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Breml oder das Glück

 

Ein Bauer aus dem Enztal, der sich für seinen Lebensunterhalt aus seiner kleinen Landwirtschaft abmühte und hoffte, irgendwann auch eine Frau zu finden; der sich nicht für Politik interessierte und schon gar nicht für „den Lebensraum im Osten, den Kampf gegen den Bolschewismus oder die Weltverschwörung des Finanzjudentums“, kam dennoch nicht ungeschoren davon. Er wurde zur Wehrmacht eingezogen und musste in den Krieg ziehen. Das war schon ein Unglück. Und ein größeres noch, dass er nach dem Frankreichfeldzug – das ging ja noch, denn da bekam man wenigstens etwas Anständiges zu essen – auch am Russlandfeldzug teilnehmen musste. Ein Glück wiederum war, dass er in einer Kompanie mit Kameraden aus seinem Dorf war. Da konnte er wenigstens schwätzen, wie ihm der Schnabel gewachsen war.

          Ein größeres Unglück wiederum war der Wintereinbruch, der den Nachschub aus Deutschland unterbrach, was Hungern und Frieren zur Folge hatte. Die Kälte war nicht das Schlimmste, er war es ja gewohnt, im Winter im Freien zu arbeiten, aber das trockene Brot quälte ihn. Zu Hause hatte er in den Regalen seiner Speisekammer Leberwurst, Bratwurst und Schinkenwurst in Dosen und Rauchfleisch hing an einem Haken von der Decke. Und jetzt noch nicht einmal Butter auf dem Kommissbrot. In der größten Not konnte man das auch essen, der Hunger treibt’s rein, sagten sie untereinander, aber mit einem Stück Butter würde es doch besser die Gurgel hinunter rutschen.

           Als unser Bauer aus dem Enztal auf dem Marsch nach Moskau einen Bauernhof entdeckte, war dies wieder ein großes Glück. Kein Bauer, keine Knechte und Mägde auf dem Bauernhof, aber in der Küche eine Frau. Sein Herz schlug höher. Wo eine Bäuerin ist, gibt es auch etwas zu essen. Das Muhen aus dem Stall deutete auf Kühe hin, Kühe geben Milch und aus Milch macht man Butter. Er dachte an das armselige trockene Kommissbrot in seinem Tornister und an ein Stück Butter, vielleicht noch an ein Stück Wurst. Dass ein Bauer einem anderen Bauern nichts stiehlt, war selbstverständliche bäuerliche Ehre. Mit dem Gewehr wollte er vor seinesgleichen schon gar nicht rumfuchteln. Also fragte er die Bäuerin so höflich, wie das im Enztal zu der Zeit üblich war:

        „Häbet Se Buttre?“ Ein verständnisloser Blick war die Antwort.

         „Häbet Se Buttre?“, wiederholte er langsamer.
         „Ja ne ponimaju, chto wi spraschivajete!“   

          Dies wiederum verstand er nicht. Er beugte sich vor, das Gewehr mit dem Lauf nach unten fest an den Körper gepresst, etwas ratlos und deshalb mit Nachdruck: „Buttre!“
          Die Bäuerin wich zurück, blieb ihrerseits höflich und antwortete:  „Mogu ja wam chem-to pomo
tsch?“
          Und nun schon etwas verzweifelt, versuchte er es noch einmal, eindringlich, mit vorgestrecktem Kopf wie eine Gans, die einen Feind vertreiben will, fast schon beschwörend, langsam, Wort für Wort betonend, damit Sie es endlich verstehen möge:
          „Ob Se Buttre häbet!“ Doch es fruchtete nicht. Sie trat einen Schritt zurück, bereit zur Flucht. Die Kameraden grinsten, stellten ihre Gewehre in eine Ecke, legten eine Hand auf den Magen, mit der anderen zeigen sie auf den offenen Mund und schmatzten. Daraufhin brachte die Bäuerin einen Laib Brot und ein Stück Butter.

           „Charoschewa apetita“ sagte sie und zog sich an den Ofen zurück, nah an der Küchentüre, die in die Scheune führte, die Soldaten fest im Blick. In der Scheune hatte sich ihr Mann versteckt, was die Soldaten aber nicht merkten. Zum Glück.

          Die Soldaten waren dankbar. Sie ließen das Vieh leben und die Bäuerin natürlich auch, weil das Leben ja weitergehen muss. Wenn man die Bauern erschießt und den Hof anzündet, gibt es nichts mehr zu essen, für niemanden.

          Sie zogen weiter in Richtung Moskau. Das war jetzt wieder ein Glück.

  „Jetzt seh‘ i endlich den Breml“, sagte er zu seinen Kameraden. „Frieder“, sagten sie, „das heißt Kreml, nicht Breml, mit K!“ Er nickte zufrieden und strahlte. Das größte Glück aber war, dass sie den Krieg überlebten, einige jedenfalls. „I ben en Moskau wä, vorm Breml“, erzählte er stolz im Dorf. Im Lauf der Zeit gaben sie es auf, ihn zu korrigieren. Wenn sie ihn auf der Straße oder in der Wirtschaft trafen, sagten sie: „Griaß Gott, Breml!“ Und dass die Leute lachten, wenn sie ihn sahen, das war wieder ein Glück.



         Nach dem Ende des Kriegs fuhren wieder Militärlastwägen durch das Dorf, dieses Mal amerikanische. Die Soldaten wollten nichts von ihm und er nichts von ihnen. Das war wieder ein Glück. Denn viele aus dem Dorf mussten sich vor der Spruchkammer verantworten, weil sie in der NSDAP, der SA oder der SS gewesen waren. Doch die meisten kamen ungeschoren davon, weil sie einen Persilschein bekommen hatten, einige auch von ihm.

          Eines Tages fuhr ein amerikanischer Jeep in seinen Hof.

         Where is the road to Muhlenacker?” fragte der Beifahrer.

        Ja, des sen meine Äcker”, antwortete er stolz und zeigte auf seine Felder.

       „Muhlenacker?“

       „Ja, jetzt steiget Se halt aus ond kommet Se end Kiche. I weiß, was Soldate brauche.“ Er winkte sie in seine Küche. Einer stieg zögernd aus und folgte ihm, die Hand an der Pistole, die Anderen blieben im Jeep mit laufendem Motor und beobachteten die Beiden. Frieder verschwand in der Speisekammer, holte einen Laib Brot, Butter und eine Büchse Leberwurst. Dazu einen Krug Most. Er legte fünf Holzbrettchen und Messer auf den Tisch und stellte Gläser dazu. Dann rieb er sich mit der einen Hand den Bauch und mit der anderen zeigte er auf den Mund und schmatzte. Der mutige Soldat, der ihm gefolgt war, gab seinen Kameraden Entwarnung und holte sie in die Küche. Frieder säbelte ein paar Ranken Brot vom Laib, schnitt sie in der Mitte durch und legte jedem Soldaten ein Stück auf sein Holzbrettchen. Sie strichen sich Butter auf ihre Brote, die Leberwurst beäugten sie kritisch.

          „What is that?“, fragte der Beifahrer und zeigte auf die Leberwurst. Eine graue Masse, die man essen kann, hatte er noch nie gesehen.

         „Läberwurschd!“

        „Leibewusch? What the hell is Leibewusch?"

„Läberwurschd, des isch guat. Probier mol!” Frieder spießte mit dem Messer ein Stück Leberwurst auf und streckte es dem Beifahrer hin. Mit der linken Hand zeigte er auf den Mund und schmatzte. Der ergriff Frieders Hand und drehte sie um, sodass das Messer und das Stück Leberwurst auf Frieders Mund zeigte:  „You first!“

          Frieder ließ sich nicht lange bitten, biss unerschrocken die Wurst vom Messer und schmatzte behaglich. Dies war den Soldaten Beweis genug für die Ungefährlichkeit der eigenartig aussehenden Speise und sie probierten sie auch. Sie schien ihnen nicht schlecht zu schmecken, denn nach kurzem war die Dose leer. Den Most tranken sie mehr aus Höflichkeit denn aus Begeisterung.

             Nach dem unverhofften Mahl zog der Beifahrer eine Landkarte aus der Jackentasche, breitete sie auf dem Tisch aus, zeigte auf einen Ort namens Mühlacker und wiederholte „Where ist the road to Muhlenacker?“

           „Ach, Sie moine Millagger!“, strahlte Frieder. Des isch net weit weg. I zeig’s Ihne.“ Er fuchtelte mit den Armen herum, mal rechts, dann wieder links, dann geradeaus und wieder rechts. Aber die Soldaten verstanden ihn nicht. Schließlich setzte er sich auf den Traktor und fuhr ihnen voraus bis zu der Stelle, ab der sie nur noch geradeaus fahren mussten.

          „Thanks, you are a great guy“, sagte der Beifahrer und klopfte Frieder auf die Schulter. Er holte aus einer Tasche eine Tafel Schokolade und ein paar Päckchen Kaugummi. Die Schokolade kannte Frieder, aber mit dem Kaugummi wusste er nichts anzufangen. Er schenkte den Kaugummi ein paar Kindern, die ihm entgegenkamen. Die Kinder freuten sich und lachten Frieder dankbar an. Er war jetzt ein Mann von Welt, der sich sowohl mit Russen als auch mit Amerikanern verständigen konnten. Und das wieder ein Glück.



Regina Boger, 15. September 2014

 

Titelbild 1: Kriegszeit

Titelbild 2: Ernte in der Nachkriegszeit

Titelbild 3: Kartoffelfeuer und Melken in der Nachkriegszeit