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Mein Weg nach Ludwigsburg. Wie ich Stadt und Leute kennen und lieben lernte

          Einst stand meine Wiege in Tachau, ein Städtchen mit historischer Stadtmauer, an der alten Handelsstraße von Prag nach Nürnberg im Mittelalter, in der Nähe von Marienbad und Eger beschaulich gelegen. Im heutigen Tschechien trägt sie den Namen Tachov!

           Nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg wurden wir von dort vertrieben und strandeten nach einer vierwöchigen Odyssee mit dem Zug in Viehwaggons in der Lutherstadt Mansfeld in Thüringen. Weiter ging es gen Westen und wir fanden Zuflucht in Prevorst Landkreis Ludwigsburg. In dem idyllischen Bergdorf mit ihrer hilfsbereiten Dorfgemeinschaft damals, wohnten wir bis 1950. Unruhige Jahre und Zeiten eines geschundenen Landes im Wiederaufbau folgten und dem Ruf einer befreundeten Flüchtlingsfamilie nach Weinsberg zu kommen, gelangten wir dorthin.

          Auf meinem Schulweg ging ich mindestens zweimal am Wohnhaus von Arzt und Dichter Justinus Kerner vorbei, neben dem Geisterturm, der in seinem Garten stand. Wie unter Magie zog das Anwesen meine Blicke auf sich, in dem kurzweilig auch die Seherin von Prevorst lebte zur Behandlung bei Medicus Kerner. Im Frühjahr 1960 sind wir dann von Weinsberg nach Ludwigsburg gezogen. Der Abschied nach einem Jahrzehnt fiel dem Knaben von 15 Jahren tränenreich schwer damals.

           Zuerst war ich der Seherin von Prevorst nach Weinsberg gefolgt und nun gehst Du den umgekehrten Weg deines verehrten Dichters Kerner von Weinsberg in seine Geburtsstadt Ludwigsburg! Zufall, Vorherbestimmung? Viele dieser Gedanken beschäftigten mich auf der Reise nach hierher.

 



          Nie zuvor war ich jemals in der Barockstadt gewesen, kannte sie nur aus meinem Schulatlas.

          Im Postamt 1 gegenüber dem  Bahnhof  Ecke Myliusstraße dem großen Haus mit der schmucken, beeindruckenden Fassade und ihren barocken Fenstern, begann ich im April desselbigen Jahres meine Ausbildung als Postjungbote.

          Die Infrastruktur, das ganze urbane Leben, den Herzschlag einer bis dahin mir vollkommenen, fremden, ungewohnten Stadt kennenzulernen, als Briefträger, das waren optimale Bedingungen und Voraussetzungen. Ich lernte sehr schnell.

           Wir bezogen eine Wohnung in der Unteren Stadt nahe dem Orgelbau „Walcker-Areal,“ sowie der „Lochkaserne“, wie sie im Volksmund genannt wurde. Mit der skurrilen Bezeichnung konnte ich zu der Zeit noch nichts anfangen, auch nicht mit dem Titel „Tälesbandit“, den ich von meinen Kollegen bald verliehen bekam.

           Doch als ich einmal später auf dem Nachhauseweg zu nächtlicher Stunde mit meinem Freund Jürgen, von fünf angetrunkenen Raufbolden übel verprügelt wurde, denen wir beide zufällig über den Weg liefen, nachdem sie aus dem Gasthaus „Holländer“ kamen, dämmerte es mir. Danach machte ich zum ersten Mal mit dem Ludwigsburger Krankenhaus Bekanntschaft, worauf ich selbstverständlich gerne verzichtet hätte. Das Rätsel vom „Tälesbandit“ war somit auch aufgelöst worden, ich wusste es fortan ... Selbst zählte ich mich aber nicht zu der Klientel, ich wohnte nur zufälligerweise dort unten   … Die Namensgebung „Lochkaserne“ kenne ich inzwischen auch und was sich dahinter verbarg dereinst.

           Es war eine interessante Zeit als jugendlicher Postbote unterwegs sein zu können in den Straßen, Gassen und Plätzen tagaus, tagein. Viele Persönlichkeiten des damaligen öffentlichen Lebens durfte ich persönlich kennen lernen, wenn ich ihnen die Briefe ins Haus brachte. Viele nette Dialoge und Anekdoten mit diesen teils allen freundlichen Menschen sind mir bis heute in bester Erinnerung geblieben.

           So zum Beispiel die schwedische Schlagersängerin Bibi Johns, sie wohnte zu der Zeit in der Königinallee. Meistens wartete sie schon am Briefkasten auf mich, eine schöne, blonde junge Frau, die auch nie mit Trinkgeld geizte.

            Altlandtagspräsident Wilhelm Keil, der in der gleichnamigen Straße wohnte, stand auch jeden Tag schon an seinem Gartentor, wenn ich kam. Noch heute habe ich das Bild vor Augen und sehe den alten Herrn mit seinem weißen Spitzbart dort stehen und höre seine Stimme, wenn er mir ein freundliches „Guten Morgen, junger Mann“ zuraunte, dabei aber immer einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr warf, ob ich mich nicht verspätet hatte. Meine Posttasche war danach ziemlich leicht geworden, denn Herr Keil bekam jeden Tag viele Briefe und ich nahm mit viel Schwung die Treppen hinab zur Landhausstraße hinterher!

          Hier wohnte Dr. Rudolf Briel, der vielen Ludwigsburgern in das Leben verhalf als Chefarzt der Gynäkologie am hiesigen Klinikum. Bei ihm angelangt, war meine Posttasche endgültig leer und ich machte mich in jeder Beziehung erleichtert auf den Heimweg zum Postamt 1. Der Dienst war beendet dann, und ich schwang mich im Sommer auf mein Fahrrad und fuhr ins Hohenecker Freibad, am Neckar gelegen, um den Nachmittag im erfrischenden Nass zu
genießen mit Freunden. Doch leider war die Mückenplage am Fluss ein sehr großes Übel damals und man war mit wildem Um-sich-schlagen beschäftigt, kam man aus dem Wasser heraus.

                          Ein ganz besonderer Tag hat sich bis heute in meine Seele unauslöschlich eingebrannt, der 9. September1962! Nicht nur für unsere Stadt historisch, sondern für die Bundesrepublik Deutschland im Besonderen. 

Der französische Staatspräsident „Charles de Gaulle“ und seine fulminante Rede in Deutsch gehalten aus dem Extemporale an die Deutsche Jugend, zu der ich mich damals mit meinen 17 Lenzen auch zählte im Innenhof des Ludwigsburger Schlosses, hat mich zutiefst beeindruckt bis zum heutigen Tage.

            Ich war mit meinem gelben Dienstfahrrad auf dem Rückweg von der Marbacher Straße, wo ich an dem Tag die Post zustellte. Unterwegs hörte ich seine kräftige, sonore Stimme über die Lautsprecher. Die Stuttgarter Straße, also die B 27, war gesperrt. Ein großes Polizeiaufgebot vor dem Eingang zum Schloss postiert.

           Ich, der kleine harmlose Briefträger in seiner blauen Uniform und Mütze auf dem Kopf, wurde schroff abgewiesen, durfte nicht passieren und wurde umgeleitet über die Heilbronner Straße und Abelstraße zum Postamt 1. An dem Tag habe ich mich darüber geärgert, des Umweges wegen, den ich nehmen musste deswegen. Denke ich heute daran zurück, bin ich sogar ein wenig stolz so hautnah an dem staatstragenden Ereignis zwischen Frankreich und Deutschland dabei gewesen zu sein und fühle mich daher ein wenig als Zeitzeuge!         

Meiner Frau Renate wird dieser Satz sehr gefallen, wenn ich schreibe, dass mir das größte Glück meines Lebens, nämlich sie, in der Mendelssohnstraße bei der Briefzustellung begegnet ist. Wir verliebten uns ineinander, wurden ein Paar, die gebürtige Ludwigsburgerin aus der Weststadt und der ehemalige zugezogene Flüchtlingsjunge.

           Im Laufe der Jahre war ich ehrgeiziger geworden, der Träumer und Romantiker erwachte. Bei der Post sah ich kein berufliches Weiterkommen mehr und wechselte zu den Stadtwerken Ludwigsburg beim Altes Gaswerk an der Heilbronner Straße, auf dessen Areal sich heute die Feuerwehr befindet. Viele Jahre wirkte ich im Betriebsrat mit, denn Gesellschaft und Allgemeinwohl lag mir immer am Herzen.

           Oft und gerne gehe ich die alten Wege von einst, wehmütig und gedankenverloren. In einem halben Jahrhundert hat sich vieles in unsere Stadt zugetragen, sowie verändert. Altes musste dem Neuen weichen. Der Trend unserer Epoche. Auch die Menschen unterliegen dem. Die Jungen sind alt geworden, und die Alten sind gestorben. Auf meinen Spaziergängen über unsere Friedhöfe wird mir dies jedes Mal auf das Neue bewusst.

           Ich erinnere mich noch an Namen, wenn ich an den Häusern vorbei schlendere in den Straßen, die dereinst da wohnten. Die Hunde der Anwohner kommen mir in den Sinn, mit denen ich so meine liebe Not oft hatte als Post bote! Hie und da lese ich die Schriftzüge auf den Briefkästen in alter gewohn-  ter Weise … und siehe da, den Einen, oder Anderen erkenne ich noch, vielleicht in der Nachfolge, das ist schön, denke ich mir dabei und es stimmt mich melancholisch.



          Meine Liebe zur Literatur, sowie Poesie, geht auf das Kernerhaus in Weinsberg zurück. Doch hier in Ludwigsburg, fand ich eine wunderbare Fortsetzung bis hin zu Mörike, Vischer, Strauß, den großen Söhnen aus unserer Stadt im 19. Jahrhundert. Und nicht zuletzt Friedrich Schiller, der Kindheit und Jugendjahre in ihren Mauern zubrachte und aufwuchs. Sie alle haben Spuren hinterlassen von unschätzbarem Wert und literarischer Bedeutung und erheben die alte, ehemalige Residenzstadt kulturell weit über die Landesgrenzen hinaus an Bekanntheit.

            Geben wir uns einmal dem Gedanken hin, dass um ein Haar „Wolfgang Amadeus Mozart an den Württembergischen Hof von Herzog Carl Eugen gekommen wäre als er im Jahre 1763 mit seinem Vater Leopold in Ludwigsburg weilte und dem damaligen Hofkompositeur Jommelli vorspielte. Der dessen Begabung wohl erkannte und deshalb um seinen Job fürchtete und dem Herzog darauf mitteilte: „Der Knabe sei nur wenig begabt!“ Was für eine Vorstellung, dieser Genius Mozart am Ludwigsburger Schloss und Musenhof! Auf meinen alltäglichen Spaziergängen im Rentnerdasein und ergraut inzwischen, fühle, empfinde ich eine tiefe Verbundenheit und Liebe zu meinem Ludwigsburg, auch wenn ich ab und an zu Justinus Kerner nach Weinsberg heimkehre, ihn auf dem Friedhof besuche, wo er mit seinem „Rikele“ ruht Seite an Seite.

          Ich bin hier glücklich geworden, lebe gerne hier und meinen Eltern noch heute dankbar, dass wir vor nunmehr 57 Jahren in diese schöne, charmante Stadt, die selbst so viel Poesie verströmt mit dem lieblichen Flair des Blumenzaubers aus dem Blühenden Barock umgezogen sind.

 

 

Josef Wolfinger
Im März 2017

           Ludwigsburg gibt sich heute als eine moderne, weltoffene, interaktive Stadt mit vielen kulturellen Events! Auch die Bürgerinnen und Bürger, verinnerlichen und leben diesen Stil. So zum Beispiel die Schlossfestspiele, deren eifriger Besucher ich geworden bin in den vergangenen Jahren. Bei der Liedertafel Ludwigsburg singe ich mit im Tenor und Friedrich Nietzsches Aussage: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ findet meinen Zuspruch. Auch Friedrich Schiller hat sich diesbezüglich einmal so geäußert, indem er schrieb: „Das Schöne blüht nur im Gesang!“

           Vor drei Jahren bin ich noch einmal in die Stadt meiner Geburt zurückgekehrt, und mit den Augen Abschied von ihr genommen. Was wäre, wenn …?

          Traurig und erzürnt bin ich jedoch über das Fällen von gesunden Bäumen, im Favoritepark, sowie im Salonwald jedes Frühjahr. Wenn dieses brachiale Treiben so weitergeht, werden die so wichtigen Erholungsoasen für Mensch und Tier bald für immer verschwunden sein.

           Ich habe den Eindruck, sie wissen nicht mehr was sie tun und halte das für einen nicht mehr wiedergut zu machenden Frevel an der Natur.

 

„Nie erschöpf ich Wege und Pfade in der Stadt,

 Die so viel Schönes hat.

 Dichterkunst und Erfindergeist von hohem Rang,

 Geben Ludwigsburg einen schönen Klang.“