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Die Gedankenverlorene

           Während sie mit ihrer Freundin telefoniert, staubt sie ab, spült, bügelt, wischt den Boden, zupft sich die Augenbrauen. Ihre Freundin hängt Wäsche auf, legt die trockene Wäsche zusammen und putzt die Fenster. Sie unterhalten sich angeregt über die Ereignisse der Woche, Vorkommnisse am Arbeitsplatz, private Ereignisse wie den Tod einer Freundin einer gemeinsamen Bekannten. Die gemeinsame Bekannte, bei 1,58 Metern Größe ungefähr zwei Zentner schwer,  war mit ihrer Freundin, ungefähr zweieinhalb Zentner schwer, bei ihrem wöchentlichen Schwimmtreff im Schwimmbad gewesen. Plötzlich ging die Freundin unter und tauchte nicht mehr auf. Der Arzt konnte nur noch ihren Tod feststellen. Dieser Tod schockierte ihre gemeinsame Bekannte so sehr, dass sie auf der Stelle das Rauchen aufgab. Eine Warnung, das Rauchen aufzugeben, sagen sie und tun es nicht. Immerhin wiegen sie einen Zentner weniger, die Gefahr ist also geringer. Nach dem Telefonat legt sie das Telefon da ab, wo sie gerade steht und zündet sich eine Zigarette an. Wo ist denn der Aschenbecher? In der Küche auf der Fensterbank steht er nicht, auch nicht im Wohnzimmer, aber auf dem Tisch auf dem Balkon. Während sie raucht, zupft sie welke Blumen aus dem Balkonkasten, denkt an ihren Sohn, mit dem sie, als er noch klein war, Bohnen, Kapuzinerkresse und Sonnenblumen zog. Ach ja, ihn wollte sie doch anrufen und fragen, wann genau er am Wochenende mit seiner neuen Freundin ankommt. Wo ist das Telefon? Sie überlegt, was sie unmittelbar nach dem Telefonat gemacht und in welchem Raum sie war. Sie war im Bad und zupfte sich die Augenbrauen. Im Bad müsste es also sein. Auf der Waschmaschine liegt das Telefon aber nicht. Merkwürdig, sie war doch im Bad. Vielleicht hat sie es in Gedanken in der Küche abgelegt, also ein kurzer Blick in die Küche, vor allem auf den Küchentisch und auf die Arbeitsplatte. Da liegt es auch nicht, wäre auch schwer zu sehen, weil auf der Arbeitsplatte Flaschen stehen, leere und volle, unerledigte Post liegt da, Zeitungsausschnitte mit interessanten Artikeln, die man noch lesen will, wenn Zeit dazu da ist, ein ausgeliehenes Buch, das sie noch nicht angefangen hat, Rechnungen und Veranstaltungsprospekte, die sie sich bei Gelegenheit anschauen will. Auf dem Küchentisch stapeln sich Kassetten, die sie schon lange ins Auto mitnehmen will, um sie während der Fahrt zu hören. Daneben die aufgeschlagene Zeitung von heute und die zusammengefaltete von gestern. Auf dem Hocker unter dem Tisch liegen die Zeitungen der letzten Tage und die Wochenzeitung, die zu lesen sie noch keine Zeit gehabt hat. Auf der Spüle steht abgespültes Geschirr zum Trocknen. In der Spüle liegt ihr metallenes Teesieb. Sie kippt die nassen Teeblätter in den Biomülleimer. Einige Drähte des Haarsiebs haben sich aus der Halterung gelöst. Demnächst sollte sie ein Neues kaufen. Teesieb schreibt sie auf den Einkaufszettel. Also in der Küche ist das Telefon nicht. Es könnte ja auch im Schlaf- und Arbeitszimmer liegen und zwar auf dem Schreibtisch. Ein kurzer Blick auf den Schreibtisch entdeckt das Telefon nicht. Es könnte auch unter dem aufgeschlagenen Ordner liegen, nein, doch nicht, oder unter den Spannheftern oder neben dem Bett oder auf der Ablage des Silberschränkchens, das sie als Schrank für die Unterwäsche benutzt. Neben dem Bett vielleicht, zwischen den Büchern, die auf dem Boden liegen? Nein, auch nicht. Normalerweise legt sie das Telefon in das Regal im Flur. In einem Fach auf Augenhöhe liegt auch das Handy, das sie im Augenblick benutzt und auch das, das sie nicht mehr benutzt, aber das Festnetztelefon ist nicht zu
                                                                                                                                      

Regina Boger

sehen. Im Wohnzimmer könnte es auf dem Tisch liegen. Sie schaut unter die Sichthüllen mit Folien und Arbeitsblättern, räumt Notizzettel beiseite. Dabei fällt ihr ein, dass sie unbedingt eine antibakterielle Mundspülung einkaufen muss, geht zurück in die Küche, sucht nach einem Bleistift, der normalerweise neben den Notizzetteln auf der Arbeitsplatte neben dem Herd liegt. Da liegt er aber nicht. Sie geht ins Arbeitszimmer, um einen Bleistift zu holen. Auf dem Boden liegen Staubflocken, die sie aufnimmt und in den Mülleimer in der Küche wirft. Was wollte sie tun? Ins Arbeitszimmer gehen. Als sie neben dem Schreibtisch steht, weiß sie nicht mehr, was sie sucht, geht in die Küche zurück, um durch die Rückkehr an den Ort, an dem sie den Gedanken hatte, den Gedanken wieder zu finden, der sie in ihr Arbeitszimmer gehen ließ. In der Küche liegt der Notizzettel, aber kein Bleistift. Jetzt erinnert sie sich, sie wollte aufschreiben, was sie einkaufen muss. Was muss sie einkaufen? Sie geht ins Wohnzimmer zurück zu dem Tisch mit den vielen Notizzetteln. Ich muss aufräumen, damit ich wieder einen Überblick über meine Wohnung bekomme, denkt sie, und fängt an, die Notizzettel zu lesen. Was ist schon erledigt und was ist noch zu erledigen? Sie zerreißt alte Zettel, legt einige in die Sichthüllen, heftet diese in Ordner ein, fragt sich, in welche Ordner sie gehören, weil die Beschriftung der Ordner teilweise veraltet ist. Dabei ordnet sie gleich ein paar Folien neu, vertieft sich in die Darstellung von Feedbackprozessen, hat eine Idee, wie sie den Vortrag über Qualitätsentwicklung neu aufziehen könnte, holt einen Bleistift vom Schreibtisch und macht sich Notizen. Während des Schreibens fällt ihr ein, dass sie Mundspülung einkaufen wollte, geht in die Küche und schreibt „Mundspülung“ auf den Einkaufszettel. Einkaufen will sie noch, aber zuvor muss sie noch ihren Sohn anrufen. Das Telefon! Wo ist es bloß? Sie geht noch einmal durch alle Räume, schaut genauer hin als bei der ersten Suchrunde. Es ist nirgends zu finden. Sie zweifelt an ihrem Verstand. Sie hat heute doch schon telefoniert, also muss das Telefon in der Wohnung sein. Sie schaut auf der Toilette nach, in der Waschmaschine, unter dem Küchentisch. Aus dem Küchenradio tönt ein Bericht über das Gedächtnis. Wenn man zu viele Informationen gleichzeitig aufnimmt, werden sie nicht mehr im Langzeitgedächtnis gespeichert. Sie macht das Radio aus. Es hat keinen Sinn, sich erinnern zu wollen, wo sie das Telefon abgelegt hat. Sie muss die Wohnung entweder systematisch absuchen oder warten, bis jemand anruft und sie dem Klingelton folgen kann. Sie entscheidet sich für die systematische Suche und beginnt damit im Wohnzimmer, nimmt alle Polster und Kissen vom Sofa, schaut hinter das Sofa, unter den Schrank, geht ans Bücherregal, nichts. Warum liegen neben dem Fernseher drei Fernbedienungen? Sie hat doch nur zwei, eine für den Fernseher, eine für den Videorecorder. Die dritte Fernbedienung ist das Telefon. Wie kommt das Telefon neben den Fernseher? Keine Ahnung. Ihr Sohn ruft an und bittet sie, ihn in 15 Minuten am Bahnhof abzuholen. Zuvor muss sie noch auf die Post, um Bargeld abzuheben. Schwungvoll schlingt ihren langen Paschminaschal um den Hals, zieht die Schuhe an und stellt noch schnell eine Tasse auf die Spüle. Sie hastet durch das Treppenhaus. Als sie die Haustüre aufmacht, streift sie an etwas Rauem vorbei. Es ist das Teesieb, das sich in den Troddeln des Schals verfangen hat. Sie nimmt das Teesieb vom Schal und legt es in den Briefkasten.