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Ich wollte nicht nur überleben


Heimat

           Deutschland ist meine Heimat geworden. Ich will nicht zurück in den Irak. Es ist schön dort. Ich fliege in den Irak, um meine Familie zu besuchen. Ich habe mich in Deutschland geändert, die Menschen im Irak sind gleich geblieben. Nach drei Wochen wird mir langweilig, ich bekomme Heimweh – nach Deutschland. Meistens komme ich auf dem Flughafen in Düsseldorf an. Ich freue mich, wenn ich in Düsseldorf bin, endlich bin ich wieder in Deutschland. Dann fahre ich mit dem Zug nach Stuttgart und freue mich noch mehr. Meine Freude steigt, wenn ich nach Ludwigsburg komme. Wenn ich in Hochdorf bin, dann bin ich wirklich zu Hause! Wir haben sieben Jahre in einer Wohnung in Poppenweiler gewohnt, dort haben wir uns sehr wohl gefühlt. Seit zwölf Jahren haben wir ein Haus in Hochdorf. Wir kennen die Nachbarn, kommen gut mit ihnen aus. Ja, in Hochdorf bin ich zuhause.

          Der Irak ist ein reiches Land, aber eine Diktatur mit Folter und ohne Freiheit für das Volk. Wenn man nach Deutschland kommt, erlebt man diese

 

unbegrenzte Freiheit. Dann entwickelt sich Neid auf dieses Leben in Freiheit. Wenn man an die eigene Jugend mit Folter denkt und sieht, wie der Westen Saddam unterstützte, dann entwickelt sich Hass. Aber wenn man das Leben kennen gelernt hat, wenn man gelernt hat nachzudenken, überwindet man solche Gefühle. Ich habe die schrecklichen Erfahrungen hinter mir gelassen. Ich denke vielleicht zwei Mal im Jahr an diese Zeit. Wenn ein Kunde im Laden diese Jahre im Irak anspricht, kommen mir Tränen.

          Als ich deutscher Staatsbürger geworden bin, habe ich das Land noch mehr geliebt als zuvor. Deutschland ist meine Heimat. Hier leben meine Kinder. Sie sollen sich mit ihrer Heimat identifizieren.

          Meine Gedanken sind anders, wenn ich Kurdisch rede. Wenn ich an meine Mutter denke, spreche ich in Gedanken Kurdisch mit ihr. Wenn ich an einen Freund denke, spreche ich in Gedanken deutsch mit ihm. Mit meiner Frau und meinen Kindern spreche ich deutsch.



Als Kurde im Irak

           Mein Vater weinte, als ich den Irak verlassen musste. Wir verstanden uns sehr gut. „Du bist nicht nur mein Sohn, du bist auch mein Freund“, sagte er einmal zu mir. Die Kurden werden überall verfolgt. Die Diktatoren ließen uns nicht in Ruhe. Und Saddam Hussein war einer der schlimmsten. Das war der Grund, weshalb ich aus dem Irak fliehen musste.

           Meine Familie lebt in Sulaimaniya, einer Großstadt im Nordosten des Irak. Als ich in der elften Klasse des Gymnasiums war, engagierte ich mich politisch in einer Untergrundorganisation, einem Arm der kurdischen Partei PUK, der Patriotischen Union Kurdistans. Diese Partei stellte später, nach dem Sturz Saddam Husseins, den Staatspräsidenten Kurdistans, Jalal Talabani. Ich klebte also nachts Plakate gegen die Politik Saddam Huseins. Eines Tages kamen Geheimpolizisten in die Schule und holten mich aus dem Unterricht. Freunde von mir waren gefoltert worden und hatten meinen Namen preisgegeben. „Es dauert nur eine viertel Stunde“, sagten die Polizisten. Es dauerte keine viertel Stunde, sondern ein viertel Jahr. Die Geheimpolizisten brachten mich in ein Gefängnis. Meine Eltern erfuhren nicht, wo ich war. Sie waren in größter Sorge um mich.

Folter

           Zum Glück kam ich in eine Zelle mit drei Freunden. Die Erfahrenen bereiteten mich auf die Tricks der Folterer vor. Die Polizisten haben uns gedroht, Angst gemacht und versuchten uns einzuschüchtern. Wir unterstützten, pflegten und trösteten uns gegenseitig, wenn einer gefoltert worden war. Das stärkte uns sehr. Die Folterer holten immer Einen aus der Zelle, schlugen und folterten ihn und brachten ihn dann wieder zurück in die Zelle. Einige meiner Freunde von der Untergrundorganisation haben diese Qualen nicht ausgehalten, haben gestanden oder sind an den Folgen der Folter gestorben. Wenn man schweigt und die Folter durchhält, kann man

 Wenn man gesteht, bedeutet dies 20 Jahre Gefängnis oder gleich die Todesstrafe. Ich habe mich einfach dumm gestellt. Ich gab an, nicht zu wissen, was sie von mir wollten, konnte keine Namen nennen, weil ich ja mit niemandem etwas gemacht hatte. Ich ließ mich nicht einschüchtern, weder von ihren Demütigungen noch durch die körperlichen Schmerzen, die sie mir zufügten. Einmal stach mir ein Geheimpolizist mit seinem Messer fingertief in die Brust, nur ein paar Millimeter am Herzen vorbei. Das war ein Spezialist, der genau wusste, wie er zustechen musste, um mich in Lebensgefahr zu bringen und mich in Todesangst zu versetzen. Meine Freunde in der Zelle pflegten mich. Die Folterer ließen mich in Ruhe, bis die Wunde verheilt war. Danach ging die Folter weiter. Eines Tages provozierte ich sie: „Ich bin ein ehrlicher Mann“, sagte ich zu ihnen, „Ihr nicht. Ihr seid Sklaven von Saddam Hussein. Ihr werdet von ihm bezahlt, dass ihr mich foltert. Ihr seid Schwächlinge!“ Danach schlugen sie mich bis zur Bewusstlosigkeit. Als ich wieder zu mir kam, musste ich eine Erklärung unterschreiben, dass ich mich nie wieder politisch betätigen würde. Wenn ich mich an dieses Verbot nicht halten würde, wäre dies mein Todesurteil.

           Die Geheimpolizisten schickten mich nach Hause. Sie setzten mich in ein Taxi, denn ich sah so fürchterlich aus, dass ich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren konnte. Sie nahmen mir zuvor noch das Versprechen ab, mit niemandem über die Folter zu reden. Als ich an die Türe unseres Hauses klopfte, öffnete meine Mutter und wollte die Türe gleich wieder schließen. „Mutter, ich bin’s, dein Sohn“, sagte ich. Sie starrte mich an und brach in Tränen aus. „Wo warst du? Was haben sie mit dir gemacht?“ wollte sie wissen. Ich sagte nichts. Ich hatte Angst, die Geheimpolizei würde erfahren, dass ich mit meinen Eltern gesprochen hatte und ich würde wieder gefoltert werden. Ich war 17 und hatte eine Angst kennen gelernt, von der ich zuvor nichts geahnt hatte. Die Folter hatte gewirkt. Meine Mutter pflegte mich gesund.



Weil ich so lange nicht in der Schule war, musste ich die elfte Klasse wiederholen. Nach zwei Jahren, das war 1983, machte ich das Abitur und ging zum Studium nach Kerkuk. Inzwischen war der Krieg zwischen dem Irak und dem Iran (1980 – 1988) in vollem Gange.

           Ich hatte mich für Elektrotechnik eingeschrieben, konnte mich aber nicht auf das Studium konzentrieren. Ich fand sehr merkwürdig, dass das Universitätsgelände eingezäunt war und man einen Ausweis zeigen musste, wenn man das Uni-Gelände betreten wollte. Die Geheimpolizei konnte so kontrollieren, wer sich auf dem Gelände befand. Der Krieg Saddam Husseins gegen den Iran und gleichzeitig gegen die Kurden beschäftigte mich so sehr, dass ich mich wieder politisch engagierte. Die PUK führte mit Saddam Friedensverhandlungen, doch ich setzte nur wenig Hoffnungen in diese Verhandlungen. Mich beunruhigte, dass alle Studenten eine paramilitärische Ausbildung machen mussten. Das hieß, dass alle Studenten am Morgen drei Stunden lang exerzieren mussten, danach erst begannen die Vorlesungen. Die Studenten aus Sulaimaniya waren die Einzigen, die sich weigerten, an dieser Ausbildung teilzunehmen. Deswegen wurde uns das Studienjahr nicht anerkannt. Wir mussten es also wiederholen.

Rettung durch Freunde

           Als ich an einem heißen Sommertag 1984 aus der Vorlesung kam, fuhr ein Geländewagen mit vier Insassen und vier Kalaschnikows neben mir her. Die Männer mit den Kalaschnikows starrten mich die ganze Zeit an. Auf dem Weg zur Mensa sah ich meine Freunde vor der Mensa mit gepackten Koffern stehen. Das verstand ich nicht, denn das Studienjahr dauerte noch einen Monat. Vor dem Uni-Gelände stand ein Kleinbus für 20 Personen. Meine

Freunde drängten mich in den Bus. Dort standen meine Koffer, die meine
Freunde für mich gepackt
hatten. „Was ist los?“, wollte ich wissen, „wo fahren wir hin?“ – „Nach Hause. Setz dich hin, frag nicht weiter“, antworteten sie und fingen an, Witze zu reißen und Geschichten zu erzählen. Der Geländewagen folgte uns. Unser Bus fuhr kreuz und quer durch die Stadt und schließlich auf einer Nebenstraße in die Wüste. Der Geländewagen hatte uns aus den Augen verloren
glücklicherweise. Ich verstand nicht, weshalb sie nicht auf die Autobahn fuhren. Kerkuk liegt etwa eine Autobahnstunde von Sulaimaniya entfernt. An jeder Autobahnauffahrt gab es einen Kontrollpunkt der Geheimpolizei. Man musste anhalten und die Ausweise zeigen. Wenn man an so einem Kontrollpunkt von der Geheimpolizei entführt  wurde, bedeutete das den sicheren Tod. Unser Bus fuhr durch die Wüste und das bei 45° Celsius. Wenn ich fragte, was sie zu diesem Irrsinn trieb, lachten sie, machten ein paar Witze oder fingen an zu singen. Als wir nach vier Stunden in Sulaimaniya angekommen waren, ließen sie mich aussteigen, drückten mir meine Koffer in die Hand, gaben mir einen Tritt in den Hintern und sagten: „Geh nach Hause und komm nie wieder zurück. Wir sind durch die Wüste gefahren, damit du sicher heimkommst.“

          Erst neun Jahre später erfuhr ich den Grund für das seltsame Verhalten meiner Freunde. Ein Freund hatte gehört, wie ein Geheimpolizist am Kontrollpunkt des Uni-Geländes zu einem anderen gesagt hatte: „Wenn Ihr Karwan seht, dann entführt ihn. Nicht festnehmen.“ Dieser Freund trommelte sofort alle unsere Freunde zusammen und organisierte den Bus. Ein anderer packte meine Koffer. Die Geheimpolizei konnte mich nicht festnehmen, weil zu viele Studenten um mich herum waren. Das wären alles Zeugen gewesen und Zeugen sollte es bei Entführungen nicht geben. Die Geheimpolizei ließ Menschen verschwinden und niemand wusste etwas.



Flucht über die Berge in Begleitung der Mutter          

          Mir war klar, dass mir meine Freunde das Leben gerettet hatten, auch wenn sie mir nichts sagten. Zu meinen Eltern sagte ich: „Entweder muss ich ins Ausland gehen oder in die Berge.“ In den Bergen war die kurdische Armee. Ich war schon immer pazifistisch eingestellt.  Ich glaube bis heute nicht, dass man einen Konflikt mit militärischen Mitteln lösen kann. Deshalb kam es für mich nicht in Frage, mich als Kämpfer der kurdischen Armee anzuschließen. Ich hatte keinen Pass, also konnte ich nicht legal ins Ausland gehen. Freunde besorgten mir einen Ausweis, mit dem ich in den Iran einreisen konnte. Das bedeutete, dass ich mit Schmugglern über eine 4000 Meter hohen Pass gehen musste. Meine Mutter bestand darauf, mich bis zur Grenze zu begleiten. Zur Unterstützung nahm sie noch eine Verwandte und eine Freundin mit. Wir ritten auf Pferden über enge und steile Pfade. Wir mussten auf den Pferden reiten, weil die Pferde auf den steinigen Pfaden sicherer gingen als wir es gekonnt hätten. Jeder falsche Schritt hätte uns das Leben kosten können. Mein Pferd war auf dem rechten Auge blind und rechts ging es in die Tiefe. Ich krallte mich in der Mähne des Pferdes fest und schaute konsequent nach links zu den Felswänden. Als wir an der irakisch-iranischen Grenze angekommen waren, wurde ich krank. Meine Mutter und die beiden Frauen pflegten mich eine Woche lang. Als ich wieder gesund war, wollte meine Mutter mich überreden, mit ihr nach Hause zurückzukehren. Ich kehrte auch mit ihr zurück, aber aus einem anderen Grund, als sie dachte. Ich wollte sie und ihre Begleiterinnen nicht alleine diesen beschwerlichen Weg gehen lassen.

Flucht auf einem Esel

           Ich blieb eine Woche bei meinen Eltern. Während dieser Zeit überredete mich ein Freund, mit ihm zu fliehen. Wieder machten wir uns mit Schmugglern auf den Weg ins Gebirge. Dieses Mal ritt ich auf einem Esel. Ich liebe Esel – und Nashörner. Als wir die iranische Grenze erreicht hatten, stellten wir uns der Polizei. Das war im Juli 1984, ich war 21 Jahre alt. Die Polizei brachte uns nach Teheran in ein Asylantencamp für Iraker.
          Da wir das Camp tagsüber verlassen konnten, nützte ich diese Gelegenheit, mich zu erkundigen, wie ich in den Westen kommen könnte und knüpfte Kontakte. Über Beziehungen bekam ich Kontakt zur Außenstelle der kurdischen Zentralpartei. Diese Außenstelle stellte mir einen Passierschein nach Syrien aus. Damit konnte ich den Iran verlassen. Den iranischen Grenzkontrolleuren war es egal, wohin ich ausreiste und so stieg ich unbehelligt in ein Flugzeug nach Istanbul.
          In Istanbul wurde es noch einmal gefährlich, da die türkische Regierung gute Beziehungen zu der irakischen Regierung unterhielt. Ich blieb fünf Stunden im Transitbereich, bis ich ein Ticket nach Ost-Berlin bekam. Als das Flugzeug den iranischen Hoheitsbereich verlassen hatte, tanzten wir – das waren 150 Iraker – vor Freude im Flugzeug herum. In Ost-Berlin wollte man keine Asylanten. Die DDR- Regierung war froh, dass wir in den Westen wollten und ließ uns problemlos passieren. Sie hoffte, dass die Asylanten der BRD Probleme bereiten würden.



Die erste Zeit in Deutschland

           Freunde erwarteten uns in West-Berlin. Nachdem ich Asyl beantragt hatte, wurde ich nach Karlsruhe zu der Erstaufnahmestelle geschickt, von dort aus nach Tübingen. In Tübingen wohnte ich in einem Asylbewerberheim, das in einer ehemaligen französischen Kaserne untergebracht war.  Es dauerte einundeinhalb Jahre, bis ich als Asylant anerkannt war und eine Aufenthaltsgenehmigung bekam. Diese Zeit nützte ich, um Deutsch zu lernen. Ich besorgte mir ein deutsch-arabisches Wörterbuch und eine Grammatik, die mir Freunde empfohlen hatten. Einmal in der Woche besuchte ich einen Deutschkurs an der Volkshochschule. Dann begann ich deutsche Bücher zu lesen. Genug Zeit hatte ich ja. Nach acht Monaten konnte ich einigermaßen deutsch. Guido, ein deutscher Medizinstudent, fuhr mit mir einen Tag lang im Auto durch Tübingen und Umgebung. Am Ende des Tages sagte er: „Ab jetzt rede ich nur noch deutsch mit dir. Du kannst es, aber du schämst dich!“ Er hatte Recht. Ich schämte mich, weil ich nicht perfekt deutsch konnte.

           Mir fiel es immer leicht, Fremdsprachen zu lernen. In der Kaserne wurde ich schnell zum Übersetzer für Arabisch, Persisch, Englisch und Deutsch. Deswegen bekam ich ein Einzelzimmer. Das war mir recht. Ich hatte zwar viele Kontakte zu Afrikanern, Arabern und Iranern, hielt mich aber auch etwas fern von ihnen, weil sie viel Streit untereinander hatten. In diese Streitereien wollte ich nicht hineingezogen werden, um nicht mit der Polizei in Kontakt zu kommen.

            In der Kaserne gab es eine Teestube, in die viele deutsche Studenten kamen. In diese Teestube ging ich oft, weil ich Kontakte zu Deutschen knüpfen wollte. Denn  Deutschland war meine Zukunft. Ich wollte nicht nur überleben, sondern hier eine neue Existenz aufbauen.

 

Liebe

          In der Teestube lernte ich auch meine Frau kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie kam einmal in der Woche in die Teestube. Sie kam meist mit

anderen Studenten zusammen, wir begegneten uns immer in der Gruppe, nie alleine. Wenn wir uns zum Abschied die Hand gaben, wollten sich unsere Hände nicht mehr voneinander lösen.

           Eines Tages, es war inzwischen Sommer 1986, war ich auf dem Weg zur

Bank, um Geld für die Fahrkarte nach Schweden abzuheben. Als ich um die Ecke beim Nonnenhaus bog, stieß ich beinahe mit Liz zusammen, die ihre Mutter zum Bahnhof gebracht hatte. Liz‘ Studienjahr in Tübingen war zwar in einigen Wochen zu Ende, aber ihre Mutter hatte noch sehen wollen, wo und wie ihre Tochter in Tübingen lebte. Ja, und ich war gerade dabei, mir eine Fahrkarte nach Schweden zu kaufen. Bevor ich den Deutschkurs für Studenten in Fürth begann, wollte ich Schweden kennen lernen. Wir verabredeten uns für den Abend, um ein Fußballspiel anzuschauen. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr genau, wer gegen wen spielte, weil es in diesem Augenblick Wichtigeres gab als Fußball. Wir verbrachten die ganze Woche zusammen bis zu meiner Abfahrt nach Schweden. Wir wussten, dass wir zusammenbleiben wollten. Für immer. Liz entschied sich, ihre Sommerferien in Tübingen zu verbringen. Als ich aus Schweden zurück war, bekamen wir die Wohnung einer Freundin, die einige Zeit im Ausland verbrachte. Als der Sommer zu Ende ging, musste Liz zurück nach England, um ihr Studium zu beenden und ich begann meinen Deutschkurs für ausländische Studenten in Fürth. Für mich war der Deutschkurs natürlich leicht, weil ich schon ziemlich gut deutsch konnte. Aber ich lernte trotzdem viel, vor allem auch die Wissenschaftssprache.

          Nach acht Monaten konnte ich in Bochum das Studienkolleg besuchen, das ich brauchte, damit meine irakische Hochschulreife in Deutschland aner- kannt wurde. Liz kam nach Bochum, das war 1987, und wir waren endlich wieder zusammen. Nachdem ich das Kolleg abgeschlossen hatte, bekam ich einen Studienplatz für Architektur an der Fachhochschule in Stuttgart.

 



 

 Das Teelädle

           Liz und ich fanden eine Wohnung in Schorndorf. Um mein Studium zu finanzieren, arbeitete ich im Wein- und Teelädle in Schorndorf, Liz machte eine Ausbildung in der Gastronomie. Nach dem Studium fand ich keine Arbeit als Architekt. Der Besitzer des Tee-Lädles, Werner Neher, bot mir eine Stelle in seinem Teelädle an. Die nahm ich gern an. Mir gefiel die Arbeit von Anfang an. Ich rede gern mit Menschen. Die meisten Menschen, die ich kenne, mag ich und sie mögen mich.   
          Nun hatten wir beide ein Einkommen. Wir heirateten 1994 in England. 1995 schlug mir Werner Neher vor, mich selbständig zu machen und selbst ein Wein- und Teelädle zusammen mit meiner Frau Liz aufzumachen. Dieser Vorschlag gefiel uns und so eröffneten wir 1995 das Wein- und Teelädle in Ludwigsburg. In Poppenweiler fanden wir eine Wohnung. Nun führten wir das ruhige Leben, das ich mir gewünscht hatte. Eine angenehme Arbeit, freundliche Nachbarn, Leben auf dem Land und eine gute Verbindung zur Stadt. Ich brauche die Weite, die Ruhe und die frische Luft des Landes. Es reicht mir, wenn ich in der Stadt arbeite.

 

Familie 
          1997 kam unsere Tochter zur Welt und 1999 unser Sohn. Wir sind eine glückliche Familie. Meine Frau und ich teilen uns die Arbeit im Wein- und

Teelädle. Wenn wir auseinander gingen, wollte ich nie mehr eine andere Frau haben. Ich weiß, dass sie mich liebt und dass sie mir treu ist. Ich bin auch ihr treu. Treue gehört zum Leben. Wenn kein Vertrauen da ist, kann man nicht treu sein. Wir sind abhängig voneinander. Liz und ich teilen uns die Arbeit im Lädle und in der Familie. Es ist schwierig, aus einer anderen Kultur zu kommen und die Richtige zu finden.
                                                                                                                                    

Kinder

           Meine Tochter hat dieses Jahr Abitur gemacht und studiert in Tübingen Wirtschaftswissenschaften und Jura. Ich traue ihr ein Doppelstudium zu. Sie hat fürs Abi nicht viel gelernt und doch gute Noten bekommen. Sie war vor dem Abitur vor allem mit der Abi-Zeitung und mit der Organisation des Abi-Balls beschäftigt. Auch mein Sohn ist gut in der Schule.
          Ich habe meine Kinder nie mit Gewalt zum Lernen gezwungen, sondern habe ihr Denkvermögen aus ihnen herausgekitzelt. Mir war immer wichtig, dass sie gut in Mathe sind. Wer Mathe kann, kann alles andere auch. Als die Kinder klein waren, haben sie mich viel gefragt. Nebenbei habe ich ihnen Mathe-Aufgaben gestellt. Das hat ihnen Spaß gemacht. Das Mathe-Problem gibt es nur in Deutschland. Die Eltern sagen zu ihren Kindern: Nicht so schlimm, ich habe Mathe auch nie kapiert. Dann ist es doch kein Wunder, wenn die Kinder auch nicht Mathe kapieren. Ich habe meine Kinder immer ermutigt zu lernen. Mein Sohn konnte schon mit vier Jahren die 12er-Reihe. Meine Tochter wusste bei Mathe-Aufgaben immer sofort das Ergebnis. Ich musste ihr beibringen, dass sie ihren Denkprozess Schritt für Schritt aufschreibt. „Du musst dem Lehrer erklären, wie du zu dem Ergebnis gekommen bist“, sagte ich ihr. Meine Tochter denkt sehr analytisch, mein Sohn ist verträumter, wie alle Jungs.

           Mir ist wichtig, dass meine Kinder respektvoll mit meiner Frau und mit mir umgehen. Als mein Sohn etwas Gemeines zu meiner Frau gesagt hat, bin ich wütend geworden: „Deine Mutter hat dich neun Monate in ihrem Bauch getragen! Wie kannst du es wagen, so mit ihr zu sprechen?“ sagte ich mit lauter Stimme. „Die Anderen reden auch so mit ihren Eltern“, antwortete mein Sohn. „Das ist mir ganz egal“, entgegnete ich ihm, „in unserer Familie gelten unsere Regeln. Und solche Worte will ich in unserem Haus nicht hören!“



Meine Eltern
         
waren sehr lieb zu mir und meinen vier Geschwistern. Sie haben uns nie geschlagen. Aber an den Augen unseres Vaters haben wir gesehen, wenn wir ihn geärgert hatten. Er erzog uns ohne Beleidigung, ohne Schimpfwörter und ohne Gewalt.

          So erziehen wir auch unsere Kinder. Ich habe meine Kinder nie angefasst. Ich habe mich auch schon entschuldigt, wenn ich zu hart zu meiner Tochter war, weil sie zu spät nach Hause gekommen war. Ich hatte vier Wochen Hausarrest verhängt, fand das aber nachträglich ungerecht und übertrieben. Deswegen konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Am nächsten Morgen nahm ich meine Tochter in den Arm und erklärte ihr, dass ich aus Sorge um sie so wütend geworden war und die Strafe zur Bewährung aussetzen wolle.

Religion und Ethik

           Als ich im Irak gefoltert wurde, habe ich geschrien: „Gott, hilf mir!“ Die

Folterer lachten und sagten: „Gott ist in Urlaub.“ Seither glaube ich nicht mehr an Gott.  Ich bin zu Menschen freundlich, weil sie Menschen sind, nicht weil ich ins Paradies kommen will. Seit 15 Jahren habe ich Ruhe im Leben. Ich glaube an die Wissenschaft, nicht an einen analphabetischen Religionsgründer von vor 2000 Jahren.
          Ob Bibel oder Koran – das sind für mich Märchenbücher. Ich habe weder Angst vor der Hölle noch vor Gott. Ich kann ohne Angst meine Meinung sagen. Wenn ich sterbe, ist es das Ende wie im Film. Ich glaube an Menschen.
          Es geht um Vertrauen, darum ein guter Mensch zu sein. Es geht auch um Respekt. Jeder Mensch hat Respekt verdient, weil er ein Mensch ist. Das Aussehen, die Herkunft, die Sprache, die Religion – all das spielt keine Rolle. Aus dem Respekt vor den Menschen entwickeln sich Liebe und Treue. Ich bin ein großherziger Mensch. Ich helfe gern, bedingungslos. Ich mag Menschen, wenigstens die allermeisten, und sie mögen mich.



Erzählt von Karwan Merza, geschrieben von Regina Boger im August 2015
Titelbild: Fotos Suresh, Design Dietlinde Hachmann
Fotos im Text: Privatbesitz