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Ich schöpfe aus allen Kulturen

 

Name

           In der Schule wurde ich anfangs aufgezogen, weil die Lehrer meinen Namen nicht richtig aussprechen konnten. Inzwischen wird mein Name häufiger richtig ausgesprochen. Türkische Namen werden den Deutschen anscheinend vertrauter.

Schule/Bildung
          Ich wurde 1987 in Ludwigsburg geboren. Nach der Grundschule besuchte ich die Realschule, anschließend das Gymnasium. Ich war besonders an Geschichte, Religion, Kultur und Geografie interessiert. Bei der Abiturprüfung in Geschichte bekam ich 15 Punkte. Mein Geschichtslehrer sagte: „Sie studieren Geschichte!“ Ich sagte: “Nein, das werde ich ganz bestimmt nicht!“ Mit 19 hatte ich keine Ahnung, was ich machen sollte und keine Vorstellung, was ein Historiker macht. Und Lehrer wollte ich auf gar keinen Fall werden. Schließlich studierte ich Betriebswirtschaftslehre. Nach dem Bachelor schloss ich das Studium mit dem Master ab. Inzwischen arbeite ich als Betriebswirtschaftler in einem großen Unternehmen.

           Meine Eltern legen einen sehr großen Wert auf Bildung. In der Grundschulzeit halfen sie mir bei den Hausaufgaben. Später achteten sie darauf, dass ich die Anforderungen der Schule erfüllte. Meine Mutter wusste die Termine der Klassenarbeiten und motivierte mich, auf die Klassenarbeiten zu lernen. Meine Eltern förderten meine Leistungsbereitschaft, indem sie immer wieder sagten: „Mach was aus dir!“

 

Familie

           Meine Mutter kam mit 12 Jahren nach Deutschland, mein Vater im Alter von 17 Jahren. Er war politisch engagiert, deswegen machte sich seine Mutter Sorgen um ihn. Sie schickte ihn nach Deutschland, um ihn vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen. Ihr Mann, mein Großvater, arbeitete zu der Zeit schon in Asperg. Es war gang und gäbe, dass man seinen ältesten Sohn ins Ausland mitnahm. Mein Großvater suchte aus wirtschaftlichen Gründen Arbeit in Deutschland. Er wollte ein paar Jahre arbeiten und Geld verdienen und dann zurück nach Tunceli.

          Mich beeindruckte die Geschichte, wie mein Großvater nach Deutschland kam. Er lief zu Fuß von Tunceli nach Trabzon, das sind ungefähr 200 km. Von Trabzon aus nahm er die Fähre nach Istanbul, von Istanbul flog er nach Athen und von dort nach Paris. In Paris nahm er den Zug nach Stuttgart. Warum er diesen Weg gewählt hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hing das mit den Einreisebestimmungen Deutschlands zusammen.

           Meine Eltern sind entfernt verwandt miteinander. Sie lernten sich bei alevitischen Festen kennen, meist sind das Hochzeiten. Meine Mutter regelt alle Familienangelegenheiten, mein Vater repräsentiert die Familie nach außen.

Erziehung

           Meine Eltern arbeiten Gegenschicht. Einer war immer zu Hause bei den Kindern. Das führte auch dazu, dass sie die Kindererziehung und die Aufgaben im Haushalt teilten und noch teilen. Dadurch ist auch die Beziehung zu Vater und Mutter gleich stark. Bei Kurden ist Mama die stärkere Bezugsperson, weil sie eher auf die Gefühle der Kinder eingeht. Der Vater ist eher rational.

          Mein Bruder und ich haben schon als Kinder Aufgaben bekommen, die wir erledigen mussten: Zimmer aufräumen, Bett machen, Müll wegbringen, Tee kochen und das Essen aufwärmen. Meine Mutter nimmt ihre Aufgaben als Hausfrau sehr ernst. Sie ist sehr genau. Ihr war oft nicht gut genug, wie ich das Bett machte und sie machte es noch einmal. Schließlich überließ ich ihr diese Aufgabe ganz. Die Kinder erziehen auch die Eltern, nicht nur die Eltern die Kinder. Ich bin nicht so pingelig wie meine Mutter. Mein Bruder und ich brachten meiner Mutter den Umgang mit elektronischen Medien bei. Heute benutzt sie das Smartphone mehr als ich. Ich war lange Zeit ein Smartphone-Gegner.

          Inzwischen finde ich es sehr praktisch, ich benutze es zielgerichtet. Ich will, im Gegensatz zu meiner Mutter, nicht immer erreichbar sein, auch nicht vom Betrieb.

           Bei deutschen Eltern gefällt mir ihre Konsequenz in der Erziehung. Meine Eltern haben immer viele Ausnahmen von den Regeln zugelassen. Ich würde als Vater meine Regeln gegenüber den Kindern durchsetzen. Viele Türken erziehen ihre Kinder erst, wenn es zu spät ist. Der ersten und zweiten Generation ist eine bewusste Erziehung fremd. Über Erziehung wird nicht nachgedacht. Ich würde eher Prinzipien durchsetzen und auf jeden Fall die Kinder nicht verwöhnen.

 

Sprache

          Meine Eltern sprechen türkisch miteinander, können aber auch Deutsch. Wenn sie Türkisch sprechen, benutzen sie auch deutsche Begriffe wie Bahnhof, krank, tschüss, Arbeitsamt, Steuererklärung, Apotheke, ja und nein. Ich mische die Sprachen nicht gern, sage aber auch ja und nein, wenn ich Tür- kisch spreche.

 

Werte

           Aleviten sind auf eine Art konservativ, sie halten an der Tradition und an Zeremonien fest. Ein wichtiger Wert ist der Respekt vor Älteren. Ihnen ist wichtig, was die Anderen von einem denken. Sie wollen das Gesicht wahren, stolz auf ihre Kinder sein. Die Gesellschaft soll die Kinder toll finden. Meine Mutter würde nie einen Besuch ablehnen, auch wenn er nicht in ihre Pläne passt. Das gehört sich einfach nicht. Ich bin direkter, so wie die Deutschen. Ich äußere meine Bedürfnisse. Im Fall eines Besuchs sage ich, dass es mir im Augenblick nicht passt und vereinbare einen Besuch, wenn ich Zeit habe. Das ist ein richtiger Kultur- und Generationencrash. Ich bin durch die Schule sozialisiert und dadurch an die Mehrheitsgesellschaft angepasst. Ich bin eher pragmatisch, logisch und rational. Ich betone stärker das Ich als das Wir. Ich nehme mir eine größere Freiheit in dem, was ich tue.



Religion

           Mir ist die Religion wichtig. Ich übernehme, was Sinn macht, Anderes lasse ich weg. Ich esse zum Beispiel kein Schweinefleisch, weil es die traditionelle Regel vorschreibt und sie mich nicht einschränkt. Ich kann ja Hühner- und Rindfleisch essen. Wenn mich die Regeln einschränken, befolge ich sie nicht. Manche Regeln hatten historisch einen Sinn, heute aber nicht mehr so wie das Verbot, Schweinefleisch zu essen oder die Beschneidung. Ich halte an dem Respekt vor Älteren fest, am Fasten und am gemeinsamen Fastenbrechen. Die Gemeinschaft ist wichtig.

           Wir haben keine Gebetszeiten und keine Gebete. Ich kann Gott immer anrufen, alles ist ein Gebet, alles, was ich tue. Ich muss nichts für Gott machen, sondern für andere Menschen. Haci Bektas sagte: „Meine Kaaba ist der Mensch.“ Man betet nicht für sich alleine, sondern gemeinsam im Cem. Die Aleviten sagen. „Gott ist nicht zufrieden mit dem Menschen, wenn der Mensch nicht mit dem Mensch zufrieden ist.“ Gott ist überall.

           Für mich ist Religion wie ein Messer oder ein Stuhl. Ich kann Gutes oder Böses damit machen. Religion ist ein Teil des Lebens. Von den Deutschen habe ich das Abendgebet übernommen. Man sollte etwas glauben, weil die Religion mit moralischen Werten verbunden ist.

 

Identität

           Den Alevismus habe ich durch die Praxis meiner Eltern gelernt. Lange Zeit habe ich mich mit Religion beschäftigt, um meine Identität zu finden. Durch die Unterdrückung der Aleviten haben wir Identitätsprobleme. Bin ich Muslim oder ist der Alevismus etwas Eigenständiges? Meine Eltern kommen aus Tunceli, Ostanatolien, und sprechen Zaza. Bin ich Türke, Kurde, Zaza oder Deutscher? Meine Heimat ist Ludwigsburg, aber mein Herz schlägt für Istanbul. Meine Eltern kommen aus Tunceli, aber was habe ich mit Tunceli zu tun?

          Ich kann aus jeder Kultur schöpfen und das verwenden, was am besten zu mir passt. Ich bin deutscher Staatsbürger, aber kein Deutscher. Ich bin Zaza, ich bin Alevit. Ich kann auf allen Stühlen sitzen. Ich will mich nicht mehr festlegen, wer ich bin. Meine Identität ist situationsbedingt. In der Türkei höre ich lieber deutsche Musik und möchte Deutsch sprechen. In Deutschland möchte ich lieber das Türkische kultivieren. In Deutschland bin ich der Immigrant, in der Türkei bin ich der Deutschländer. Bei Fußballspielen Deutschland – Türkei wedle ich mit beiden Fahnen, vielleicht mit der deutschen etwas mehr. Ich habe alevitische, kurdische, griechische, sunnitische, indische und deutsche Freunde. Mit Migranten verstehe ich mich besser als mit Deutschen, weil wir ähnliche Erfahrungen gemacht haben.        

Wegen meines Migrationshintergrunds habe ich in Deutschland schlechteere Chancen als Deutsche. Wenn man bei Bewerbungen den Namen und das Foto weglassen würde, hätte ich beruflich bessere Chancen.

 

Alevitische Gemeinde

           Ich wünsche mir, dass die Alevitische Gemeinde blüht und wächst. Ich selbst sehe mich nicht in einer aktiven Rolle. Ich war zwei Jahre lang im Vorstand und möchte diese Erfahrung nicht wiederholen. Die Leute, die etwas drauf haben, kommen nicht zurück, weil sie sich mit den Älteren nicht mehr auseinandersetzen wollen. Der Vorstand wird von der zweiten Generation dominiert. Im Vorstand müssten mehr Junge und mehr Frauen sein. Die Frauen sind gleichberechtigt, aber sie trauen sich nicht viel zu, sie werten sich selbst ab. Dadurch schränken sie sich ein.

           Aleviten sind individualistisch und aufmüpfig. Sie diskutieren über alles. Jeder möchte seinen Senf dazu geben, auch wenn es schon gesagt wurde. Wenn einer sagt: „Ich finde, wir sollten keinen Alkohol anbieten“, antwortet ein anderer: “Ich bin der Meinung, wir sollten keine alkoholhaltigen Getränke anbieten“ und ein Dritter und ein Vierter bringen noch eine dritte und vierte Variante mit demselben Inhalt. Wenn alle ihre Meinung gesagt haben, sind sie zufrieden und gehen. Alle diskutieren über alles. Das ist sehr demokratisch, schön und schrecklich zugleich.

 

Rollen von Mann und Frau

          Ich erlebe zu viel Ich-Bezogenheit bei jungen Männern und Frauen, zu wenig Bereitschaft zu Konsens und Kompromiss. Ich stelle mir vor, dass man vereinbaren kann, dass am einen Tag der Eine bestimmt und am nächsten Tag der Andere. Frauen suchen sich immer aus, was ihnen passt. Sie wollen die gleichen Rechte wie Männer, aber wenn es ihnen passt, ziehen sie sich auf das schwache Geschlecht zurück. Frauen sollten genauso wie Männer Wehrdienst leisten. Ich bin gegen eine Frauenquote, weil der oder die Beste die Position bekommen sollte.

 

Zukunft

          Ich bin vollkommen offen. Ich weiß nicht, wo ich leben werde, in Hessen oder in Frankreich. Politisch wünsche ich mir einen streng laizistischen Staat und einen europäischen Föderalismus.

          Ich bin Alevit. Ich bin frei in der Wahl meiner Partnerin. Eine Alevitin wäre schön, muss aber nicht sein. Ich möchte keinen Mama-Ersatz, sondern eine gleichberechtigte Partnerin. Eine Liebesehe, keine Vernunftehe.

          Wo ich einmal begraben sein will, kann ich jetzt noch nicht sagen. Es ist wichtiger, wie man stirbt, ob man einsam oder krank war, als wo man begraben ist.



Mit dem Interviewpartner wurde Anonymität vereinbart.
Aufgeschrieben und bearbeitet von Regina Boger

5. Juli 2014

Titelbild: Ludwigsburg, Fasanenstraße. Fotografiert von db