Ich komme aus Lomersheim

 

Als ich gefragt wurde, woher ich komme, log ich. „Aus Mühlacker“, sagte ich, obwohl ich aus Lomersheim stamme. Über Lomersheim lachten die meisten, die in einer Großstadt nördlich der Mainlinie wohnten. Den Main nannten sie übrigens den Weißwurstäquator, weil man ihrer Meinung nach südlich des Mains nur Weißwürste isst.

„Looomersheim!“, sagten sie süffisant, wobei sie das O über Gebühr dehnten, als ob das O an dieser Stelle ein Zeichen von Minderwertigkeit wäre.

„Und wo soll das liegen?“

„Bei Mühlacker.“

„Und das liegt wo?“

„Gleich bei Hintertupfingen!“, warf ein anderer ein. Beifälliges Gelächter.

„Bei Pforzheim.“ Das hätte ich besser nicht gesagt, denn damit hatte ich den Witzbolden eine Steilvorlage geliefert.

„Ach, bei Furzheim, hab ich mir‘s doch gleich gedacht!“ Gelächter. „Der Hauptstadt der Blähungen … Kein Wunder bei den vielen Weißwürsten!“ Prustendes Gelächter.

„Pforzheim liegt zwischen Stuttgart und Karlsruhe“, sagte ich betont sachlich, um zu verbergen, wie sehr sie mich verletzt hatten. Zumindest diesen Triumpf wollte ich den Oberstudienräten der Revolution nicht gönnen.

 

„Eine Schwäbin! Hab‘ ich mir doch gleich gedacht. Ist ja nicht zu überhören“. Und wie das Amen in der Kirche kam das nächste Klischee:

„Schaffe, schaffe, Häusle baue, gell?“ Gelächter. Das würde so weitergehen, das wusste ich aus Erfahrung. Einmal hatte ich den Fehler gemacht, mein Heimatdorf im Dialekt auszusprechen, nämlich Lomerscha. Was für die Witzbolde mit dem Talent, sich über andere lustig zu machen, ein gefundenes Fressen war.

„Ach, aus Lahmarschheim kommst Du? Gegründet vom Ritter Schlappschwanz von und zu Lahmarsch?“ Brüllendes Gelächter. Und ich erstarrte vor Wut und Scham. Wie damals, als ich zusammen mit meiner Schulfreundin aus eben diesem Dorf zu spät zum Unterricht gekommen war, weil wir die langweilige Englischstunde im Gymnasium nicht zur Gänze absitzen wollten. Wir hatten es vorgezogen, in der Bahnhofskneipe einen Kaffee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen.

„Entschuldigung, wir kommen aus Lomerscha“, begann sie. Bevor sie den Satz beenden konnte, unterbrach sie der Englischlehrer mit einem trockenen: „Man sieht’s.“ Die Klasse brüllte vor Lachen, mitleidlos und rachsüchtig, weil sie am frühen Morgen eine halbe Stunde Langeweile hatte ertragen müssen.

Die Herkunft war also auch zehn Jahre später unter jungen, gebildeten Erwachsenen immer noch einen abwertenden 

 

Regina Boger 2022-10-04

 

 

Witz wert. Unter jungen Leuten, die angetreten waren, die Welt zu verbessern. Das Verhalten hinkt den Ideen doch gewaltig hinterher, dachte ich und bereitete mich auf das nächste Gespräch über Herkunft vor. Schließlich war es keine Schande, aus einem schwäbischen Dorf zu stammen und kein Verdienst, in einer Großstadt nördlich der Mainlinie geboren zu sein. Auf die obligate Frage: „Woher kommst du?“, antwortet ich knapp: „Aus Baden-Württemberg, das hört man doch.“

„Stimmt, man hört‘s.“

„Und?“

„Woher genau?“

„Aus Lomersheim.“

„Aus wo? Wo liegt das denn?“ Herablassendes Grinsen. Eine junge Frau aus einem schwäbischen Kaff konnte einem jungen Mann aus dem Norden natürlich nicht das Wasser reichen. Damit war die intellektuelle Hierarche gesetzt, die man nicht mehr argumentativ begründen musste.

„Ausgesprochen wird es allerdings Lomerscha“, erklärte ich. Der Überlegene aus dem Norden äffte mich nach: „Aus Lomersche, haha …“

„Falsch, die Endung ist kein E, sondern ein unbetontes A, eher gehaucht als gesprochen. Das ist gar nicht so leicht. Probier’s noch mal.“ Er probierte es, aber es gelang ihm natürlich nicht.

„Tja, dann wirst du auch nicht den Eignungstest bei Daimler, Bosch oder Porsche bestehen.“ Ich heuchelte Bedauern.

Der junge Mann wurde plötzlich ernst. „Welchen Eignungstest?“, fragte er unsicher.

„Neben der beruflichen Eignung wird auch die Sprachkompetenz geprüft“, erklärte ich so beiläufig wie möglich.

„Und wie? Weißt du, wie sie das machen? Kennst du den Test?“ Der Überlegene aus dem Norden schrumpfte auf Normalgröße.

„O-o-gnehm“ sprach ich langsam und laut. Gelächter. Unbeirrt fuhr ich wie eine Sprachlehrerin im Anfangsunterricht einer Fremdsprache fort: „Das erste O ist geschlossen wie in Boot, das zweite offen, ähnlich wie in toll, aber nur ähnlich, eher wie das Chan in Chanson, leicht nasal. Ich spreche es dir noch einmal vor: O-o-gnehm. Nun versuch es mal.“

Er schaffte es natürlich nicht, auch nicht die anderen Helden nördlich des Weißwurstäquators. Aber der Abend wurde mit vielen vergeblichen Versuchen, die schwäbischen Vokale und Nasallaute korrekt auszusprechen, sehr vergnüglich. Und seit die gut bezahlten Jobs in Baden-Württemberg sehr begehrt sind, hat sich das Thema sowieso erledigt. Wenn ich heute sage, dass ich aus Lomersheim stamme, höre ich meist: „Aus dieser schönen Gegend kommst du! Wir sind schon mit dem Boot auf der Enz gefahren.“ Oder: „Ja, das kennen wir vom Enztalradweg.“ Und das zu hören ist gar nicht so o-o-gnehm.