Begegnung mit einer Tamilin

          Das erste Mal begegnete ich ihr in der Stadt. Sie kam aus dem Bürgerbüro. Ihre Körperhaltung, das dunkle, runde Gesicht, die gewellten, pechschwarzen Haare, die Art, wie sie die Handtasche trug, alles deutete darauf hin, dass sie eine Dravidin ist, aus Srilanka stammt und Tamil spricht. Da ich selbst ein Dravide bin und die tamilische Sprache spreche, erkenne ich so etwas leicht, auch wenn die Tamilen* aus Singapur, Malaysien und Mauritius etwas anders aussehen. Die Evolution spielt ihre Rolle darin. Daher packt mich jedes Mal die Neugierde und ich möchte meine Feststellungen bestätigt wissen.

           Obwohl sie unsicher wirkte, strahlte sie ein gewisses Maß an Stolz aus. Sie sah mich die Straße herunterlaufen und erfasste aus meinem Lächeln, dass ich vorhatte, sie anzusprechen.

நமஸ்காரம் ‚Namaskaram‘, sagte ich freundlich.

           Auf meinen vorsichtigen tamilischen Gruß blieb sie stehen. Das war ungewöhnlich. Üblicherweise reagiert eine Frau aus Sri Lanka weder auf den Blick, geschweige denn auf den Gruß eines Mannes. Sie blieb aber stehen, ihr Blick war offen.

           சுகமா ‚Sugama?‘, fragte ich auf Tamil. Es sind die Fragen nach ihrem Befinden, ihrem Hiersein. Sie antwortete in Tamil. Doch sobald Passanten an uns vorbeiliefen, wechselte sie ins gebrochene Deutsch und in die ‚Du‘-Form. In Tamil jedoch Ihrzte sie mich in einer Höflichkeitsform, die Respekt voreinander und eine gewisse Distanz ausdrückt. So hat man auch im europäischen Mittelalter gesprochen.

           „Ihr seid schon länger hier?“, fragte sie mich in Tamil. „Ich habe Euch schon Mal gesehen, ich arbeite im Einkaufszentrum“, sagte sie ungefragt. Nach einigen Standardsätzen und nach Austausch von üblichen Fragen neigte sich das Gespräch dem Ende zu.

Sie lachte laut und herzlich. Ihre Kleidung war westlich, sauber, dezent, aber irgendwie nicht modisch zusammenpassend. Sie hatte keinen Punkt auf die Stirn gemalt, der bei Inderinnen oder Frauen aus Sri Lanka üblich ist. Meist gehören sie der hinduistischen Religion an. Ihr Alter schätzte ich auf dreißig Jahre.

          Die Frage nach ihrer Familie ließ sie unbeantwortet, im Gegenteil, sie lenkte ab, tat so, als ob sie die Frage nicht ganz verstanden hätte und lief weiter mit einem Abschiedsgruß ‚Tschüss‘.

           Das zweite Mal traf ich sie, als ich auf dem Weg zum interkulturellen Fest auf dem Marktplatz war. Ob sie wohl auch dorthin unterwegs sei, fragte ich. Nein, sie sei auf dem Weg zur Arbeit; sie helfe einer Frau im Haushalt, koche dort und putze. Ich erklärte, dort auf dem Fest gäbe es Idly (Reisdampf-kuchen) und Sambar (Gemüse-Linsen-Curry), die ich so gern mag. Ob meine Frau das nicht koche?, wollte sie wissen – „Nein“, war meine Antwort, „meine Freundin kocht nicht indisch.“

           Meiner Frage nach ihrer Familie wich sie wieder aus. Srilankische Freun- de …? Mit Tamilen käme sie nicht zurecht. Und wieder wollte sie rasch weiter. Doch es gelang mir, unsere Telefonnummern zu tauschen. Dabei beobachtete ich, wie geschickt und schnell sie meine Nummer einhändig in ein sehr altes Handy tippte. Sie wirkte irgendwie nicht wie eine einfache Putzhilfe.

  Nach einiger Zeit rief ich sie an. Als sie mich am Telefon erkannte, hörte ich wieder ihr schallendes Lachen. Sie fragte auf Deutsch: „Wie geht’s?“

          Ich erzählte, ich würde nach Indien reisen um Pongal, das Erntedankfest, mit meiner Familie zu feiern und fragte, ob sie nach Sri Lanka reist oder hier Pongal mit ihrer Familie feiere? Nein, sie könne nicht. Ihre Stimme klang traurig. Als sie in Sri Lanka war, haben ihre Familien drei Tage lang Pongal gefeiert, mit Andacht und Milchreiskochen im Freien unter der strahlenden Sonne, begleitet von Musik und Volkstanz. Sie sprach in Hochtamil und ver-wendete dabei Worte mit Gehalt und Ausdruck. Dann schwieg sie plötzlich, trotz Telefon konnte ich spüren, wie sie nachdenklich wurde und in Gedanken in ihrer alten Heimat weilte.

Im Hintergrund war die Stimme eines jungen Mannes zu hören, der fließend deutsch sprach. Das muss wohl ihr Sohn sein, denn sie mahnte ihn, zeitig nach Hause zu kommen und gab weitere Anweisungen, die jede andere besorgte Mutter zu ihrem Kind sagen würde. Der Sohn protestierte und sagte irgendetwas. Dann hörte ich, wie eine Tür zuschlug.

 

 

 

© Erzählt von Sure.sh nach einer wahren Begebenheit,
aufgeschrieben von Charlotte Rogler.

 

Titelbild:  Regina Boger. Früher Morgen auf Sri Lanka

Bilder im Text. Regina Boger

„Das war mein Sohn“, sagte sie mit leiser Stimme am Telefon. Sie sprach langsam, es klang als ob sie die Worte wählen und auf die Waagschale legen würde, bevor sie sie aussprach. „Mein Sohn; ich hab gekocht, sogar Fleisch, aber er geht. Er sagt, er geht zu Freunden. Er sucht eine Lehrstelle.“

           Um die bedrückte Stimmung aufzuhellen, fragte ich, „Was sagt der Vater dazu?“, außerdem wollte ich ein paar Tipps geben. Sie schwieg kurz und sagte leise und leidvoll, „Der Vater ist nicht mehr, er ist gegangen“.

           „Das tut mir leid“, sagte ich und wollte das Thema wechseln, „Ihr seid aus Jaffna? (Das ist im Norden Sri Lankas. Da leben die meisten Hindus. Diese waren vor etlichen hundert Jahren aus Indien zugewandert.)
           „Ja!“, sagt sie zustimmend.

           Jetzt veränderte sich ihre Stimme: Sie sprach tamilisch, langsam, ruhig. Es war die Stimme einer durch Leiden gereiften Frau:

          „Ich kam asylsuchend mit dem Sohn hierher. Mein Sohn weiß nichts über unsere Kultur, er erzählt mir nichts, schämt sich meiner, seiner Mutter, unserer Sprache, unserer Religion. Er bringt keine Freunde mit nach Hause, geht auch nicht mit mir zu meinen Freunden … Ich hab alles für ihn gemacht, an jedem Schulausflug konnte er teilnehmen; ich hab es ermöglicht. Es tut weh! Vom Vater will er nichts hören, nichts wissen, er fragt nicht nach. Über unsere Religion, Bräuche, Feste will er nichts wissen: Wenn er im Hause ist, mache ich keine Yogaübungen, rezitiere keine Verse aus den heiligen Büchern, singe keine Mantras … Die Türen meines [hinduistischen] Altars, der sich in einem Küchenschrank befindet, bleiben geschlossen, wenn er da ist. Oft redet er nicht mit mir und isst schweigend. ‚Mama, das sind doch Götzen‘,  sagte er einmal zu mir. Ich war schockiert, sehr verletzt und gelähmt zu gleich. Was habe ich falsch gemacht?, fragte ich mich. Ich habe ihm nie verboten, am christlichen Religionsunterricht teil zu nehmen. Ist dies der Dank dafür?”

           Ich hätte so vieles über dieses Thema zu erzählen oder zu berichten, aber ich schwieg. Dann räusperte sie sich, ihre Stimme gewann Sicherheit und sie redete weiter. Ab und zu summte ich ein ‚hmm‘ als Bestätigung, dass ich noch zuhörte.

           „Als sein Vater dreißig Jahre alt war, war er ‚Freedomfighter‘ und verehr- te Mahatma Gandhi. Der Krieg war schlimm! Sein Vater verabscheute Gewalt und trug nie eine Waffe. Eines Tages sagte er, ‚Ich gehe zu einer Kundgebung‘, und ging. Mein Mann war ein guter Redner. Er blieb lange weg. Tage später standen Leute vor meiner Tür und klopften. Ich öffnete und fragte: Wo ist mein Mann?  Sie schwiegen und standen mit ernster Miene da.

           „Wir konnten ihn nicht mitbringen”, sagten sie. Er ist gegangen. Ich glaubte es nicht: „Sucht ihn!“ Ich wollte nicht wahrhaben, dass er tot ist. Eine Kugel habe ihn getroffen, zur Rahukaalam* (unheilvolle Zeit 09:30). Und er hatte doch keine Waffe bei sich!

 

         Wie in Trance erzählte sie mir, was danach geschah.

           Es wurde ihr geraten wegzugehen, es wäre für sie als alleinstehende Frau mit Baby zu gefährlich, weiter in Sri Lanka zu bleiben. Sie verkaufte Haus und Besitz. Beim Räumen fiel ihr auf, dass alles geordnet war: Ihr Mann hatte alles gerichtet, so als hätte er gewusst, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Und es fiel ihr seine Armbanduhr in die Hände. Die hatte er sonst immer bei sich getragen. Er war ohne sie gegangen! Und sie war stehen geblieben: um 9.30 h!

           Ihre Stimme wurde leiser. Sie sprach langsam und ich musste den Hörer fest an mein Ohr pressen, um alles zu verstehen, was sie mir erzählte.

           „Ich hab die Uhr nie mehr aufgezogen. Mein Sohn weiß nichts von seinem Vater, auch nichts von der Uhr! Er will nichts wissen. Er ist wie sein Vater, redet nicht viel. Ich bin diejenige, die meistens spricht. Mein Sohn verhält sich mir gegenüber fremd. Es schmerzt.“

           Die Stimme verrät eine gebildete, vom Leben gezeichnete, reife Frau. Sie bittet nicht um Hilfe, sie beschreibt nur ihre Situation. Sie weiß nicht, wie stark sie ist! Ihr Glaube ist ihr Halt: Es ist ihr Karma, dieses Leben zu meistern, um im Kreislauf des Lebens weiter zu kommen und Erlösung zu finden.

           Als ich ein weiteres Mal anrief, blieb unser Gespräch an der Oberfläche. Sie meinte nur, sie hätte mich wohl recht vollgequatscht beim letzten Telefonat. Ich wollte nicht weiter darauf eingehen, ich hatte den Eindruck, es wäre ihr vielleicht zu viel, dieses Thema noch einmal anzugehen.