Bericht in der LUDWIGSBURGER KREISZEITUNG vom  20. Oktober 2018

Stadtschreiberinnen
 

Lebensgeschichten und Liebeserklärungen

 

So viel Besuch hat das Stadtarchiv selten. Die Lesung zu den Ludwigsburger Lebensgeschichten war ein Volltreffer. Wer ein paar Minuten zu spät kam, wurde wegen Überfüllung abgewiesen. Die Stühle reichten nicht.


 

 

 

 

Die sechs Zeitzeugen Bilal Hasaf*, Werner Handel, Jürgen Tröber, Christina Theodoridou, Eberhard „Pöpel“ Simon und Werner Hillenbrand* (von links) zogen die Zuhörer mit ihren Lebensgeschichten in den Bann. Foto: Holm Wolschendorf

 

*Bilal Hasaf und Werner Hillenbrand sind leider nicht sichtbar.


Es war ein Sinnerlebnis. Das Duo „Bluesette“ mit Katharina Wibmer an der Geige und Frank Eisele mit seinem Akkordeon leiteten die Erinnerungen musikalisch passend von sechs Ludwigsburgern ein. Die beiden Stadtschreiberinnen Regina Boger und Hedwig Seibt stellten die Biografien vor, bevor sie das Wort an den gewandten Sprachschauspieler Rudolf Guckelsberger weitergaben. Und zum Schluss, nach einer Gesprächsrunde mit den Beschriebenen, gab es ein buntes Buffet. Ebenfalls zusammengestellt nach deren Provenienz.

 

„Ubi bene, ibi patria – wo es mir gut geht, da ist meine Heimat“, begrüßte der Leiter des Stadtarchivs, Simon Karzel, die gut 120 Gäste. Ludwigsburg sei seit seiner Gründung immer schon ein Schmelztiegel von Nationen gewesen. Alle Einwohner hätten hier ein Zuhause gefunden, Familien gegründet und für soziale wie kulturelle Vielfalt gesorgt. Man wolle den Heimatbegriff aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, so Karzel, ohne ihn aber nationalistisch zu überhöhen. Karzel ist froh um die Arbeit der Stadtschreiberinnen, die mit ihren Interviews und dem Lektorat eingesandter Geschichten, einen Gang durch die unterschiedlichen, ganz persönlichen Empfindungen Ludwigsburger Nachkriegsgeschichte bis heute bewahrten. Karzel hat vor, die Veranstaltung zu wiederholen. Stoff dafür gebe es genug. Seit 2014 sammeln Boger und Seibt sowie Doris Gräter diese Erinnerungen. Mehr als 30 haben sie schon zusammengetragen. Das reicht bei dem Umfang bereits schon heute für mehrere Abende. Und die beiden Damen machen weiter. Es sei spannend, wie die Biografien Leben und Abwechslung in die Stadt bringen würden. „Ohne uns alle wäre Ludwigsburg nur ein Museum.“

 

Werner Handel, heute 89 Jahre alt erzählte, wie seine Familie von Württemberg nach Bessarabien und wieder zurück geschickt wurde. Es ist eine Geschichte von jahrelanger Umsiedlung, Flucht und Vertreibung. Und wie es ihm ging als Kind, das dort geboren wurde, wie die Familie in den Kriegswirren auseinandergerissen wurde und wie er in Ludwigsburg als 17-Jähriger Fuß fasste.

 

An seinem vierten Geburtstag starb der Vater am 20. Dezember 1944 „für Führer, Volk und Vaterland“, steht in den Memoiren von Werner Hillenbrand, ein Gewerkschafter, „Sozi“ und später „Linker“, der sich zeitlebens für die Interessen von Arbeitnehmern einsetzte und das Arbeitslosenzentrum in der Bogenstraße gründete. Bis heute sei er vom Krieg traumatisiert. Der „Saumarkt“, auf dem heute das Marstallcenter steht, sei sein Revier. Kindheitserinnerungen. Auch an die „Tälesbanditen“ und die Zustände in der nicht ungefährlichen Unteren Stadt. Und den Versuchen, dem Armenviertel zu entfliehen.

 

Ebenfalls Kriegskind war Jürgen Tröber: 1939, fünf Tage vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurde er bei Leipzig geboren. Als Halbwaise wuchs er unter Frauen auf. Und er wurde in der DDR zum Ingenieursstudium „delegiert“. Und fiel in religiöser Familie durch Propaganda vom Glauben ab. Auch das der Beginn einer packenden Lebensgeschichte.

 

Eberhard Simon sagt: „Wer, außer mir, weiß, was gut für mich ist“. Er ist Ur-Ludwigsburger. 1956 hier geboren, betrieb er in dritter Generation die „Runde Ecke“ in der Myliusstraße, ein legendäres Spirituosengeschäft. Davor hatte er als 18-Jähriger der Schule gekündigt. Er hatte die Schnauze voll. Dafür interessierte er sich für „Negermusik“. Er wurde „Kommunarde“ und ein sehr bewegtes Leben nahm seinen Lauf. Er sagt: „Ich akzeptiere keine Belehrung. Alles, was ich je gelernt habe, habe ich aufgeschnappt oder ausprobiert. Ich war immer der Überzeugung: Ich kann das auch. Heute betreibt er den Bioladen Leuchtkäfer am Kaffeeberg. Von dem er selbst gebackenes Sesambrot mitbrachte.

 

Christina Theodoridou ist 33 Jahre alt und meint: „Ich hatte viele Steine auf meinem Weg“. Polyglott sei sie aufgewachsen, und verbrachte eine griechische Kindheit in der Weststadt. Dort ist ihre Heimat. „Ich könnte mir nicht vorstellen, woanders zu wohnen. Hier will ich bleiben“.

 

„Ich möchte für den Frieden arbeiten“, sagt der Kurde Bilal Hasaf, ein Mann, der 2015 vor dem Krieg in Syrien floh. Drei Monate hat seine abenteuerliche Reise nach Deutschland gedauert. Er ließ seine lebensgefährliche Fluchtgeschichte erzählen. Schließlich kam er in der Turnhalle am Römerhügel an, wo er es nicht aushielt. Er fand ein Zimmer in einer WG, dann kam er bei einer Familie unter. Über Pflugfelden sagt er: „Hier ist kein Krieg, hier wurde ich nicht verfolgt, hier war Frieden. Wir können uns alle lieben. Wenn wir gegeneinander kämpfen, dann kämpfen wir gegen uns selbst.“

 

Zum Abschluss Liebeserklärungen an Ludwigsburg. „Hier bin ich zu Hause“, „ich wuchs in eine neue bessere Welt hinein“ oder „Meine Freude steigt, wenn ich zurück nach Ludwigsburg komme.“ „Sie ist jetzt meine Stadt, die ich nicht mehr verlassen könnte.“




Die Erinnerungssammlerin

 

Von Hilke Lorenz 18. Januar 2015 – 07:00 Uhr

 

          Regina Boger hat einen Traum. Sie will ein Stadtpanorama aus den Geschichten ihrer Bewohner erstellen. Ihre Überzeugung: jeder hat etwas zu erzählen – auch wenn er sonst gar nicht in der Stadtgeschichte in Erscheinung tritt.

          Überall ereignen sich Geschichten. Regina Boger interessieren sie alle. Ludwigsburg – Was ist die Stadt? Wer verbirgt sich hinter der Idee vom Zusammenleben? Und aus wie vielen Menschen besteht die Stadt Ludwigsburg überhaupt? Das Einwohnermeldeamt würde sagen: aus 90. 368 Frauen, Männern und Kindern. Regina Bogers Antwort lautet ein bisschen anders. Für die seit Kurzem pensionierte Berufsschullehrerin und Theaterpädagogin verbergen sich hinter dem Konstrukt Stadt 90.368 ganz unterschiedliche Lebensgeschichten, die zusammen Ludwigsburg ausmachen. „Es gibt so viele Menschen in der Stadt, von denen niemand etwas weiß. Trotzdem bestimmen auch sie die Atmosphäre“, sagt die 65-Jährige.

            „Wir sind ja nicht nur ein Mensch“, fügt sie an. Die Menschen seien katholisch, evangelisch, muslimisch oder atheistisch, sie hätten Arbeit oder seien arbeitslos. Sie seien jung, alt oder zeitlos hipp. Sie seien prominent, oder sie treten für die Öffentlichkeit nie in Erscheinung. Sie sind hier aufgewachsen, kommen aus Italien, Syrien, der Türkei – oder aus Mühlacker wie Regina Boger. Die Reihe ließe sich schier endlos fortsetzen. Und das Faszinierende an ihr ist für Boger, dass jeder Mensch in gleich mehreren Reihungen vorkommen kann.

 

Zuhören ist lehrreich und nicht reiner Selbstzweck

           Regina Boger ist neugierig auf alle Facetten des Daseins. Für sie ist das Stöbern in fremden Lebensgeschichten jedoch nicht nur reiner Selbstzweck. Wenn sie sagt „da tun sich Welten auf“, dann meint sie, dass die einzelnen Lebensgeschichten denen, die von ihnen erfahren, die Welt erklären können. Zuhören ist lehrreich – das ist ihre Überzeugung. Und eine Stadt wie Ludwigsburg müsse auf ihr kulturelles Gedächtnis zurückgreifen können. Und deshalb wäre sie schon froh, wenn sie nur ein Promille – also 89 Geschichten – kennen würde.

           Wenn sie im Café sitzt, überkommt Regina Boger deshalb oft der Wunsch, die Menschen einfach anzusprechen und ihre Geschichten aufzu-schreiben. Aber das tut sie natürlich nicht – aus purer Höflichkeit.

  

 

Erzählen bei einer Teezeremonie

           Aber seit sie nun im Ruhestand ist, hat sie Zeit, sich diesem Wunsch auf eine bisschen diskretere Art und Weise zu nähern. Zusammen mit ein paar ähnlich neugierigen Mitstreiterinnen arbeitet sie am Projekt „LudwigsBürgerInnen – eine Stadtistik in Geschichten“, das sich trotz großem I aber nicht nur an Frauen richtet. In dem interkulturellen Literaturblog tezere.de – eine Ableitung von Teezeremonie – laufen die Geschichten im Moment ein. Nun findet Regina Boger die Erzähler zwar nicht im Café, sondern im Rahmen einer solchen Zeremonie im Wein- und Teeladen.

          Neulich hat eine Frau aus Bosnien ihre Geschichte erzählt, die sie so noch nie mitgeteilt hat. Neugierde und aufrichtiges Fragen lösen offenbar die Zunge – oder schaffen zumindest eine Atmosphäre, in der Menschen sich ihrem Gegenüber öffnen. Vor allem die, die sonst nicht gehört werden. Und wer mag, kann seine Geschichte selbst aufschreiben. Aber es gibt auch die, deren lebendiger Erzählfluss versiegt, wenn sie die eigenen Geschichte in Schriftform bringen wollen. Für sie gibt es das Angebot Bogers, die Geschichte aufzuschreiben. Sie kommt dann mit ihrem Schreibblock und protokolliert das Gesagte.

 

Person

Regina Boger (65) war ganz früh bei der Tanz- und Theaterwerkstatt. Sie arbeitete 28 Jahre im beruflichen Schulwesen, zuerst als Lehrerin, später als Beraterin im Bereich Schulentwicklung.

 

Sie stammt aus Mühlacker, hat in Möglingen gelebt und zieht nun wieder nach Ludwigsburg.

 

Projekt
           Das Team des Interkulturellen Literaturblogs sammelt Lebensgeschichten unter www.tezere.de. Man kann sich dort selbst registrieren und seine Geschichte einstellen oder auch die Hilfe der Macher in Anspruch nehmen.

 

Bogers Idee
           Es gibt so viel aus anderen Kulturen zu lernen, zu erleben, zu bestaunen, zu verstehen, zu erfahren, dass jede Kleinigkeit an Wissen ein großer Gewinn ist.“