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Und jetzt auch noch der Wolf

 

 

          Jetzt also noch der Wolf. Die alte Frau zögert kurz, atmet tief durch, ehe sie aus dem Auto aussteigt.

           Die letzten 30 Meter muss sie gehen. Der Schnee um ihr altes Haus aus gelben Feldsteinen liegt noch kniehoch. Keine Chance, das Auto bis dicht an die Haustüre zu fahren, wie sie es sonst in den dunklen Neumondnächten macht, wenn sie spät abends nach Hause kommt. In den letzten zwei Wochen waren die Straßen zu den verstreuten Gehöften durch Schneeverwehungen unpassierbar. Der Räumdienst konzentrierte sich auf die größeren, mehr befahrenen Straßen. Die alte Frau hatte vorgesorgt und es war genug Essen im Haus.

           Aber heute konnte sie es endlich wagen in den nächsten größeren Ort zu fahren. Die Straßen waren einigermaßen frei und sie fuhr gerne auf schwierigen Wegen. Beim Fahren fühlt sie sich beweglich und jung, keine Gelenkschmerzen erinnern sie an ihr Alter.

           Die Einkäufe waren im Auto verstaut und der obligatorische Cappuccino musste getrunken werden. Alle waren sie da, die Freunde und Bekannten aus den abgelegenen Gehöften, Häusern und Anwesen. Die Weltlage musste besprochen werden und die Ängste wegen der Erdbebenserie, nicht weit von ihnen, lassen sich mit anderen zusammen besser aushalten. Wie war es den anderen ergangen in der unfreiwilligen Abgeschnittenheit von der Welt? Wie immer – alles wunderbar – man versichert sich, wie gut es einem in seinen einsamen Häusern geht. Dort wo sich die Kälte in die Natursteinmauern einnistet und fest davon überzeugt ist, dass sie, wenn sie nur wollte, alles im Griff hat. Wie sie genüsslich mit klammen Fingern über die angelehnten Rücken streicht und sie erschauern lässt. Und wie sie gelassen den kleinen warmen Kreis um den gefräßigen Kamin duldet …

 

Gabriele Scheiffele 2017

 

          Und jetzt auch noch der Wolf.

           Aus den Abruzzen wurden einige Tiere angesiedelt. Normalerweise streichen sie unsichtbar durch die Wälder. Jetzt treibt der Schnee die Tiere aus der Deckung. Tiefer und breiter als Hundepfoten zieht der Wolf seine Spur um die Gehöfte. Leerstehende Ortschaften, die Gehöfte und Ställe verwaist. Weder Lämmchen noch Zicklein noch Kaninchen. Nicht gut für den Wolf. Ob die Katzen, die ohne menschliche Obhut diese verfallenden Häuser bewohnen und sich mühsam durchs Leben schlagen,  im nächsten Frühling auftauchen? Und die drei Rehe, die auf der Wiese der alten Frau oft äsen?

           Geschafft. Die Einkäufe müssen bis morgen im Auto bleiben. Jetzt nur schnell zur Haustüre. Vorsichtig! Nicht ausrutschen und doch zügig. Jetzt die schweren Stahlriegel aufgeschlossen und: in Sicherheit. Ein heißer Tee, ein Schlehenschnaps. Die glimmende Glut im Ofen nochmal gefüttert. Das Ofenrohr geht schließlich durch ihr Schlafzimmer und soll noch etwas Wärme abgeben.

           Ächzend und tief gebückt und schief schleppt sie sich nach oben. Stufe für Stufe eine Qual.

           Sie kuschelt sich unter ihre vielen Decken und schläft sofort ein. Ohne ihr Hörgerät ist sie in eine lautlose Welt eingetaucht. Heult der Wolf, der die tiefen Spuren um ihr Haus zog? Scharren die Mäuse? Ächzt der dicke Balken wegen eines in der Ferne ausgelösten Erdstoßes? Macht sich jemand kratzend an der Türe zu schaffen? Zersplittert ein Fenster? Alles dies existiert nicht im tiefen Schlaf der alten Frau. Sie träumt sich hinauf auf den Altiplano mit seinem klaren Himmel, hinab in das Pantanal mit seinen zirpenden Fröschen und stärkt sich so für einen neuen Tag.