<

>


Das sagte ich aber nicht

 

           Die Fahrt zog sich hin. Eigentlich wollten wir Urlaub am Bodensee machen. Da es in Strömen regnete, beschlossen meine Eltern, dahin zu fahren, wo es warm und trocken war: nach Italien. Wie immer herrschte dicke Luft im Auto. Mein Vater saß am Steuer, meine Mutter hatte die Autokarte auf dem Schoß und sagte ihm, wie er fahren sollte. Zum Einen vergaß er ihre Anweisungen, zum Anderen glaubte er ihnen nicht und so stritten sie die meiste Zeit miteinander. Mein großer Bruder vertiefte sich in den Sprachführer, mein kleiner spielte mit seinen Autos. Ich betrachtete die Landschaft und träumte vor mich hin. Die Berge gefielen mir. Ich stellte mir vor, wie es wäre, an ihnen hoch zu klettern und so immer wieder neue Räume und Aussichten zu entdecken. Auf diese Art nach Italien zu kommen, wäre langwierig gewesen, das war klar und so fand ich mich mit der Autofahrt mit meiner Familie ab.
           Wir fuhren über den Brenner, in den 60er Jahren gab es noch keine Autobahn. Der Verkehr auf der Straße entlang der Etsch war dicht und mein Vater bekam seine üblichen Wutanfälle über die Schleicher und Versager in den Autos vor ihm. Um die Schlappschwänze vor sich los zu werden, machte er riskante Überholmanöver auf der engen kurvenreichen Straße mit reichlich Gegenverkehr. Er war schließlich der einzig gute Autofahrer auf der Welt und wusste, wie man im Gebirge fährt, selbst mit Anhänger und Segelboot auf dem Dach. Im zweiten Weltkrieg hatte er als Krad-Melder zwischen den Fronten reichlich Erfahrung mit gefährlichen Situationen gesammelt. Diese Expertise hatte er uns allen voraus, was niemand in Frage stellte. Dass er damals allein

auf dem Motorrad saß und nur sein Leben riskierte, jetzt aber auch das seiner Familie, schien er nicht zu berücksichtigen. Das sagte ich aber nicht. Mich entsetzte der Anblick eines toten Mannes in einem zerquetschten Auto, dessen gebräunter Arm mit einer goldenen Uhr am Handgelenk aus dem Seitenfenster hing. Meinen Vater nicht, oder höchstens zwei Minuten.

          Jedes Mal, wenn das Hinweisschild „Bolzano“ am Straßenrand auftauchte, bekamen wir eine Geschichtslektion. Der richtige Name von Bolzano war  nämlich Bozen. Südtirol war früher deutsch gewesen, eigentlich österreichisch, aber nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich hatte es zu uns gehört. Die italienischen Charakterlumpen, die zu Beginn des Krieges auf unserer Seite gekämpft hatten, schlugen sich gegen Ende des

 

Krieges, als die gemeinsame Sache verloren schien, auf die Seite der Feinde, das war ungefähr die halbe Welt, und deshalb verloren wir den Krieg und somit auch Südtirol. Nach dem Krieg pumpten die charakterlosen italienischen Regierungen zigtausende charakterlose Italiener nach Südtirol, um den Widerstand der Südtiroler gegen die italienische Fremdherrschaft zu brechen. Zum Glück gab es aufrechte Südtiroler Widerstandskämpfer, die Bomber, die Anschläge auf italienische Einrichtungen verübten, um ihre Heimat gegen die italienische Überfremdung zu verteidigen. „Heirate nie einen Italiener“, sagte meine Mutter, „das sind Verräter, auf die kann man sich nicht verlassen. Da wäre mir ein Franzose schon lieber, die Franzosen waren zwar unsere Erzfeinde, aber immerhin haben sie Charakter.“ Mich beruhigte, dass mein französischer Brieffreund nicht unter das Verdikt „Charakterloser Verräter“ fiel.



           Entgegen meinen Befürchtungen kamen wir heil in Bozen an. Wir bedauerten, dass diese schöne deutsche Stadt nun von den charakterlosen Italienern beherrscht wurde, was man deutlich an den fauligen Tomaten am Straßenrand und der Sprache in den Straßen hören konnte. Vielmehr meine Eltern bedauerten es. Mir gefiel diese klangvolle Sprache. Zu Hause stellte ich mich gern ans Fenster, wenn italienische Gastarbeiter an unserem Haus vorbei gingen und sich lautstark unterhielten. Das sagte ich aber nicht.

           Dem Drama des Zeltaufbaus auf dem Campingplatz von Jesolo – mein Vater gab mit hoch rotem Kopf die Kommandos, meine Mutter war beleidigt und musste Zeltstangen halten, meine Brüder und ich ebenso, damit mein Vater den Überblick über die Zeltkonstruktion behielt – schaute eine englische Familie interessiert, aber dennoch diskret zu. Nachdem das Gestänge des Zelts stand und die Zeltplanen befestigt werden mussten – das war Männersache – bekam ich wegen der Hitze einen Schwächeanfall, das hatte schon am Bodensee funktioniert, und durfte mich ins Wasser verziehen. Ich konnte es nicht fassen, das Meer war noch größer als der Bodensee, das Wasser war wärmer und es hatte Wellen. Wellen, welche die peinlichen Vorurteile meiner Eltern mitsamt ihren Erinnerungen an das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg und ihren Ehekrieg von mir abspülten. Mein älterer Bruder und ich lernten in der Schule Englisch. Wir brannten darauf, zum ersten Mal in unserem Leben mit echten Engländern Englisch zu sprechen. Die Gelegenheit

bot sich, als die englischen Kinder an den Strand kamen. Wir gingen auf sie zu und sagten in unserem besten Englisch „Hello!“ – „Heil Hitler“ antworteten sie ungerührt und rissen den rechten Arm zum Hitlergruß hoch, bevor wir noch „how are you“ hinterher setzen konnten und gingen an uns vorbei. „Seht ihr“, polterte mein Vater empört, „so wirkt sich die Kollektivschuldthese der Alliierten noch 20 Jahre nach dem Krieg aus!“ Dass er Mitglied der NSDAP (freiwillig) und der Waffen-SS (unfreiwillig) gewesen war, schien ihm nicht aufzufallen. Mir schon. Das sagte ich aber nicht.
           Ich sann auf Rache, weil die englischen Kinder mir Hitler vorgehalten hatten, für den ich
nichts konnte, weil ich nach dem Krieg geboren worden war und und weil sie mich keines Blickes gewürdigt hatten. Wenn ich sie das nächste Mal sähe, würde ich „Heil Profumo“ zu ihnen sagen, nahm ich mir vor. Profumo war nämlich ein englischer Minister, der zurücktreten musste, weil er mit Christine Keeler, einem Callgirl, ein Verhältnis gehabt hatte. Diese wiederum hatte noch ein Verhältnis mit einem sowjetischen Agenten gehabt. Die Fotos hatte ich in einer Illustrierten gesehen, die meine Mutter las, wenn sie zu Hause war. Wenn mir die Engländer Hitler vorhielten, würde ich ihnen ihren verlotterten Minister Profumo vorhalten. Doch daraus wurde nichts. Die Engländer machten einen weiten Bogen um uns und wir hatten keine Gelegenheit mehr, unsere Englischkenntnisse anzubringen, geschweige denn, „Heil Profumo“ zu sagen.



            Einmal machten wir einen Ausflug nach Venedig. Wir Kinder durften natürlich auf dem Markusplatz keine Tauben füttern. Diesen Touristennepp lehnten meine Eltern ab. Und ich wollte nicht mit Tauben posieren, deren Futter andere bezahlt hatten, damit mein Vater ein Foto machen konnte. Er ließ von diesem Vorhaben ab und wandte sich einem anderen zu. Er wollte unbedingt zur Seufzerbrücke. Als erfahrener Wanderer zog er den Stadtplan hervor und setzte sich an die Spitze der Familie. Wir trotteten hinterher. Ich als Letzte. Ich achtete darauf, einen Sicherheitsabstand zu meiner Familie zu halten, um nicht als Deutsche erkannt zu werden. Ich wollte lieber für eine Italienerin gehalten werden. Das sagte ich aber nicht.
           Nach einer halben Stunde hatten wir uns heillos verlaufen. Mein Vater sah von seinem Nationalstolz ab und ließ sich herab, einen Italiener nach der Ponte dei Sosperi zu fragen. Er wies in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Mein Vater glaubte ihm nicht, auch einem Zweiten und Dritten nicht.

Die Venezianer kannten sich nicht einmal in ihrer eigenen Stadt aus. Den Stadtplan fest in der Hand, hielt er an der eingeschlagenen Richtung fest. Nach einer weiteren halben Stunde kamen wir zu einer imposanten Brücke. „Seht ihr, da ist sie“, sagte mein Vater stolz, „man darf sich nie von der Meinung anderer Leute von seinem Weg abbringen lassen!“ – „Hier steht Ponte di Rialto!“, sagte ich, „heißt Rialto auf Italienisch Seufzer?“ Mein Vater sagte nichts und vertiefte sich erneut in den Stadtplan. Wir umringten ihn. Ein Venezianer mit Deutschkenntnissen bot uns seine Hilfe an. Er zeigte uns auf dem Stadtplan sowohl die Ponte di Rialto als auch die Ponte dei Sosperi und den Weg von hier nach dort. Mein Vater bedankte sich. Er konnte auch höflich sein. Eigentlich hatten wir genug von den engen Gassen und der Mittagshitze. Aber da mein Vater nun den Weg wusste, musste er auch gegangen werden. Meine Brüder meckerten, meine Mutter war beleidigt. Ich sagte nichts, hielt Abstand und tat, als ob ich nicht dazu gehörte.



Zwar hatten wir in zwei Wochen in Italien nicht herausgefunden, was sich hinter dem Wort „Pizza“ auf den Tafeln vor den Restaurants verbarg, aber der Italienurlaub beeinflusste doch nachhaltig den Speisezettel zu Hause. Im Supermarkt der nächsten Stadt entdeckten wir Ravioli in der Dose und Miracoli, das sind Spaghetti mit extra verpacktem Tomatenmark und einer Kräutermischung. Wir Kinder bestanden darauf, dass unsere Mutter Miracoli,

 

 

Regina Boger, 2014

Ravioli und Nutella einkaufte. Gegen einige Kinder, was bei uns selten der Fall war, konnte sich unsere Mutter nicht durchsetzen, zumal unser Vater dieses Mal nicht die deutsche Fahne hoch hielt, sondern zustimmte, indem er nicht dagegen war. Auch er war vom Nutella-, Ravioli- und Miracoli-Fieber infiziert, gab es aber nicht zu. Jedenfalls nicht offen.

           Das sagte ich aber nicht.