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Mit dem Umzug nach Ludwigsburg verlor ich meine Heimat

 

 


Wir hatten eine schöne Kindheit. Das sagen wir immer wieder, wenn wir miteinander telefonieren, meine Schwester und ich. Meine Schwester ist die Einzige, die noch lebt.

         Meine Eltern, mein Bruder und die andere Schwester sind längst tot.

 

Kindheit und Jugend

           Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen. 1927 wurde ich als viertes Kind geboren und zwar im Bahnhof von Möglingen. Meine Mutter war Bahnhofsvorsteherin und

so hatten wir den ganzen Bahnhof als Spielplatz zur Verfügung. Und gleich neben dem Bahnhof den Leudelsbach und unser Stückle mit Obstbäumen. Wir hatten einen Überfluss an Kirschen, Zwetschgen, Birnen und Äpfeln. Auf unserem Acker bauten wir Kartoffeln, Gerste, Weizen und Mais nach dem Vier-Jahres-Plan an. Das heißt, die Fruchtfolge änderte sich jedes Jahr in einer bestimmten Reihenfolge. So wurde der Boden nicht ausgelaugt. Durch die Obstbaumwiese und den Acker versorgten wir uns weitgehend selbst mit Lebensmitteln. Uns gehörte die ganze Welt, das war mein Gefühl bis ich sechs Jahre alt war.

          Das änderte sich 1933, als die Hitler-Regierung die Kampagne gegen die Doppelverdiener verstärkte. Die verheirateten Frauen wurden entlassen und für sie wurden arbeitslose Ehemänner eingestellt. Mein Vater arbeitete als Bahnbeamter bei der Bahn und zwar bei der Güterabfertigung in Ludwigsburg. Als meine Mutter entlassen wurde, verloren wir nicht nur einen Verdienst, sondern auch unsere Wohnung im Bahnhof. Wohin mit vier Kindern? Und wie mit einem Verdienst auskommen? Das waren die Fragen, die sich meinen Eltern stellten. Da zeichnete sich eine Lösung ab: Meine Eltern kauften ein Haus in der Hoffmeisterstraße. Nahezu zur gleichen Zeit ging die Firma meines Onkels in Konkurs, für die mein Vater gebürgt hatte. Mein Onkel kam in Zahlungsschwierigkeiten und mein Vater musste für seine Schulden aufkommen. Meine Eltern hatten gleichzeitig Geld für die Bürgschaft und für

den Hauskauf aufzubringen. Schmalhans war nun bei uns Küchenmeister. Trotz der finanziellen und räumlichen Enge hatte ich nie das Gefühl, arm zu sein. Not macht erfinderisch: Mit Elf nähte ich meinen ersten Rock aus einem alten Kleid. Im Laufe meines Lebens nähte ich noch viele Röcke, Blusen und Kleider aus alten Kleidern, die zu klein geworden waren.

           Am Anfang war für mich der Umzug nach Ludwigsburg der Verlust meiner Heimat. Von einem großen Bahnhof kam ich in ein kleines Haus,

gemessen am Bahnhof war es jedenfalls klein. Auch das neue Haus in der Hoffmeisterstraße stand am Ortsrand, neben der Straße begannen die Felder. In den ersten Jahren war die Straße noch nicht einmal asphaltiert. Die Häuser auf der anderen Seite der Talallee gab es damals noch nicht. Wir hatten also auch da Platz zum Spielen, aber es war halt nicht mehr der Bahnhof von Möglingen, in dem ich mich als Herrin der Welt gefühlt hatte.

           Mit Ludwigsburg versöhnte mich, dass mein Urgroßvater Türmer der Stadtkirche gewesen war, das war eine verantwortungsvolle Aufgabe mit Weitblick. Vom Turm aus konnte er die ganze Stadt überblicken und musste melden, wenn er etwas Bedrohliches wie Feuer in einem Haus sah. Ich lernte ihn nicht mehr kennen, da er in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts starb, also noch vor meiner Geburt. Meine Mutter erzählte mir viel von ihm. Er muss eine beeindruckende und liebenswerte Persönlichkeit gewesen sein. Noch heute hängt ein Foto von ihm in meinem Esszimmer. Ich schaue es gern an, weil er mir so gefällt. Das andere Gute an Ludwigsburg war, dass wir den Asperger Buckel hinunter mit den Schlitten fahren konnten. Das war nicht gefährlich, weil nur wenige Autos auf den Straßen fuhren. Das Gefährlichste war, dass unter der Eisenbahnbrücke kein Schnee lag, der Schlitten plötzlich stoppte, wenn er mit den Kufen auf den Straßenbelag kam und wir um den Laternenmast gewickelt wurden. Wir kamen deshalb öfter mit aufgeschürften Händen, Knien und Nasen nach Hause. Als ich älter war, bin ich mit Freundinnen oder meinen Geschwistern zum Schlittschuhlaufen auf die Eisbahn im Stadion zu Fuß gegangen. Das waren vier Kilometer hin und vier Kilometer zurück. Das würde heute auch niemand mehr machen.



Meine Eltern

           Ich hatte ein ganz besonderes Elternhaus, ich meine damit nicht das Haus, sondern meine Eltern. Meine Eltern achteten und liebten sich. Das wirk- te sich auch auf die Erziehung der Kinder aus. Meine Eltern waren keine großen Kirchgänger, aber sie verwirklichten das Prinzip der Nächstenliebe. „Die Kirche muss man in sich tragen. Das muss man nicht zur Schau stellen“, sagte mein Vater, „wenn ich auf dem Acker bin, dann bin ich Gott näher als in der Kirche.“ Bei uns gab es Tischgebete und ein Gute-Nacht-Gebet. Meine Mutter sagte: „Der liebe Gott sieht alles. Das Gute wie das Schlechte.“ Das habe ich verinnerlicht.

           Meine Eltern mussten viel arbeiteten und wussten dennoch das Leben zu genießen. Mein Vater tanzte gern – trotz seiner Beinprothesen. Seine Beine hatte er 1913 bei einem Unfall verloren. Er machte zu der Zeit eine Ausbildung bei der Bahn. Beim Rangieren von Waggons fuhr ein Waggon zu früh los. Als mein Vater den Waggon kommen sah, sprang er zur Seite, seine Hose verfing sich aber in einer Weiche, er kam nicht rechtzeitig von den Gleisen und der

Wagen rollte über seine Beine. Er verlor den Unterschenkel auf der einen Seite und auf der anderen das ganze Bein. Trotz allem verlor er seine Lebensfreude nicht. Manchmal rückten meine Eltern die Möbel im Wohnzimmer an die Seiteund luden Freunde und Nachbarn zum Tanzen ein. Das war außergewöhnlich in dieser Zeit. Auch seine Schaffenskraft wurde durch diese Behinderung nicht getrübt. Obwohl er nur noch ein Knie hatte, schaffte er auf den zwei Äckern, dem Obststückle und dem Garten im Lerchenholz.

           Meine Mutter hatte Jahre lang Tag und Nacht gearbeitet. Neben ihrer Stelle als Bahnhofsvorsteherin, dem Haushalt und den Kindern, arbeitete sie auf den Äckern und im Garten. Nachdem wir in die Hoffmeisterstraße gezogen waren, bekam sie einen Nervenzusammenbruch. Ihre Nerven rebellierten, nachdem sie von der ständigen Überarbeitung zur Ruhe gekommen war. Dazu kam noch Bronchialasthma. Da sie oft bettlägerig war, mussten wir Kinder früh mit anpacken. Wenn wir von der Schule nach Hause kamen, fingen wir an, den Haushalt zu machen: Aufräumen, kochen, spülen. Alle konnten alles. Auch der Vater half im Haushalt mit. Das einzige, was er nicht konnte, war Brot backen. Aber das war kein Schaden.



Das Dritte Reich

           Mit zehn bis vierzehn Jahren war ich bei den Jungmädel, dann wurde ich Jungmädelführerin. Da ich Jungmädelführerin war, kam ich nicht zum BDM (Bund deutscher Mädchen). Mir gefiel es bei den Jungmädel.

          Mittwochnachmittags trafen wir uns im Feuerseehof zum Singen und Basteln. Manchmal gingen wir ins Krankenhaus und sangen den Kranken Lieder vor. An andern Tagen bastelten wir aus Lumpen Puppen und bauten Puppenstuben. Die verkauften wir vor Weihnachten. Das Geld lieferten wir ab. Was mit ihm geschah, weiß ich nicht. Die Aktivitäten bei den Jungmädel konnte ich gut mit meinem christlichen Glauben vereinbaren. Samstags machte die Führerschaft der Jungmädel und des Jungvolks ab und zu Ausflüge. Einmal wanderten wir zu Fuß nach Mundelsheim. Wir machten Kreisspiele, sangen und trainierten für die Reichsjugendspiele. Die Mädels übernachteten in der Scheune, die Jungs in Zelten. Morgens und abends wuschen wir uns am Brunnen. Am nächsten Tag wanderten wir zurück nach Ludwigsburg.

           Ich muss sagen, dass ich gern zu den Jungmädel gegangen bin. Alles, was wir dort gemacht haben, habe ich gern gemacht. Außerdem musste ich an diesem Nachmittag nicht mit auf den Acker, das war auch schön. Meine Schwestern waren nicht beim BDM und mein Bruder nicht bei der Hitlerjugend. Auf uns wurde kein Druck ausgeübt, in eine Jugendorganisation der NSDAP zu gehen.

Der Krieg

           Ludwigsburg wurde im Krieg nur wenig bombardiert, im Gegensatz zu Stuttgart. Dennoch fielen einige Bomben. Eine hätte mich beinahe das Leben gekostet. Sie fiel auf die Siedlung jenseits der Talallee. Die Druckwelle war so stark, dass die Fenster in unserem Haus barsten. Ein Steinbrocken aus dem Dach fiel direkt auf mein Kopfkissen. Zum Glück lag ich nicht im Bett, sondern war im Keller. Bei Bombenalarm gingen wir immer in den Keller. So auch am 14. Januar 1943. Drei Soldaten retteten sich vor den Fliegerangriffen zu uns in den Keller. Als sie erfuhren, dass ich zwei Tage später Geburtstag hatte, gingen sie einzeln in ein Blumengeschäft und kauften je einen Fliederzweig. Da auch die Blumen rationiert waren, bekam jeder nur einen Zweig. Aber die drei Zweige zusammen ergaben einen schönen Strauß. Auch in der größten Bedrohung hatten wir noch unseren Spaß.

           Von 1942 bis 45 half ich jeden Sonntag im Krankenhaus. Zuvor hatte ich in Abendkursen eine Pflegeausbildung bekommen. Wir lernten, wie man Spritzen gibt, Augentropfen und Medizin verabreicht, Verbände anlegt, die Patient*innen wäscht, bettet und füttert. Das machten wir von morgens fünf bis abends um zehn oder elf Uhr.

           Als die amerikanischen Soldaten nach Ludwigsburg einmarschierten, schossen sie vom Osterholz aus auf die Stadtkirche. Noch heute höre ich dieses Sirren. Vom Krankenhaus aus sah ich, wie es in der Weststadt brannte. Wegen der Tiefflieger konnte ich nicht nach Hause. Es war furchtbar, dieses Feuer zu sehen und nicht zu wissen, ob unser Haus auch getroffen worden war und ob meine Familie noch lebte. Auf dem Weg zum Krankenhaus wurde ich einmal von einem Tiefflieger geradezu verfolgt. Neben mir schlugen die Kugeln in die Häuserwände ein. Das empfand ich nicht mehr als Krieg, das empfand ich als Mordversuch.



Schule und Beruf

           Nach dem Abschluss der Volksschule, das war 1940, besuchte ich die Höhere Handelsschule, die ich 1943 abschloss. Nach der Mittleren Reife auf der Höheren Handelsschule hatte ich die Wahl zwischen einem Pflichtjahr als Haushaltshilfe bei einer kinderreichen Familie und dem Arbeitsdienst. Ich entschied mich für ein Pflichtjahr.

           Nach dem Pflichtjahr fand ich eine Stelle auf dem Landratsamt. Dort arbeitete ich von 1944 bis kurz nach dem Krieg für einen Sachbearbeiter, der als schwierig galt. Im Lauf der Zeit fand ich heraus, weshalb er so verschlossen war. Er hatte seine Frau verloren und musste nun für seine drei Kinder allein sorgen. Außerdem kam er aus Ostpreußen und tat sich mit den Schwaben schwer. Mir vertraute er und schüttete ab und zu sein Herz aus. 1945 schrieb mir der Landrat einen Brief, er wolle nicht mit Nazis zusammenarbeiten und entließ mich wegen meiner Jungmädelführerschaft. Später stellte sich heraus, dass der Landrat selbst in der NSDAP gewesen war. Zum Abschied sagte jener Sachbearbeiter, mit dem ich so viel zusammengearbeitet hatte: „Den Wert eines Menschen erkennt man erst, wenn man ihn verliert.“

 

Verwechslungen

          Meine Schwester und ich telefonieren oft miteinander und lachen noch heute über die Verwirrung, die wir in jungen Jahren unfreiwillig erzeugt haben. Friedl arbeitete wie ich beim Landratsamt, sie beim Leiter des Amtes

ich beim Wirtschaftsamt. Eines Tages kam der Leiter des Kreisjugendamts zu mir und sagte: „Nanu, eben saßen sie doch noch beim Amtsleiter!“ – „Das war meine Schwester!“, klärte ich ihn auf. Wir sahen uns zum Verwechseln ähnlich und hatten unseren Spaß mit der Verwirrung der Leute, die uns nicht auseinanderhalten konnten.

           Ein anderes Mal grüßte mich ein fremder Mann. Ich dankte wie einem Fremden. „Warum so reserviert?“, fragte er. „Weil ich Sie nicht kenne“, antwortete ich. „Sie arbeiten doch beim Landratsamt“, entgegnete er. „Das ist meine Schwester“, gab ich zurück. Daraufhin er wieder: „Aber Sie waren doch mit Ihrer Schwester bei mir im Wohnungsamt!“ – „Das war meine andere Schwester“, sagte ich. Er seufzte: „Da soll noch ein Mensch drauskommen!“

 

Berufstätigkeit nach dem Krieg

           Kurze Zeit war ich arbeitslos, dann fand ich eine Stelle als Haushaltshilfe bei der Familie Berger. Frau Berger war nach einer Bauchoperation bettlägerig und brauchte jemanden, der den Haushalt führte und die Kinder versorgte. Mir gefiel diese Aufgabe, alle Haushaltsangelegenheiten beherrschte ich aus dem ff und mit Kindern konnte ich auch gut umgehen. Ihr ältester Sohn sagte einmal zu mir: „Marga, machsch mei‘ Transleischen, dann putz‘ ich dir dafür die gelben Rüben!“ Da ich so gut Englisch konnte, machte ich seine Überset- zung und er putzte tatsächlich die gelben Rüben.



Da die Familie Berger so zufrieden mit mir war, vermittelte mich Herr Berger als kaufmännische Angestellte der Firma Sulzberger, die Autoelektrik vertrieb. Ich lernte viel über Autos, was mir heute noch nützt. Dort lernte ich Herrn Mühlschlegel kennen, der Landmaschinen verkaufte. Er warb mich sozusagen ab, indem er mir ein höheres Gehalt als bei der Firma Sulzberger anbot. Aber die Arbeitszeiten waren elend lang.

          Eine Freundin riet mir, mich bei der GdF Wüstenrot zu bewerben. Ich hatte Glück und wurde eingestellt. Bei der GdF hatte ich um fünf Uhr Feierabend. Da fühlte ich mich wie im Paradies. Dort habe ich von 1950 bis 1958 gearbeitet. Kurz nachdem ich bei der GdF angefangen hatte, wurden elektrische Schreibmaschinen eingeführt. Glücklicherweise war ich eine von den fünf kaufmännischen Angestellten, die ausgewählt wurden, um bei IBM einen ganzen Tag in die Bedienung dieser elektrischen Schreibmaschinen eingeführt zu werden. Der Anschlag war ja ganz anders. Bei den mechanischen Schreibmaschinen musste man richtig auf die Tasten hauen, bei den elektrischen durfte man sie nur noch berühren.

           Sechs Wochen nach der Geburt meiner Tochter im Jahr 1952 arbeitete ich wieder bei der GdF. Ich war die erste Frau bei der GdF, die Teilzeit arbeiten durfte. Diese Ausnahme machte die Geschäftsleitung, weil ich für einen schwierigen Sachbearbeiter geschrieben habe, für den sonst niemand schreiben wollte. Zuerst arbeitete ich nachmittgas, dann vormittags. Ich brachte mein Kind morgens vor der Arbeit zu meiner Schwester, die noch bei meinen Eltern wohnte. Mir tat es immer sehr weh, wenn ich mein Kind aus dem Schlaf reißen musste, vor allem im Winter. Meine Tochter war mit der Situation schnell versöhnt, wenn sie zu meiner Schwester unter die Bettdecke schlüpfen durfte. Denn die lag zu der Zeit oft noch im Bett.

 

Ehe und Familie

          Mein Mann wuchs auch in der Weststadt auf. Er wohnte nur ein paar Straßen weiter in der Wilhelm-Blos-Straße. Wir waren von der ersten Klasse an in derselben Klasse. Da ich lieber mit den Buben im Freien spielte, war ich mit ihm und seinen Freunden viel zusammen. Als Einzelkind fühlte er sich in

unserer turbulenten kinderreichen Familie immer sehr wohl. Ich nahm ihn und seine Freunde nur als Spielkameraden wahr. Männer interessierten mich lange Zeit überhaupt nicht. Ich wollte keinen Freund und einen Mann schon gar nicht. Männer brachten nur Enttäuschungen und Liebenskummer mit sich, das sah ich rings um mich herum. Die Tränen, welche die Mädchen und jungen Frauen wegen Männern vergossen, wollte ich mir ersparen. Im Dezember 1948 kam ich abends vom Geschäft heim und sah an der Ecke Wernerstraße/ Gänsfußallee ein paar Schulkameraden stehen und miteinander reden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

          Aber dann kam Günter
und ich änderte meine Meinung.

 

Sie waren alle erst vor kurzem aus der französischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Ich ging zu ihnen und redete mit ihnen, es waren ja alles Schulfreunde. Ich rannte nach Hause und erzählte die Neuigkeit meinem Bruder. Er war mit Günter in Kriegsgefangenschaft gewesen. Mein Bruder holte seine Freunde sofort ins Haus und bewirtete sie mit Most und Brot. Mehr hatten wir nicht und mehr brauchten wir nicht. Wir waren so froh, dass wir wieder beisammen waren. Sie erzählten an dem Abend viel von der Gefangenschaft. Mein Bruder und Günter hatten sich nach Kriegsende zufällig in einem Kriegsgefangenenlager der Amerikaner in Heilbronn getroffen.

Jeder bekam einen Laib Brot, der musste für eine Woche reichen. Günter war sehr sportlich und turnte viel rum. „Beweg‘ dich lieber nicht so viel“, sagte mein Bruder zu ihm, „spar‘ deine Kräfte.“ Mein Bruder war pragmatisch. Er erkannte schnell, worum es ging und worauf es ankam. Später wurde das Lager von der französischen Armee übernommen und mein Bruder wurde in ein Lager nach Clermont-Ferrand gebracht. Nachdem meine Schulkameraden wieder bei ihren Familien lebten, verbrachten wir viele Abende miteinander. Üppiges Essen gab es zu der Zeit nicht. Meist gab es abends Pellkartoffeln und rote Rüben, die wir von unserem Acker hatten. Manchmal kamen auch Nachbarn dazu, um sich satt zu essen. Irgendwann wurden Günter und ich ein Paar. Das hat sich halt so ergeben.



          Günters Vater war im Dezember 1944 gestorben. Er starb in den Armen meiner Schwester, die auch bei der Güterabfertigung arbeitete. Durch den Tod seines Vaters war er nun mit seiner Mutter allein in dem Zweifamilienhaus in der Wilhelm-Blos-Straße. Wir heirateten 1951 und zogen in sein Elternhaus, das meinem Mann und meiner Schwiegermutter je zur Hälfte gehörte. Wegen der Wohnungsnot nach dem Krieg hätten wir aus der Wohnung wieder ausziehen müssen, das Wohnungsamt hatte eine fünfköpfige Familie für unsere Wohnung vorgesehen.

          Wir hatten jedoch schon eins der drei Zimmer an den Geschäftsführer von Hüller vermietet. Und den wollte niemand ausquartieren. Seine Familie lebte in Mainz. Herr Dr. Roth fuhr freitagabends nach Hause und kam montagmorgens wieder. Erstaunlich war, dass er bis 1961 bei uns wohnte. Anscheinend fühlte er sich in diesem kleinen Zimmer wohl, obwohl er in Mainz mit seiner Frau in einer Villa wohnte.

           Als 1961 unser Sohn auf die Welt kam, wurde es uns in den zwei Zimmern zu eng. Unsere Tochter, die 1952 geboren war, schlief bei uns die ganzen Jahre im Schlafzimmer. Nun brauchte sie ein eigenes Zimmer und deshalb mussten wir unserem liebenswerten und unkomplizierten Mieter kündigen. Auch nachdem er ausgezogen war, pflegten wir den Kontakt weiterhin. Mit seiner Frau besuchte er uns ab und zu am Wochenende oder wir fuhren zu ihm in seine herrschaftliche Villa nach Mainz.

 

Alte und junge Leute

           In den fünfziger und sechziger Jahren waren viele alte Leute der Meinung, dass nur die Alten Recht haben, eben weil sie älter waren. Ich habe gelernt, still zu sein, weil ich gemerkt habe, dass Argumente nichts nützten, auch wenn sie noch so stichhaltig waren. Meine Eltern waren eine Ausnahme. Sie waren außergewöhnlich liberal und tolerant. Leben und leben lassen, sagten sie und helfen, wo man helfen kann. Ich war sehr froh, dass sie nur ein paar Straßen entfernt wohnten und ich immer zu ihnen gehen konnte, wenn mir die Decke in unserer Wohnung auf den Kopf fiel. In der Wilhelm-Blos- Straße herrschte eine andere Atmosphäre als in der Hoffmeisterstraße.

 

Meine Kinder

           Meine Tochter war ein rasanter Mensch. Sie konnte schon mit achteinhalb Monaten laufen und mit neun Monaten Treppen steigen. Sie war

immer in Bewegung. Bis ich einen Arm in ihrem Mantel hatte, musste ich sechs Mal um den Tisch rennen. Sie war groß, kräftig und beweglich. Sie konnte früh sprechen und schon mit vier Jahren lesen.

           Mein Sohn war etwas gemächlicher, aber auch lebhaft. Er war an allem interessiert. Mein Bruder, der zu seinem großen Bedauern auf Kinder verzichten musste, hatte ihn in sein Herz geschlossen. Mein Bruder arbeitete als Bauingenieur bei der Bahn. Manchmal nahm er meinen Sohn mit und zeigte ihm, was man alles überlegen musste, bevor man ein Eisenbahngleis legen konnte. Mein Sohn übernahm diese Art des Planens und Überlegens. Bevor er mit seinen Autos spielte, zeichnete er auf alten Tapetenresten einen Stadtplan mit Autostraßen.

           Es ist ein großes Glück, dass meine Kinder in der Nähe wohnen. Sie be- suchen mich oft und laden mich zum Essen ein. Meine Tochter fährt mich zum Arzt, ins Krankenhaus oder zu Physiotherapie-Terminen, wenn ich nicht selbst fahren kann.

Resümee

           2007 ist mein Mann gestorben. Der Krebs griff auf die Lunge über. Mein Mann lebte sehr solid. Er hat nie geraucht und nie getrunken und war immer gesund. Ich hätte nie gedacht, dass ich diejenige bin, die übrig bleibt.

           Ich bin zufrieden. Ich habe nie eine Karriere angestrebt und wurde dennoch für meine Leistung anerkannt. „Man merkt, dass Sie mitdenken“, sagten meine Chefs zu mir. „Du hättest viele Berufe ausüben können“, sagte mein Mann zu mir, wenn ich mal wieder einen Handwerker im Haus ersetzt hatte. Auf den Krieg hätte ich verzichten können.

           Ich möchte in meinem Haus so lange wie möglich wohnen. Noch kann ich alles selber machen oder organisieren, wenn andere etwas für mich machen sollen. Notfalls würde ich eine Pflegerin einstellen, die mich unterstützt, wenn ich mal gebrechlich werde – aber nur, wenn es sein muss. Meine Kinder und meine Schwiegertochter sind immer für mich da, wenn ich sie brauche.



 

Erzählt von Frau Weiss im Alter von 88 Jahren,
aufgeschrieben von Regina Boger von August bis Oktober 2015.
Das Bild zeigt Frau Weiss an ihrem 90. Geburtstag

 

Titelbild: Der Möglinger Bahnhof, abgebildet in der Stuttgarter Zeitung vom 17. März 2017

Bildunterschrift: Über die stillgelegte Trasse von Markgröningen über Möglingen nach
Ludwigsburg sollen bald wieder Züge fahren
so will es das Ludwigsburger Rathaus.