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Die Passakte

          Am Stuttgarter Hauptbahnhof ist die Hölle los. Wegen der Baustelle für den neuen, unterirdischen Bahnhof wurden die Bahnsteige verlegt. Ich ströme mit und gegen die Massen und erreiche gerade noch meinen Zug nach Ludwigsburg.

           Im Staatsarchiv erhalte ich die Passakte F 201 Bü 431.  Es ist eine rosa Karteikarte, etwas kleiner als A5, quer.

           Aus dem braunen Passfoto schaut mich ein ernster Herr an. Er dürfte Ende dreißig sein, hohe Stirn, kurze Haare. Er trägt ein elegantes Sakko aus grob gewebtem Wollstoff. Dazu eine dunkle Krawatte aus weichem, breitem Tuch, die mit einem großen Knoten um einen hohen, steifen Stehkragen geschlungen ist. Die Spitzen des Kragens sind vorne auseinandergeklappt, was der Strenge auch eine erträgliche Weite verleiht. Der Mann sieht ernst aus, aber auch besonnen und vertrauenswürdig.

           Ein runder, violetter Stempel wurde auf die linke untere Ecke des Fotos gedrückt. Ich erkenne das württembergische Wappen mit der Krone. Um das Wappen herum steht in großen Buchstaben

K. WÜRTT.  STADTDIREKTION STUTTGART.

          Dort befand sich wohl der hölzerne Karteikasten, in dem einst zahlreiche dieser rosa Karten steckten. Zahlreiche?

Links oben steht:          Deutscher Reichs Paß Nr. 4183 I

Weiter unten:                Sichtvermerk erteilt am 26. Juli 1916 ...

Es war Krieg. Wer brauchte da einen Reisepass? Wer konnte schon reisen?

                                           ... zur einmaligen Reise von Stuttgart
                                         mit d. Balkanzug über Salzburg,
                                        Belgrad, Sofia ...

          Ich stelle mir den Zug vor. Eine schwarze Dampflock, luxuriöse Schlafwagen, Speisewagen mit weißen Tischdecken und poliertem Silberbesteck, Reisende mit Ledertaschen, Damen mit Hüten, Kofferträger mit glänzenden Knöpfen ... der Orient-Express.

 

          Moment. Es war Krieg. Am Centralbahnhof in Stuttgart kamen nach tagelangen Reisen von der Front die Verletzten aus den Lazaretten an. Sie waren ausgemergelt, amputiert, trugen dürftige Verbände, und der Schrecken stand in ihren Gesichtern.

           Am Bahnhof herrschte ein heilloses Durcheinander. Vom Rohstoffmangel waren auch die Züge betroffen. Viele fuhren nicht mehr. Und wenn doch, waren sie überfüllt. Der Bahnhof lag damals an der Schlossstraße und war längst zu klein. Der neue Bahnhof war im Bau. Welch eine Kraftanstrengung in jener Zeit.

           Zurück zur rosa Karteikarte.

 ... von Stuttgart mit d. Balkanzug über Salzburg, Belgrad, Sofia nach Konstantinopel

           Er wollte nach Konstantinopel reisen. Er bestieg also den Zug, der sich im Centralbahnhof in Bewegung setzte. Er fuhr langsam an der

Baustelle vorbei, wo das Empfangsgebäudes des neuen Hauptbahnhofs errichtet wurde. Der Zug musste hier vielleicht aufgrund einer Weichenstellung kurz warten. Dann ging es weiter. Ulm, München, Salzburg, Belgrad, Sofia, Konstantinopel. Nach mehreren Tagen fuhr der Zug endlich in den Bahnhof Sirkeci ein. Unser Reisender wurde von einem überaus orientalischen Bahnhof empfangen. Spitzbögen, Türmchen, Rosetten aus vielfarbigem Glas. Eine Phantasie aus 1001 Nacht, erbaut von dem preußischen Baubeamten August Jasmund.

                                         Reisezweck: Bau des Hauses
                                        der Freundschaft in Konstantinopel

 Haus der Freundschaft? Mir ist keines bekannt.

                                          Name: Bonatz

                                         Vorname: Paul

                                         Stand: Architekt

                                         aus: Stuttgart

                                         geb.: 6.12.1877

                                         in: Solgne Kreis Metz

                                         Staatsangehörigkeit: württ.

           Ich recherchiere, dass Robert Bosch das „Haus der Freundschaft“ für die deutsch-türkische Vereinigung stiftete, und ein Wettbewerb ausgelobt wurde. Paul Bonatz unternahm seine erste Reise in die Türkei, um den Bauplatz zu erkunden.

           Das „Haus der Freundschaft“ wurde nie realisiert.

           Paul Bonatz fuhr wieder nach Hause. Und wenn er in unseren Tagen nach Hause gefahren wäre, hätte er gesehen, dass der Bahnhof Sirkeci in Istanbul untertunnelt wurde. Vielleicht wäre er erstaunt die Rolltreppen hinuntergefahren und in die Bahn gestiegen. Unter dem Bosporus hindurch hätte er in wenigen Minuten Asien erreicht.

          Vielleicht schüttelt er aber nur den Kopf und reist über Sofia, Belgrad, Salzburg nach Hause. Er steigt am Hauptbahnhof in Stuttgart aus. Dort ist die Hölle los. Wegen der Baustelle für den neuen, unterirdischen Bahnhof wurden die Bahnsteige verlegt. Paul Bonatz strömt mit und gegen die Massen ...

                                         Personalbeschreibung

                                         Gestalt: schlank

                                         Haar: dunkelblond

                                         Augen: braun

                                         Gesichtsform: länglich

                                         Bes. Kennzeichen: 0.

           Er schaut mich aus seinem braunen Passfoto an.

 „Am Donnerstag reise ich nach Istanbul“, flüstere ich ihm zu.

 „Ich werde fliegen.“

 Paul Bonatz lächelt. Das hätte ihm auch gefallen.


26. September 2014

 

 

Carola Krawczyk hat in Stuttgart und Istanbul Architektur studiert
und Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln gesammelt.

Inspiriert vom Alltag schreibt sie Geschichten und Gedichte.