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Die erste WG in Ludwigsburg


          1968 begann ich mein Studium in Ludwigsburg. In Berlin, Frankfurt, Heidelberg, Paris und Tokio  gingen Studenten auf die Straße und probten den Aufstand. Ich freute mich auf ein aufregendes Studentenleben in Ludwigsburg. Doch von Studentenrevolte keine Spur. Nicht mal eine Studentenkneipe. In Kinos liefen Heimat-, Roy-Black- und Sexfilme und eine unendliche Serie an Schulmädchenreports. Der Gestank von verbranntem Kaffee lag wie Mehltau über der Stadt. Eine ödere Stadt hätte ich mir nicht vorstellen können. Ich fühlte mich am falschen Ort.

            Das änderte sich erst, als ich mit anderen Studenten zusammen der Stadt wegen akuter studentischer Wohnungsnot ein Abrisshaus ohne Heizung neben dem Schlachthof abgerungen hatte. Wir gründeten die erste WG in Ludwigsburg. Nachts schrien die Kühe. Ich schrieb ein melancholisches Gedicht:

                       Heute Nacht schreien die Kühe
            Morgen werden sie geschlachtet.
            Wann schreien wir?     

Wir schrien nicht, wurden auch nicht geschlachtet, sondern diskutierten in der Küche über Erziehung zur Freiheit und den Marsch durch die Institutionen. Zeitweise wohnten in sechs Zimmern und einem Flur elf Leute. Das

 

 

Regina Boger

rege Kommen und Gehen von Gestalten mit Vollbärten und langen schwarzen Ledermänteln wurde von den Nachbarn misstrauisch beäugt. Sie verdächtigten uns der terroristischen Umtriebe. Wir unterstützten nicht die RAF, sondern stritten für oder gegen Putz- und Spülpläne und wer die Mülltüten zum Mülleimer tragen musste.

          1973 wurde ich Lehrerin an einer Berufsschule. Wenn ich das Schulgelände betrat, hatte ich das Gefühl, den demokratischen Sektor Deutschlands zu verlassen. Der Schulleiter verdächtigte mich des Drogenkonsums und ein Friseurmeister, in einer „sozialdemokratisch-sozialistisch-kommunistischen Kommune mit Gruppensex und Striptease“ zu wohnen. Das waren meine wenigen aber prägnanten Kontakte mit Ludwigsburgern.

          Mein Freundeskreis beschränkte sich auf junge Leute, die auch seit kurzem in Ludwigsburg oder Umgebung wohnten. Hier kam die Idee auf, ein politisch-kulturelles Zentrum zu gründen, in dem man sich zwanglos treffen, diskutieren und feiern konnte. So entstand das Demokratische Zentrum. Es wurde ein Anziehungspunkt für junge Leute, die die Welt verbessern wollten. Jetzt lernte ich auch Ludwigsburger kennen und begann, mich heimisch zu fühlen. Das DemoZent war zwar ein Verein, aber diese traditionellen Strukturen sollten keine Rolle spielen. Es gab Vollversammlungen in Rauch geschwängerter Atmosphäre, an denen alle, die da waren reden und mitbestimmen konnten, egal ob Mitglied oder nicht. Bei jeder Versammlung waren andere Leute da, die ihre Stimme erhoben. Die Mitglieder waren meist in der Minderheit. Wir probten Basisdemokratie. Wer Lust hatte, initiierte Vorträge, Diskussionen oder Feste. Konsequenterweise traf sich hier auch die Bürgerinitiative gegen Atomkraft. Als eine Rockergruppe mehrmals in das Zentrum eingebrochen war, bildeten sich zwei Lager: die Polizei holen oder nicht. Ich war dafür, die Polizei zu holen und sah mich nun von der Gegenfraktion in die Ruhe-und-Ordnung-Spießer-Ecke gestellt. Nach zermürbenden Diskussionen setzte sich die Polizei-Gegner-Fraktion durch. Viele von ihnen waren weder Mitglied im Verein noch beteiligten sie sich an irgendeinem Dienst. Andere schoben nachts Wache, um die Einbrecher zu stellen. Ich fühlte mich in dieser Atmosphäre immer weniger zu Hause und verließ schließlich das Demokratische Zentrum. Dennoch fühle ich mich noch heute mit Jenen verbunden, mit denen ich die Basisdemokratie erprobt habe, mit denen ich gestritten, gelacht, getanzt und gefeiert habe.



Titelbild: Bilal Hasaf. Foto: Regina Boger. Zeitungsschnitt: Ludwigsburger Kreiszeitung