meine Eltern durch die Zeit der Trennung nicht mehr zueinander und Vater lebte bis zu seinem Tod in Lüneburg.



6 Neue Heimat in Ludwigsburg

           Noch im gleichen Jahr kamen wir mit Hilfe von Bekannten und Verwandten aus Seimeny, die in Ludwigsburg lebten, in diese Stadt, die auch seit 1955 eine Patenschaft mit unserem alten Heimatdorf in Bessarabien unterhält. Zuerst wohnten wir ein halbes Jahr in der Nähstube eines Altenwohnheimes in der Talstraße, zu fünft in einem Zimmer, bis die Wohnung in Eglosheim fertig gestellt war. Das Essen bekamen wir in dieser Zeit aus der Kantine des Altenheimes.
           Zwei weitere Kinder kamen 1960 und 1963 zur Welt, Waltraut und Werner.

Die Familie Schüler mit drei Kindern und Mutter von Herrn Schüler in Ludwigsburg

          Bei den Stadtwerken fing ich als Kraftfahrer an und arbeitete dort bis Pensionierung im Jahre 1994. Da ich schon immer ein offenes Ohr für meine Kolleginnen und Kollegen hatte, wurde ich 1965 in den Personalrat und 1975 nach der Umwandlung der Stadtwerke in eine GmbH sogar zum Vorsitzenden des Betriebsrates gewählt, ohne frei gestellt zu werden, weil der Betrieb unter 300 Beschäftigte hatte. Ich bin schon immer ein aktiver und umtriebiger Mensch gewesen und so engagierte ich mich auch in der Gewerkschaft ÖTV, wo ich stellvertretender Vorsitzender der Kreisverwaltung Ludwigsburg/ Waiblingen war. Auch hatte ich den Posten eines Arbeitnehmervertreters bei

 

Quellen:
Persönliche Gespräche mit Herrn Schüler, aufgeschrieben von Hedwig Seibt
Persönliche Aufzeichnungen von Herrn Schüler
 Aufzeichnungen von Patricia Steiger, einer Enkelin von Herrn Schüler

 

der AOK inne und war acht Jahre lang ehrenamtlicher Arbeitsrichter. Ebenso war ich Aufsichtsratsmitglied der Stadtwerke und der Holding und seit 1990 Mitglied in der Bezirkstarifkommission. Nicht zu vergessen: 26 Jahre lang war ich auch Oberschützenmeister, also Vorsitzender bei den Eglosheimer Sportschützen, dem Verein, den ich mit gegründet habe.

Ganz besonders am Herzen liegen mir immer noch die Verbindungen mit meiner ersten Heimat in Bessarabien und deshalb war ich auch 38 Jahre lang Sprecher meiner Heimatgemeinde Seimeny, für die vor über 60 Jahren die Stadt Ludwigsburg eine Patenschaft übernommen hat. Gemeinsam mit meiner Frau haben wir in all den Jahren Kulturreisen organisiert und tatkräftig für die Unterstützung der heutigen Bewohner dort Geld und Waren gesammelt. So konnten zahlreiche Gebäude vor dem Verfall gerettet werden, z.B. wurde eine Schule und ein Kindergarten mit  unserer Hilfe renoviert.

 

Das Wappen der Städtepartnerschaft zwischen Seimeny und Ludwigsburg (li.)
Ottomar Schüler als Redner bei einem Treffen der Bessarabiendeutschen (re.)

          Meine große Leidenschaft ist – neben meiner lieben Frau, mit der ich dieses Jahr 68 Jahre verheiratet bin – mein Garten in Eglosheim. Die entbehrungsreichen Hungerjahre in Kasachstan haben ihre Spuren hinterlassen und deshalb war es mir und meiner Frau wichtig, unser eigenes Gemüse, eigene Kartoffeln und Früchte anbauen zu können. Damit haben wir uns und unsere große Familie lange Jahre gut ernährt. In der Zwischenzeit sind auch noch sieben Enkel und sieben Urenkel dazu gekommen.

          Seit dem Kriegsende und unserer Verschleppung nach Kasachstan sind nun über 70 Jahre vergangen, aber die Alpträume über die Unmenschlichkeit und das Elend dieser Zeit verfolgen mich bis heute.