Mit dem Fahrrad auf der B 27 und wieder zurück

 

            Mein Großvater erzählte viel von früher. Geschichten von anno dazumal, Geschichten von Krieg, Flucht und Vertreibung. Für mich damals Geschichten wie aus einem Schwarzweißfilm, aus dem der Staub der Langeweile nur so rausrieselte. Wenig spannend, ohne Helden und ganz sicher ohne Sylvester Stallone. Ich spielte lieber und erfreute mich an den vielen bunten Smarties, die es bei den Großeltern immer gegeben hatte. Meine Eltern hatten in ihrer Kinder- und Jugendzeit sicher keine Schokolinsen in Papprollen, denn meine Mutter flüchtete teils mit Leiterwagen, von Müncheberg über Bamberg nach Asperg. Mein Vater kommt ursprünglich aus Breslau, war in russischer Kriegsgefangenschaft und nach seiner Entlassung im Jahr 1950 zog er nach Ludwigsburg, weil meine Großeltern dort schon eine Unterkunft gefunden hatten. In Ludwigsburg lernten sich meine Eltern dann kennen und meine Geschichte – unsere Familie – begann.

 

Unbeschwerte Kindheit in Hoheneck

         Meine drei Brüder und ich (behaupte ich einfach mal) verlebten eine unbeschwerte Kindheit in Hoheneck. Wir wohnten nahe dem Favoritepark. Wenn wir aus dem Haus gingen, waren wir sofort auf den Feldern.  Wir konnten auf der Straße spielen, denn zugeparkte Straßen gab es damals noch nicht und auch der Sportplatz war in der Nähe. Natürlich spielten wir Fußball beim KSV Hoheneck. Meine Brüder und ich konnten leider nie gemeinsam in einer Mannschaft spielen, denn wir waren  immer in verschiedenen Altersklassen unterwegs. Ich bin übrigens der Jüngste, geboren im Jahr 1965. Als jüngstes Kind stand ich glücklicherweise wenig unter der Beobachtung meiner Eltern. Meine Brüder hatten mir den Weg schon geebnet und Helikoptereltern waren noch nicht erfunden.

          An die Grundschule erinnere ich mich kaum. Mir war spielen wichtiger als die Schule und was man da so lernte. Sogar in den Donald-Duck-Heften schaute ich lieber die Bilder an, als die Texte zu lesen. Das dauert ja ewig, war meine Devise. Anscheinend schlug sich mein Desinteresse an der Sprechblasen-Literatur in den Noten nieder, denn eines Tages fand ich mich in der Uhlandschule wieder. Obwohl lernen nicht zu meinen Stärken gehörte, war ich dann doch einer der besseren Schüler. Ich kapierte die Mathethemen einfach schneller als der Rest der Klasse. Huch, was mache ich hier? fragte ich mich. Ich wachte regelrecht auf. Meinem Klassenkameraden Wolfgang ging es genauso. Er hatte die Idee, auf die Realschule zu wechseln, um später zu studieren (was er dann auch tat). Nach der sechsten Hauptschulklasse wechselten wir also zur Elly-Heuss-Knapp-Realschule. Am Anfang kämpfte ich mit der Lücke, die sich durch den Wechsel in Deutsch und Englisch aufgetan hatte. Andere Fächer stellten keine Probleme dar. In die Klassengemeinschaft wurde ich problemlos aufgenommen. Ich sagte, „hallo, da bin ich“ und war einfach da, als sei ich schon immer in dieser Klasse gewesen. Einfach toll.

 

Mit dem Fahrrad auf der B27

          Klar, von Hoheneck fuhr ich mit dem Fahrrad zur „Elly“. Am Anfang ging die Strecke entlang der Baumallee der Schlossstraße. Um zur Karlstraße zu kommen, mussten wir in die damals schon wenig wohlriechende Unterführung an der Sternkreuzung hineinfahren und die Räder an der anderen Seite wieder hochtragen. Das wurde uns mit der Zeit lästig. Mit zunehmendem Alter, mehr Sicherheit und mehr Beinkraft optimierten wir die Strecke. Wir wählten die einfachste Lösung, nämlich die direkte Route. Wir fuhren mit dem Rad auf der Bottwartal- und Marbacher Straße über die B27, unter der Sternkreuzung hindurch und so bequem bis zur Karlstraße. Damals kein Problem. Das Fahrrad war sowieso das beste Fortbewegungsmittel für uns Schüler. Vor allem nach der Schule konnten wir zügig nach Hause radeln und von dort wieder neue Aktivitäten starten. Ich fuhr übrigens bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit mit dem Rad. Einmal kam ich so nass in der Schule an, dass mir bei der Klassenarbeit das Wasser aus den Haaren auf das Papier tropfte.

          Während die Zeit in der Grundschule und in der Hauptschule keine großen Eindrücke hinterließ, war die Zeit auf der „Elly“ prägend. Mein Leben spielte sich zwischen den Fußballfreunden im KSV-Hoheneck und den Freunden in der Schule ab, wobei diese beiden Welten merkwürdigerweise nichts miteinander zu tun hatten. Hatte ich nachmittags kein Fußballtraining, so traf ich mich mit Schulfreunden. Treffpunkt in der Stadt war das Haus meines besten Freundes Claudio in der Marstallstraße. Wir konnten kommen und gehen, wie wir wollten. Seine Mutter hatte immer etwas Essbares vorrätig, während sein Vater meist auf Reisen war. Wir Jungs bestimmten das Geschehen. Dabei machten wir nichts Besonderes, wir verbrachten einfach die Nachmittage miteinander. Langeweile kam nie auf.

          Mobilität war ein wichtiges Thema. Bisher hatte ich das Fahrrad benutzt, um von A nach B zu kommen. Als ich mit 15 den Mofa-Führerschein machte, erweiterte sich unser Aktionsradius erheblich. Mit dem Mofa kurvten meine Freunde und ich teilweise ziellos durch die Stadt oder über Wiesen und Felder.



Berufsausbildung

           Bereits in der Grundschule fing ich an, perspektivisch zu zeichnen, vorzugsweise Autos. Dies machte mir Freude und wenig Mühe. Als sich die Frage der Berufswahl stellte, suchte ich nach einem Beruf, bei dem ich dieses Talent brauchen konnte. Als ich 1983 die Schule mit der Mittleren Reife abschloss, gab es nur wenige Ausbildungsplätze für viele Bewerber. Nach den ersten vergeblichen Bewerbungen als technischer Zeichner bekam ich einen Ausbildungsplatz beim Tiefbauamt der Stadt Stuttgart. Das feine Zeichnen mit
Tuschfüller und Stift entsprach mir. Prägend war für mich die funktionale Ordnung. Jeden Nachmittag mussten alle Stifte entsprechend der Strichstärke geordnet werden. Morgens 

konnte ich blind in die Schublade greifen, denn jeder Stift lag an seinem vorgeschriebenen Platz. Keine schlechte Idee, so eine Ordnung. Leider entspricht mein Schreibtisch heute nicht mehr den Idealen von damals.

 

Die ersten beruflichen Schritte

           1986 schloss ich die Berufsausbildung ab. Wahrscheinlich auf Grund meiner guten Leistungen bekam ich einen Arbeitsplatz im Stadtplanungsamt Stuttgart. Dort hatte ich neue Aufgaben: Bebauungspläne zeichnen. Einige meiner Kollegen frustrierte es, dass mancher Plan umsonst gezeichnet worden war. Mir war von Anfang an klar, dass nicht alle Pläne ausgeführt werden und manche Arbeit umsonst war. Zu dieser Zeit schrieben wir von Hand in Normschrift oder mit einer Schablone. Besonders das Jahr 1988 strapazierte uns, da es auf der Normschrift-Schablone keine 8 gab. Wir mussten, um eine 8 zu schreiben, zwei kleine Nullen übereinander setzen.

 

Veränderung der Arbeit durch Digitalisierung
oder änderte sich die Gesellschaft doch

           Anfänglich empfand ich die Hierarchie im Planungsamt als sehr ausgeprägt. Klar, der Amtsleiter und die Abteilungsleiter genossen damals hohes Ansehen. Deutlich dominanter waren für mich aber die Vermessungsingenieure, auch Geometer genannt. Ein typischer Männerberuf und tatsächlich im Amt auch allesamt Männer. Sie waren akkurat, geradlinig und, so empfand ich es, auch sehr von sich überzeugt. Vielleicht waren sie die heimlichen Chefs. Erst kürzlich erfuhr ich von einem Kollegen, der sich Anfang 2019 den Ruhestand verabschieden konnte, dass er damals als Architekt große Probleme mit einigen Kollegen hatte, die nicht über den Tellerrand schauen konnten.

           1996 hielten Computer Einzug in das Planungsamt. Am Anfang konnten wir nur Planungsdaten abrufen, also Auskünfte über Grundstücke einholen. Später kamen Schreibprogramme hinzu und am Schluss wurde das Computer unterstützte Zeichnen mit dem AutoCAD-Programm eingeführt. Dies veränderte die angestaubte Hierarchie deutlich. Vielleicht wurde aber auch nur die Gesellschaft offener. Auf alle Fälle kamen die älteren Kollegen mit den Programmen nicht wirklich klar, wir Zeichner zeichneten nun die Pläne am Computer. Die Kontrolle über die digitalen Zeichnungen wertete uns auf. Der Unterschied zwischen Sekretärinnen, Zeichnern und Ingenieuren wurde durch die PC-Nutzung kleiner. Die Architekten hatten damit keine Probleme, die ersten Architekturbüros arbeiteten ohnehin schon mit CAD.

 

Vom Ausführenden zum Gestalter

           Wir mussten nun aber mitdenken, weil der CAD-Plan eine Genauigkeit und eine strukturelle Ordnung verlangte, was bei Papierplänen nicht so war. Rücksprachen wurden nötig und Teamarbeit immer wichtiger. Die Arbeit wurde interessanter und vielfältiger. Mit den dreidimensionalen Zeichnungen und der grafischen Gestaltung von Plänen kamen neue Aufgaben dazu. Vor der Einführung des CADs waren die Bauzeichner nur Ausführende, jetzt wurden sie zu Mitdenkern. Besonders interessant war die Mitarbeit an der städtebaulichen Broschüre „Stadtkernziele“ und dem Rahmenplan „Halbhöhenlagen“. In diese Aufgabe steckte ich viel Arbeit. Auf das Ergebnis bin ich richtig stolz. Gut war auch, dass alle Beteiligten gleichberechtigt im Team arbeiteten. Die enormen Planungsüberlegungen und die daraus resultierenden Pläne bezüglich der frei werdenden Flächen durch das Bahnprojekt S 21 sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Vieles was freitagnachmittags  – das war die Zeit, in der unser Abteilungsleiter Zeit für Teambesprechungen hatte - erarbeitet und wieder verworfen wurde, schlummert noch auf dem Server.

           Alle paar Jahre wechselte ich auf eine höherwertige Stelle. Neue Kollegen und eine neue Abteilung waren nie ein Problem. Die Stelle bei der Abteilung Mitte fand ich super, besser geht's nicht mehr im Stadtplanungsamt, dachte ich jedenfalls zu diesem Zeitpunkt.



Die Zukunftskonferenz – Einstieg ins Ehrenamt

           2005 las ich in der Ludwigsburger Kreiszeitung den Aufruf der Stadtverwaltung zur Zukunftskonferenz. Ich bewarb mich für „Grün in der Stadt“ und wurde eingeladen. Bei der Konferenz lernte ich viele Menschen mit denselben Interessen kennen. Einige Projektgruppen wurden gegründet, bei denen ich dabei war. Ein Kunst- und Kulturfest wurde angedacht und Planungsüberlegungen für die Bundesstraße 27 ausgearbeitet. Ersteres hätten wir Bürger aber selbst finanzieren müssen. So verschwanden die weit ausgearbeiteten Pläne leider in der Schublade. Auch die „B-27-wird-zur-Allee-“ -Projektgruppe hatte einiges aufgefahren und für den Abschnitt Süd-, Innen- und Nordstadt sowie Eglosheim Verkehrspläne angefertigt. Die Ideen wurden in der Gruppe zusammen ausgearbeitet und von mir in unzähligen Abendstunden gezeichnet. Vor wenigen Jahren noch als utopisch abgetan, werden die Ideen, den Verkehr zu reduzieren und andere ökologische Verkehrsarten zu fördern, immer wahrscheinlicher. Die Pläne zu aktualisieren wäre wichtig, sprengt aber mittlerweile jeglichen ehrenamtlichen Rahmen.    

          Die Radwegeinitiative ist seit der Zukunftskonferenz immer noch aktiv. Immer wieder beteiligte ich mich an Brennpunkttouren und an Diskussionen bezüglich konkreten Radwegeplanungen. Die Mithilfe an der Imagekampagne „Ich fahre Fahrrad, weil …“ war mir wichtig. Für diese Kampagne entwickelte ich das Layout und die grafische Gestaltung. Seit zwei Jahren organisiere ich die Teilnahme der Radinitiative am „Stadtradeln“, einem deutschlandweiten Wettbewerb um geradelte Kilometer. In Baden-Württemberg hat der Landkreis Ludwigsburg 2018 sogar den Wettbewerb gewonnen.  

           Mein Engagement sollte sich nicht auf die Zukunftskonferenzen und deren Arbeitsgruppen beschränken. Im NABU fand ich ein weiteres wichtiges Betätigungsfeld, seit 2010 als Vorsitzender der Gruppe Ludwigsburg und seit 2011 als Kreisvorsitzender.

 

Verbindung von Beruf und Ehrenamt

           Als im Stadtplanungsamt Stuttgart eine Stelle ausgeschrieben wurde „Mitarbeiter in der Radverkehrsplanung“, bewarb ich mich. Meine Motive waren neben einer höherwertigen Stelle, mein Interesse an mehr Eigenständigkeit, an einer neuen Aufgabe und der Teilhabe am Planungsprozess für eine bessere Radinfrastruktur. Auf das Bewerbungsgespräch hatte ich mich gut vorbereitet. Ich konnte auf meine Erfahrung in der Radwegeinitiative Ludwigsburg verweisen und die damit verbundenen Einblicke in die Radwegeplanung. Nun konnte ich meine Freude am Radfahren, mein Ehrenamt und den Beruf verbinden. Die Erfahrungen aus Ludwigsburg, was wir hier diskutiert und erreicht hatten, konnte ich nun als Mitarbeiter in der Verkehrsabteilung in Stuttgart einbringen. Natürlich sollen sich neue Erkenntnisse aus der Landeshauptstadt auch für Ludwigsburg auszahlen. Weitere logische Schritte folgen dieses Jahr. Als Kandidat der Grünen trete ich dieses Jahr für die Gemeinderatswahlen an. Gerne würde ich die Bürgerinnen und Bürger meines Geburts- und Heimatortes vertreten. Mal sehen, wie es weitergeht. Auf alle Fälle …

 

Die Natur in die Stadt zurückholen

          … lebe ich gerne in Ludwigsburg. Mein Lebenselixier ist Bewegung in der frischen Luft mit Blick ins Grüne. Dabei werden alle Sinne angeregt, Körper, Geist und Seele genährt. Deshalb möchte ich die Natur erhalten und sie in die Stadt zurückholen. Statt Steingärten und Thuja-Hecken sollten Hainbuchen gepflanzt und bunte Wiesen angelegt werden. Insekten und Vögel freuen sich sicher. Mir ist wichtig, dass wir in der Stadt mit der Natur leben und nicht gegen sie. Praktisch bedeutet dies der Verzicht auf Pestizide, Kunstdünger und Monokulturen. Häuser mit Dachbegrünungen und Solaranlagen machen Sinn. Und glücklich werden wir sowieso nur in blühenden Gärten, in denen es summt und brummt. Vielleicht steht noch ein alter Baum, in dessen Schatten wir den Tag genießen können. Wir benötigen auch bei uns mehr naturbelassene Räume und unberührte Landschaften. Mich begeistern immer wieder Landschaftsformationen, die kein Mensch je konstruieren könnte. Deshalb bin ich in meiner Freizeit gern mit Menschen in der Natur unterwegs. Beim Wandern und Klettern verändern sich Landschaft und Ausblicke, wechselnde Licht- und Wetterverhältnisse sorgen für unterschiedliche Stimmungen. In der Natur kann ich mich wieder regenerieren.

          Und natürlich fahre ich auch viel mit dem Fahrrad. Klar, Radeln hat mir schon als Kind Spaß gemacht. Und wer weiß, vielleicht wird unsere Vision Wirklichkeit und ich radle bald wieder auf der B 27!

 

Erzählt von Frank Handel, aufgeschrieben von Regina Boger