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Warum war ich so einfältig?

 

Im Pflegeheim

           Es ist alles mühsam. Im Heim ist alles so langweilig. Ich bin nicht freiwillig im Pflegeheim. Es hat sich so ergeben. Ich wäre lieber in Nattheim geblieben, weil da meine Bekannten sind. Aber dort gibt es kein Pflegeheim, nur betreutes Wohnen. Hier im Allo-Heim kann ich mich eher bemerkbar machen, wenn ich stürze oder zusammenbreche. Zuvor war ich in Markgröningen im betreuten Wohnen. Als ich dort einen Zusammenbruch hatte, wurde ich lange nicht gefunden. Das würde mir hier so nicht passieren. Anne, meine Tochter, hat für mich diese Unterkunft gefunden, weil ich nicht mehr allein leben konnte. Sie hat das Möglichste getan und das Zimmer nett eingerichtet. Möbel konnte ich keine mitnehmen, die waren alle zu groß für das Zimmer hier.

          In den letzten 35 Jahren habe ich in Nattheim bei Heidenheim gelebt. Meine Tochter wollte nicht in Nattheim leben, weil sie dort fremd ist. Das verstehe ich auch. Zu Ludwigsburg habe ich wenig Verbindung. Hier im Heim bin ich isoliert. Ich bin 94 und nicht mehr im Vollbesitz meiner Möglichkeiten. Mit meinem Elektro-Scooter kann ich mit Begleitung in die Stadt fahren. Die Stadt kenne ich ja kaum und ich habe hier keine Bekannten.

           Ich gehe gern in den Garten und gern ins Café. Aber Sie müssen denken, hier haben wir jede Art von Krankheit und Demente in jedem Stadium. Was bleibt da noch an Unterhaltung? Hier gibt es kaum Leute, mit denen ich mich unterhalten kann. Die interessanten Leute, die Schwestern, haben keine Zeit. Und Frauen, die leicht dement sind, wollen andere belehren. Das ist schwierig für mich. Wenn ich durchblicken lasse, dass ich die Dinge anders sehe, halten sie mich für hochnäsig. Da bin ich doch froh, dass Margret, eine Freundin meiner Tochter, jeden Mittwoch kommt. Mit ihr kann ich lustig sein, kritisch sein, so wie ich halt bin. Dann sorgt meine Tochter für Abwechslung. Sie versorgt mich sehr gut. Anne hat das Möglichste getan.

           Als ich nicht mehr allein wohnen konnte, bat ich sie, zu mir nach Nattheim zu ziehen. Doch sie wollte im Raum Ludwigsburg bleiben, wo sie lange als Lehrerin gearbeitet hatte. So entschloss ich mich, mein Haus zu

 

verkaufen und in ihre Nähe zu ziehen. Das war ein schwerer Entschluss und ich möchte nicht von meinen Gefühlen und den Schwierigkeiten schreiben, alles in Nattheim aufzugeben. Meine Tochter besorgte mir im Kleeblattheim in Markgröningen ein Apartment und richtete es ein. Kurz darauf hatte ich mich einer Brustkrebsoperation zu unterziehen. Sie verlief gut, auch die Bestrahlungen. In der Klinik waren viele bunte Bilder aufgehängt. Die Farben gefielen mir so gut, dass ich zu meiner Tochter sagte: Bitte bringe mir Papier und Farbe, das würde mir in Zukunft helfen.

           Die Wohnung war wirklich schön, ein schöner Balkon, eine nette Hausgemeinschaft, gegenüber „Das Haus der Begegnung“, das von Frau Grohe geprägt wurde. Dort konnte man jederzeit Hilfe bekommen. Im Parterre war die Tagespflege, die auch jederzeit half. Ich fühlte mich wohl in Markgröningen. Nach knapp zwei Jahren kam der Zusammenbruch. Ich konnte den Alarmknopf nicht erreichen und keine Hilfe holen. Die Betreuerin von der Sozialstation kam normalerweise um 9 Uhr morgens. Üblicherweise klingelte sie, für den Notfall hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Doch ausgerechnet an diesem Morgen ging sie wieder, nachdem sie geläutet hatte und ich nicht die Tür öffnete. Später wurde ich dann gefunden und ins Marbacher Krankenhaus gebracht. Dort fand mich dann auch meine Tochter. Nach dem Krankenhaus kam ich in die Kur.

           Nun war es auch aus mit dem betreuten Wohnen, deswegen hat Anne mir ein Zimmer im Allo-Pflegeheim besorgt. Auch dies hat sie nett eingerichtet. Möbel konnte ich ja keine mitnehmen. Sie begleitet mich zum Arzt, ins Blühende Barock, zum Weihnachtsmarkt, unterhält mich oder geht mit mir zum Essen. Darüber bin ich sehr froh. Sogar Freundinnen von Anne besuchen mich. Das ist nicht selbstverständlich, dass die Frauen das machen. Meine jüngste Schwägerin besucht mich auch noch, aber die andern Verwandten sind gesundheitlich so beeinträchtigt, dass sie keine Besuche mehr machen können.



Familie

            Mein Mann ist 2004 gestorben. Ich habe immer gedacht, dass ich vor ihm gehe, aber es war halt anders. Wir hatten zwei Kinder. Anne ist 1951 geboren und Rolf 1958. Rolf ist mit 13 ½ gestorben. Er hatte eine Autoimmunkrankheit, die man damals nicht behandeln konnte. Sein Körper hat sich selbst zerstört. Das war schrecklich. Ich wollte nicht mehr leben. Es war fürchterlich, mein Kind so sterben zu sehen, zwei Jahre lang. Ich wollte mit meinem Kind zusammen sterben. „Helfen Sie uns“, sagte ich zum Arzt! – „Ich verstehe Sie“, antwortete er, „aber ich darf das nicht.“ So musste ich erleben, wie mein Kind starb.

           Mein Mann arbeitete in Heidenheim als Stoffmusterdesigner und Gravourzeichner. Als seine Firma Konkurs machte, bekam er 1967 eine Stelle als Retuscheur beim Burda-Verlag. Wir zogen von Heidenheim nach Offenburg. Nach dem Tod von Rolf, das war 1971, genehmigte mir das Arbeitsamt einen kaufmännischen Kurs auf der Handelsschule. Mit 51 Jahren bekam ich eine Stelle auf dem Ausgleichsamt beim Landratsamt. Der Kurs und die Berufstätigkeit waren die beste Therapie. Dass ich noch einmal arbeiten konnte, das war ein Glück. Ich war mit jungen Leuten zusammen und obwohl die alle jünger waren als ich und über mir standen, war ich die Mutter der Abteilung. Die Jungen waren manchmal auch frech, das muss ich schon sagen. Aber das war eine schöne Zeit.

 

Eltern

           Meine Mutter lebte mit ihrem ersten Ehemann, Georg Birk, und ihren zwei Kindern (Marie, geb. 1911 und Kurt, geb. 1913) in Mannheim. Sie selbst
kam aus der linksrheinischen Pfalz. Ihren Mann verlor sie im Ersten Weltkrieg. Die zweite Ehe ging sie mit dem Bruder ihres ersten Mannes ein, Franz Birk.
          Der Name blieb also. Durch die zweite Ehe kam sie nach Oberkirchberg, weil mein Vater in Ulm arbeitete. Das war sicher nicht leicht. Oberkirchberg besaß damals kein fließendes Wasser, kein WC, kein Gaslicht, keine Kanalisation, lauter Dinge, die sie aus Mannheim kannte. Die Kinder mussten die gewohnte Umgebung aufgeben und einen neuen Dialekt lernen.

 

Kindheit und Jugend

           Ich bin 1921 in Oberkirchberg geboren. An die beiden älteren Geschwister kann ich mich kaum erinnern. Der Altersunterschied war groß und jedes Alter hat seine besonderen Aufgaben und Pflichten. Jedoch bekam ich unerwartet einen kleinen Bruder. Es muss 1931 oder 1932 gewesen sein, als meine Mutter ein Pflegekind aufnahm. Es war Otto und er war zweieinhalb Jahre alt. „Vorübergehend“ hieß es. Er blieb bei uns bis zu seiner Heirat. Er lebt noch, hat fünf Kinder und ich bin noch heute mit seiner Familie in Verbindung.

 

            Mutters Wunsch war immer das „eigene Häusle“, auch wenn es noch so klein wäre. Die Miete war immer schlimm aufzubringen, Vater verdiente wenig, gespart werden konnte nichts. Ihre Patentante, die selbst keine Kinder hatte, unterstützte sie und ihr Wunsch nach dem eigenen Häusle erfüllte sich dann doch noch.

            Die neue Generation rückte zu bald nach. Meine Schwester heiratete bald, bekam eine kleine Wohnung und 1937 ihren Sohn Kurt. Mein Bruder Kurt war noch in Ausbildung zum Verwaltungsfachmann. Er lernte auf einem Bürgermeisteramt und in der Schule in Stuttgart.

          Und ich kam auch nach und sollte etwas lernen. Ich habe nur Volksschule, habe auch keine Lehre gemacht, weil es keine gute Verkehrsverbindung nach Ulm gab. Und im Dorf konnte ich keine Lehre machen. Ich hatte Glück und kam in den Haushalt unseres Pfarrers. Der zog 1935 von Oberkirchberg nach Oberkochen bei Aalen und ich mit. Ich wuchs in das Dritte Reich hinein. Er ermutigte mich, noch eine Schule zu besuchen. Er war sogar bereit, den Besuch der Handelsschule für mich zu bezahlen. Ich sprach mit meinen Eltern darüber, die bezahlten mir dann das Schulgeld. In der Handelsschule in Ulm, die ich 1939 besuchte, lernte ich Stenographie, Maschinenschreiben und Buchhaltung. Anschließend meldete ich mich beim Arbeitsamt. Dies bestätigte, dass ich den Arbeitsdienst im Haushalt des Pfarrers abgeleistet hatte. Meine erste Stelle fand ich 1940 bei einer Gewerbebank in Ulm, nach einem Jahr kam ich zum Wehrmachtsamt – inzwischen hatte der zweite Weltkrieg begonnen. Dort musste ich die Akten über die Offiziere führen und Gehaltsüberweisungen ausfüllen. Ab dem Dienstgrad Obergefreiter bekamen die Soldaten ein kleines Gehalt, das ich überweisen musste. Die Gleichaltrigen in der Stadt kamen mir überlegen vor, sie hatten eine bessere Schul- und Berufsbildung als ich.         

Über einen Forstdirektor, der zuvor Major in der Wehrmacht gewesen war, kam ich 1942 zur Gräf- lich Fugger‘schen Forst- und Domänenverwaltung Kirchberg-Weißenborn. Der Forstdirektor wollte ein Mädchen vom Land und eiste mich von der Wehrmachtsverwaltung los. Auf dem Forstrevier war ich zum Glück in guter Gesellschaft. Es wurde viel von mir verlangt. Ich musste geistig und kör- perlich viel leisten. Ich hatte ja nur wenig Schulbil- dung. Ich musste mich an die Anrede gewöhnen „Seine und Ihre Erlaucht“, wenn ich mit Graf Dr. Clemens Fugger zu Kirchberg-Weißenborn sprach. „Erlaucht“ kam täglich in die Kanzlei.



Nationalsozialismus und Krieg

           Es fällt mir schwer, über diese Zeit zu sprechen und zu schreiben, umfasst es doch meine ganze Jugend. Ich habe viel vergessen oder verdrängt. Auf jeden Fall war Krieg. Und jeder hatte wohl seine Meinung zum Nationalsozialismus. Jeder misstraute jedem. Der Adel, der Klerus und die Juden wurden scharf beobachtet, wenn nicht angefeindet. Graf Fugger war eine Zeit lang in einem Konzentrationslager. Ich hätte ihm gern meine Anteilnahme ausgesprochen, aber wie? Ständemäßig stand er ja weit über mir. Wie hätte er meine Anteilnahme aufgefasst? Vielleicht hätte er mich für einen Spitzel gehalten – so groß war das Misstrauen zwischen den Menschen.

            Fliegerangriffe der Alliierten waren an der Tagesordnung, auch die Nachrichten über die Kriegsgefallenen. Ich selbst verlor einen netten Freund. Er hatte eben die Ausbildung zum Bordfunker hinter sich, als sein Flugzeug vor dem Einsatz in den Kummerower See stürzte. Bei meinem ersten Besuch in seinem Elternhaus lag er in einem Bleisarg – er wurde mit Salutschüssen begraben.

           Das Drama der Geschwister Scholl aus Ulm, das schändliche Ende von Rommel bei Herrlingen, die verfehlten Attentate auf Hitler, Elser aus Königsbronn und der Kreisauer Kreis – durchhalten!!! Es gab nur Verlierer und Tote unter der Zivilbevölkerung. Dann der tägliche verlogene Wehrmachtbericht im Radio, Hitlers grölende Stimme. Jeden Tag siegte er, aber tatsächlich radierte er aus. Und täglich wurde es für uns schwieriger. Einmal kamen Schuhe, gesammelt vom Winterhilfswerk, hieß es. Ich habe damals gedacht: Wer kann heutzutage Schuhe verschenken? Das waren sicher Schuhe aus dem KZ, dachte ich später. Aber damals wusste ich das nicht.

 

Kriegsende

           So kam doch endlich das Kriegsende. Wie immer ging ich auf das Amt. Dort fand ich alle in großer Bestürzung: Der Ortsgruppenleiter aus Unterkirchberg – ein brutaler Mensch – ließ ein paar Männer in Unterkirchberg hinrichten. Sie waren wohl in seinen Augen Kriegsverbrecher. Der Ortsgruppenleiter wollte mit Hilfe des Majors a.D., der Forstamtsleiter und mein Chef, einen Volkssturm bilden. Der Volkssturm war eine letzte Verzweiflungstat, um doch noch den Krieg zu gewinnen. Diese Männer hatten die Unsinnigkeit des Kriegs erkannt und wollten sich nicht am Volkssturm beteiligen. Das war ihr Todesurteil. Der Ortsgruppenleiter setzte sich nach der Hinrichtung der Männer ab und verschwand. Ich vermute, dass es so war, denn erzählt hat man wenig. Ich schnappte nur von meinem Chef auf, dass der Ortsgruppenleiter keine Berechtigung für die Hinrichtungen hatte.

           Ich nahm noch einen Anruf vom Forstwart B. aus Schnürpflingen ent- gegen: „kam ein Trupp Soldaten durch, wir sind eingenommen. Sie werden bald auch in Oberkirchberg sein. Sie werden lange nichts von mir hören, das Telefon wird abgeschaltet – lebt wohl.“ So war es auch.

          Von meinem Arbeitsplatz am Fenster hatte ich die Gartenstraße im Blick, in der ich mit meinen Eltern und meiner Schwester und deren Kinder wohnte.

Ein Trupp Soldaten kam durch. Die Soldaten tasteten sorgfältig alles ab. Alles verlief friedlich. Dann ein großer Knall – die Illerbrücke, die nach Ay und Senden führte, wurde von Deutschen gesprengt. Gegen Abend suchte ich den Heimweg. Das Dorf war voll mit amerikanischen Soldaten. Unterwegs traf ich den Bürgermeister, der meinte: „So wollten es die Leute.“ – „Nein, so nicht, aber das Kriegsende wollten wir alle“, war meine Antwort. Ich konnte mich unbeschadet heimschleichen und fand alle meine Angehörigen: Vater, Mutter, meine Schwester und ihre Kinder. Mein Schwager war noch bei der Wehrmacht.

           Es war nun vorbei mit den Bombardements und der Verdunkelung bei Nacht. Die KZs wurden geöffnet. Ein Teil der Soldaten kam wieder heim, von einem Teil erfuhr man, wo sie in Kriegsgefangenschaft waren und von einem weiteren Teil erhielt man Todesnachrichten.

            Man versuchte, wieder in die Normalität zu kommen. Vater, der fast bis zu diesem Tag in den Wielandwerken in Ulm gearbeitet hatte, hatte das Rentenalter erreicht und war daheim. Ich arbeitete weiterhin auf dem Forstamt, auch da ging es wieder weiter.

 

Entnazifizierung

            Ach ja, dann begann die Entnazifizierung – wir mussten doch alle Nazis sein … Jahrgang 1921 fiel unter die Amnestie – das traf ja mich! So war ich einmal in meinem Leben auf einem Gericht, dem Ulmer Amtsgericht. Was warf man mir vor? Mitglied und Führerschaft im Bund deutscher Mädel, dem weiblichen Zweig der Hitlerjugend und die Aufsicht über die Kasse der NS-Frauenschaft. Bestätigt konnte bei mir nichts werden. Graf Fugger wurde in sein Schloss verbannt, er durfte einige Zeit seine Kanzlei nicht besuchen. Ebenso durften wir Angestellte keinen Kontakt zu ihm haben. Ein paar Mal konnte ich die Wache überlisten und ihn besuchen. Einmal erhielten wir von einem riesengroßen Farbigen Benzin für den Betrieb – das war meine erste Begegnung mit einem Ami-Soldaten – da gelang es mir auch, „Erlaucht“ zu erreichen.

 

Kriegsfolgen

           1946 kam mein Bruder Kurt heim. Bis Kriegsende war er in der Eifel, schlug sich dann durch die Pfalz durch, kam dann doch noch in die Kriegsgefangenschaft nach Marseille. Seine guten Englischkenntnisse halfen ihm zu dolmetschen. Bei dem Bombenangriff am 17.12.1944 verlor er seine Wohnung in Ulm. Das Haus, eine Bäckerei, war zerstört. Der Inhaber hatte zuvor schon seinen Sohn und Nachfolger verloren. Jetzt war auch die Existenz zerstört. Man fand den Bäcker tot in den Ruinen seines Hauses – das war einfach zu viel.

           1947 kam auch mein Schwager, der Mann meiner Schwester, heim. Meine Zukunft begann im November 1949 gemeinsam mit seinem damaligen Weggefährten aus dem Bergwerk in Creutzwald.



Martin

           Meinen Mann lernte ich nach dem Krieg kennen. Martin war insgesamt zehn Jahre Soldat, wenn man die Kriegsgefangenschaft mitzählt. Nachdem er den Arbeitsdienst abgeleistet hatte, wurde er zu Kriegsbeginn eingezogen. Er wurde in Luxemburg zum Funker bei der Gebirgstruppe ausgebildet. Er nahm am Feldzug in Frankreich und in Russland teil. Beim Rückzug der Wehrmacht wurde er in Ungarn im Gesicht verletzt. Nach der Genesung meldete er sich wieder bei der Truppe. Nach der Kapitulation der Wehrmacht kam er in ein amerikanisches Kriegsgefangenenlager bei Garmisch. Diese Gefangenen übergab die amerikanische Besatzungsmacht an die französische. So kam er auf einen Bauernhof nach Frankreich. Von dort floh er, wurde aber von der französischen Polizei aufgegriffen, die ihn in das Kriegsgefangenenlager Creutzwald bei Saarbrücken brachte. Er musste in einer Kohlenmine arbeiten, was für ihn fürchterlich war. Der Bergbaudirektor bekam mit, dass Martin in den Pausen zeichnete und wollte mit seiner Familie von Martin gemalt werden. Martin war unter der Bedingung einverstanden, dass er nicht mehr in der Mine unter Tage arbeiten musste. Der Direktor holte ihn also aus der Mine in sein Haus, wo er die ganze Familie porträtierte. Im Haus des Direktors traf er meinen Schwager, mit dem er sich anfreundete. Beide hatten Heimweh und nutzten die Gelegenheit zu fliehen. Ihre erste Station waren Verwandte in der Pfalz, von dort aus fuhren sie nach Mannheim, was in der amerikanischen Zone lag. Martin schlug sich nach Heidenheim zu seiner Familie durch. Zum Glück konnte er in seiner alten Firma, einer Kartonmanufaktur, wieder als Musterentwerfer arbeiten.


Familiengründung in Heidenheim

          Als er eines Tages meinen Schwager in Oberkirchberg besuchte, lernte ich ihn kennen. Doch ich beachtete ihn gar nicht, er war mir gleichgültig. Ein paar Tage später erhielt ich einen Brief von ihm – und dann ist es passiert. 1949 heirateten wir und zogen in die Hohenzollernstraße nach Heidenheim. Die Wohnung besaß ein Bad und ein WC, das war damals noch nicht selbst-verständlich. Ein Jahr später war ich schwanger. Ab Januar 1951 war ich Hausfrau. Unsere Tochter Anne kam im April 1951 zur Welt und wir waren eine glückliche Familie.

           1954 konnten wir schon ein kleines Häusle, eine Doppelhaushälfte, im Marderweg erwerben. Wir mussten jedoch die obere Wohnung vermieten, die zum Teil schräge Decken hatte. Das änderte sich jedoch bald. Wir bauten an und um: eine Garage, einen kleinen Balkon, eine große Terrasse, sodass es im Untergeschoss einen zusätzlichen Raum gab. Im Parterre bauten wir ein Bad
ein. Ein großer Kachelofen heizte das ganze Haus. Der Garten wurde schmuck gestaltet, mit Planschbecken, Seerosen und Goldfischen. Im November 1958

kam unser Sohn Rolf-Dieter zur Welt. Mit meinem Mann war ich sehr glücklich. Wir haben uns so gut wie nie gestritten. Aber wir hatten Meinungsverschiedenheiten, weil ich sprunghaft war und ein bisschen viel Phantasie hatte. Ich war ihm manchmal auch zu temperamentvoll. „Nimm dich nicht so wichtig. Finde dich mit dem ab, was du nicht ändern kannst“, sagte er mir. Ich finde, das ist sehr schwer.

 

Schwere Zeiten

          Das Jahr 1957 war hart für uns. Meine Schwester Marie starb an Brustkrebs. Sie hinterließ ihren Mann und die beiden Söhne. Kurt war 20 und Hansjörg 12 Jahre alt. Sie war mir immer eine liebe, hilfsbereite Schwester. Für Mutter war das sicher auch schrecklich, sie führte noch eine Zeit lang den verwaisten Haushalt. Kurt heiratete bald und auch mein Schwager heiratete auch noch mal und zog zu seiner zweiten Frau in ein Nachbardorf. Kurt blieb im elterlichen Haus und baute es um. Mutter starb im 81. Lebensjahr.

          Doch mein Neffe Kurt hatte auch kein Glück. Seine Frau Magda hatte das gleiche Schicksal wie seine Mutter. Auch sie starb an Brustkrebs, nachdem sie drei Töchter bekommen hatte. Mit 36 Jahren war Kurt Witwer und zog seine drei Kinder alleine auf.

           Die Frau meines Bruders Kurt half viel, das muss gesagt werden. Die beiden hatten leider keine Kinder. Sie zogen wieder nach Ulm, wo mein Bruder Kurt auf dem Finanzamt arbeitete.

 

Umzug nach Offenburg

           In der Firma meines Mannes, der Württembergischen Catunmanufaktur, lief es nicht mehr so gut. Es kam das Ende, nur die Entwurfs- und Zeichenabteilung überlebte. Wir schauten uns nach einer anderen Arbeitsstelle um und so kamen wir 1967 nach Offenburg zu Burda. Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie schwer es für uns war, alles zu verlassen. Das erste Jahr war auch für Martin schwer. In der alten Firma war er eine Spitzenkraft für Stoffdruck, in der neuen Firma arbeitete er als Retuscheur und es waren ihm nicht alle wohlgesinnt, vor allem nicht alle „Alten“.

            In Offenburg verbrachten wir zehn schöne Jahre. Unsere Freizeit ver- brachten wir im Schwarzwald, im Elsass und in Frankreich. Wir besuchten, was uns neu war. Meinen jüngsten Neffen Hansjörg hatte es mit Frau und Tochter auch nach Offenburg verschlagen. Nun hatte Martin im Winter einen Partner für den Langlauf.



Zurück in die Heimat

           Als Martin in Rente ging, wollte er zurück zu seinen Wurzeln, zu seinen Geschwistern auf der Ostalb. In Nattheim, Martins Geburtsort, bauten wir unseren Altersruhesitz. So hatte er seine Geschwister in nächster Nähe. Das Haus in Heidenheim und die Wohnung in Offenburg hatten wir verkauft.

          In Nattheim verbrachten wir gute Jahre. Wir arbeiteten im Garten, hatten einen Rasen und herrliche Blumen. Martin malte und organisierte Treffen mit ehemaligen Schulkameraden. Ich war bei den Landfrauen. Martin half mir, Muster für Richelieu-Decken und Seidenschals zu entwerfen. Wir verwendeten dazu echtes selbstgesponnenes Leinen, das noch manche Bäuerin in ihrer Truhe hatte.

           Ja, dann hatten wir noch Zeit für viele kleinere und große Reisen. Bis die Altersbeschwerden kamen, hatten wir eine schöne Zeit. Sie kamen zuerst bei Martin. Ich konnte ihn selbst pflegen. Als die Pflege über meine Kräfte ging, halfen mir zwei Frauen. Als die Krankheit fortschritt, gab ich Martin schweren Herzens in ein Pflegeheim in Nattheim. Gott sei Dank wurde er nach fünf Monaten erlöst. Er starb im Februar 2004.

 

Allein

           Jetzt war ich allein. Schön war das nicht. Mein ganzes Leben hatte ich mit anderen Menschen verbracht, allein gelebt hatte ich noch nie. Nun musste ich lernen, allein zu leben. Doch damit nicht genug. 2005/06 bekam ich – kurz vor meinem 85. Geburtstag – noch ein neues Knie. Auch damit musste ich lernen zurechtzukommen. Ein Jahr später kaufte ich einen Elektro-Scooter.

Jetzt war ich wieder beweglicher und konnte wieder mehr unternehmen. Jetzt konnte ich zum Einkaufen fahren oder durch den Wald ins nächste Dorf und Verwandte und Freundinnen besuchen.

 

Rückblick

           Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, denke ich: Warum war ich so einfältig? Ich hätte manches leichter haben können. Ich habe Fehler gemacht, weil ich zu ängstlich war. Ich habe mich oft nicht getraut zu fragen, wenn ich etwas nicht verstanden hatte. Ich habe mir zu wenig zugetraut, weil ich mich nicht ausdrücken konnte. Oft habe ich nichts gesagt, was doch gut gewesen wäre. Wir Frauen waren damals viel untertäniger als die Frauen heute.

           Als ich den Führerschein machen wollte, sagte mein Mann: „Du hast doch ein Auto und einen Chauffeur!“ Insgeheim dachte ich: Du sparsamer Schwob hast doch nur Angst, dass ich eine Delle in dein Auto fahre.

           Als ich aus dem Krankenhaus kam, hatte ich so eine Sehnsucht nach Far- ben. Magda, eine Freundin von Anne, brachte mir eine Fotokopie eines Baumquerschnitts. Zeichnen Sie Ihre Höhepunkte ein, sagte sie. Das tat ich dann auch. Dann fing ich mit Collagen an, später mit Häkeln.

           Mit einer alten mechanischen Schreibmaschine, für die es kein Farbband mehr gibt, habe ich meine Memoiren geschrieben. So beschäftige ich mich. In letzter Zeit bin ich aber bequemer geworden, schlafe auch mehr.

           Der wird mich doch noch holen, der da oben. So schön ist es hier auch nicht, dass ich hier bleiben möchte.



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aufgeschrieben und erzählt
von Emma Esslinger,
ergänzt und bearbeitet
von Regina Boger 2016

 

Titelbild:
In diesem Schloss residierte
seine Erlaucht Graf Dr. Clemens Fugger
zu Kirchberg-Weißenborn,
Emma Esslingers erster Chef

Aus Ihrer Sehnsucht nach Farben entstanden Emma Esslingers Collagen.