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Er war doch noch ein Kind

 

          Wenn man in den 1950er und 60er Jahren in Lomersheim wohnte, war ein Fahrrad unerlässlich, um in die Schule, ins Freibad oder in späterer Zeit zum Bahnhof in Mühlacker zu kommen.

           Die Fahrräder schlossen wir selten ab. Sie waren im ganzen Dorf und in der Schule bekannt. Kein Dieb hätte sich mit einem gestohlenen Fahrrad auf die Straße trauen können. Ab und zu war mal ein Reifen platt. Dann ärgerten wir uns über die bösen Buben und pumpten ihn halt wieder auf.

           Eines Tages verbreitete sich das Gerücht, einem Jungen sei an den Fahrradständern beim Freibad seine Luftpumpe gestohlen worden. Kurz darauf war der Übeltäter gefunden. Der Bademeister stellte ihn auf das Drei-Meter-Brett, rief über Lautsprecher alle Besucher zum Schwimmbecken und las dem Ertappten öffentlich die Leviten. Der Dieb war ein kleines Häuflein Elend, das vor Scham in den Erdboden versunken wäre, hätte dies das Drei-Meter-Brett zugelassen. In den Familien und kurz darauf im Mühlacker Tagblatt entbrannte eine heftige Diskussion: Der Diebstahl war schändlich, da waren sich alle einig. Uneinig war man sich über die Konsequenzen. War es nicht zu hart, den Jungen öffentlich an den Pranger zu stellen? Würde man ihn durch diese Ausgrenzung nicht geradezu in eine Rolle außerhalb der Gesellschaft treiben? Hätte nicht auch eine Ohrfeige gereicht oder ein Freibadverbot für den Rest des Sommers? Hätte der Bademeister nicht diskreter mit dem Dieb umgehen müssen? Ihm eine Chance zur Wiedergutmachung geben müssen? Er war doch noch ein Kind. Und überhaupt: War der Bademeister berechtigt, diesen Jungen öffentlich bloßzustellen, anzuklagen und durch die öffentliche Bloßstellung gleich zu bestrafen? War das nicht ein Akt der Selbstjustiz?     

          Die Eltern schärften ihren Kindern ein, die Fahrräder künftig immer abzuschließen, um Schlimmeres zu verhindern. Wir hielten uns selten an diese Ermahnungen. Übertriebenes Sicherheitsdenken, dachten wir, und vertrauten auf das Gute im Menschen.

           Jahre später zog ich zum Studium nach Ludwigsburg. Meine Einkünfte waren bescheiden, 200 DM Stipendium im Monat. Davon musste ich 120 DM für ein Zimmer in einer Fabrikantenvilla in Pflugfelden aufbringen, später etwas weniger für ein Zimmer auf einer Hühnerfarm am Kugelberg. Für eine Busfahrkarte reichte es jedenfalls nicht. Also holte ich mein Fahrrad nach Ludwigsburg. Ich konnte es in meinen Unterkünften in die Garage oder den Fahrradschuppen stellen und an der PH interessierte sich niemand für ein altes Fahrrad.

           Als sich herumsprach, dass in Schweden und in deutschen Uni-Städten junge Leute in sogenannten Wohngemeinschaften wohnten,

 

Regina Boger 2017

wussten wir augenblicklich, dass wir das schon immer gewollt, aber bis dato nicht gewusst hatten. Schließlich bot uns die Stadtverwaltung ein altes Haus in der Gottlob-Molt-Straße an, die damals Max-Eyth-Straße hieß, einem Haus ohne Heizung und mit einer ungewissen Zukunft. Gerade recht für uns, billig und spartanisch.

           Mein Fahrrad stellte ich vor dem Haus ab. Nach wenigen Tagen war es verschwunden. Keiner meiner Mitbewohner wusste etwas. Wie sollte ich in einer Stadt mit 70 Tausend Einwohnern mein Fahrrad finden? Ich war noch zu keiner Lösung gekommen, als ich am Asperger Buckel einen ausgesprochen hübschen kleinen Jungen mit schwarzen Locken auf meinem Rad fahren sah, einem viel zu großen Rad für so einen kleinen Jungen. Er stieg bereitwillig ab und verschwand noch während meiner Schimpftirade so schnell, dass ich ihm nicht folgen konnte.  Von da an stellte ich mein Fahrrad in den Hausflur unseres WG-Hauses. Die Haustüre war nie abgeschlossen. Entweder weil es keinen Schlüssel gab oder weil wir es nicht für nötig oder für kleinkariert und spießig hielten.

           Eine Woche später war mein Fahrrad erneut weg. Der kleine Junge warf das Fahrrad auf den Gehweg und floh, als er mich kommen sah. Tage später war es wieder weg. Meine pädagogische Geduld sank deutlich. Wieder entdeckte ich, wie der italienische Junge damit Rad fahren übte. Dieses Mal kam ich von hinten und packte ihn am Schlafittchen. Meine moralischen Ermahnungen, die ihn zur Einsicht hätten bringen sollen, dass man das Eigentum anderer im Allgemeinen respektieren muss und im Besonderen nicht mein Rad stehlen darf, hatten nicht gefruchtet. Nun musste ich zu Mitteln greifen, die ihn beeindruckten: „Wenn du noch einmal mein Fahrrad stiehlst, dann bringe ich dich zur Polizei. Die schmeißt dich in ein dunkles Gefängnis. Dort bist du Tag und Nacht allein, du bekommst nur Wasser und Brot. Deine Eltern und Geschwister dürfen dich nur einmal im Monat besuchen!“ Während seine Augen immer größer wurden, sank sein Körper immer mehr in sich zusammen. Er nickte mit gesenktem Kopf und schlich davon.

           Meine Drohungen hatten ihn offensichtlich beeindruckt, dennoch fühlte ich mich mies. Er war ja noch ein Kind. Ich fühlte mich so spießig und kleinkariert wie viele Bewohner meines Heimatdorfs, die Italiener prinzipiell für Diebe, Schlawiner und Kommunisten hielten. Ihr Kommentar zum Kommunismus war kurz und prägnant: Was dir gehört, gehört auch mir und was mir gehört, geht dich nichts an. Zu diesen Spießern wollte ich keinesfalls gehören. Außerdem hatte ich den antiautoritären Pfad verlassen und zu Mitteln der schwarzen Pädagogik gegriffen.

           Von da an schloss ich mein Fahrrad ab, wenn auch nicht die Haustüre, das wäre in unserem Wohnexperiment ausgeschlossen gewesen. Erstens hätte sich niemand daran gehalten und zweitens hätte ich mich durch ein kleinbürgerliches Besitzdenken dem Spott meiner revolutionär gestimmten Mitbewohner ausgesetzt. Der italienische Junge machte einen großen Bogen um mich, schon wenn er mich von Weitem sah. Immerhin waren meine Drohungen wirkungsvoll gewesen, wenn sie auch absolut nicht dem Stand der modernen Pädagogik entsprochen hatten.

           Jahre später besuchte ich mit Freunden ein Konzert im Bahnhotel. Eine bekannte italienische Band sollte spielen. Veranstaltet wurde das Konzert von der Kommunistischen Partei Italiens. Bedient wurden wir von einem hübschen jungen Mann, den ich sofort als den kleinen Fahrraddieb erkannte. „Ich kenne dich!“, platzte ich heraus, „du hast drei Mal mein Fahrrad gestohlen!“ Sein Gesicht lief rot an, er lächelte verlegen, senkte den Blick und wandte sich ab. Sofort bereute ich meine Impulsivität. Musste ich ihn vor meinen Freunden an den Pranger stellen? Wenn er das nächste Mal an unseren Tisch kommt, entschuldige ich mich bei ihm, nahm ich mir vor. Er kam nicht mehr. Ich entdeckte ihn auch nicht an den anderen Tischen des Saals. Ein anderer Kellner übernahm die Bedienung. Ich fühlte mich mies. Musste ich wirklich …? Er war damals doch noch ein Kind.