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Deutsche Sau

          Wer jetzt noch unterwegs ist, dem kleben die Kleider am Körper. Wer jetzt noch unterwegs ist, hat etwas Wichtiges zu erledigen, keine Gleitzeit oder erbarmungslose Vorgesetzte. Wer kann, sitzt unter schattigen Bäumen, unter Sonnenschirmen in Eiscafés oder liegt im Freibad, direkt am Neckar gelegen, und schaut träge auf den Fluss. Wer jetzt noch unterwegs ist, strebt nach Hause, so wie die meisten Leute am Zentralen Omnibusbahnhof in Esslingen. Die meisten Fahrgäste haben eine Monatskarte und der Busfahrer lässt sie nach einem kurzen Blick auf ihre Fahrkarte mit einem fast unmerklichen Nicken passieren. Wer schon sitzt, seufzt erleichtert und wartet, dass der Bus endlich abfährt. Doch der Busfahrer fährt nicht. Er verhandelt mit einem Mann. Was ist denn da vorne los?

          – Wohin? fragt der Fahrer.

          – Deitsche Sau, sagt der Mann.

          – Wo Sie hinwollen, habe ich sie gefragt.

          – Deitsche Sau, Fahrkarte, Deitsche Sau! sagt der Mann eindringlich.
         – Das geht zu weit. Ich muss mich von Ihnen nicht beleidigen lassen. Sagen Sie endlich, wo Sie hinwollen oder steigen Sie wieder aus. Der Fahrer
wird lauter, erheblich lauter. Der Fahrgast beschwörend.

          – Deitsche Sau, Deitsche Sau!

          – Ich lass mich nicht von Ihnen beschimpfen. Steigen Sie sofort aus! Der Busfahrer steht auf und schiebt den Fahrgast, der noch keiner ist, zurück. Der hält sich am Gestänge fest und ruft wieder „Deitsche Sau!“ Es sieht nach Handgreiflichkeiten aus und das kann grad niemand brauchen, nicht bei diesem Wetter.

          Endlich steht ein Fahrgast auf, der hinter dem Busfahrer sitzt und mischt sich ein. Ich glaube, Sie haben etwas missverstanden, sagt er zum Busfahrer.

 


Regina Boger 2015

 

‚Deutsche Sau‘ sagt der Kümmeltürke da zu mir. Das brauche ich mir nicht ge- fallen zu lassen. Raus jetzt! Solche Typen nehme ich nicht mit. Meine Mutter ist Italienerin und mein Vater Deutscher. Deswegen bin ich noch lange keine deutsche Sau! Seit wann ist es eine Schande, ein Deutscher zu sein? Muss man sich in seinem eigenen Land von Ausländern beleidigen lassen?

          – Der Vermittler wendet sich dem Fahrgast zu:  Wo wollen Sie hin?

          – Deitsche Sau, Deitsche Sau, sagt der wieder und klammert sich am Einstieg fest, als ob es um sein Leben ginge. Der Vermittler wendet sich dem Busfahrer zu und sagt:

          – Ich glaube, der will nach Deizisau.

          Der Busfahrer entspannt sich.  Eine Fahrkarte nach Deizisau, die kann er haben. Bitteschön.  Er lässt eine Fahrkarte aus seinem Automaten und reicht sie dem Fahrgast in spe.

          – Zwei Euro achtzig, sagt er.

Der Fahrgast in spe bezahlt und ist nun ein rechtmäßiger Fahrgast.

          – Lernen Sie mal richtig Deutsch, sagt der Busfahrer, dann passiert sowas nicht. Es heißt Dei- zis- au, nicht Deitschesau.

          Der Türke bleibt stumm. Ein paar Fahrgäste fühlen sich berufen, ihn zu unterstützen, seine Deutschkenntnisse zu verbessern. „Dei- zis- au“ sagt Einer. Der Türke bleibt stumm. Ein Zweiter stimmt ein: „Dei- zis- au“. Dann ein Dritter, ein Vierter und ein Fünfter. Der Türke lächelt schüchtern und sagt schließlich leise: „Dei- zis- au“. Die Umstehenden lachen befreit, der Vermittler klopft ihm anerkennend auf die Schulter. „Deizisau, Deizisau, Deizisau!“ rufen sie im Chor, der Türke mittendrin. „Danke“, sagt der Busfahrer und fährt los. Und dann reden und lachen alle durcheinander und miteinander wie noch auf einer Busfahrt von Esslingen nach Deizisau.