Ich wusste gar nicht, dass ich das kann

 

Eine Kindheit im Krieg und in der Nachkriegszeit

          Ich bin eine richtige Lombaburgerin. 1943 in Ludwigsburg geboren, in Ludwigsburg aufgewachsen, zur Schule gegangen, einen Beruf gelernt, gearbeitet, geheiratet, eine Familie gegründet und auch ein kleines Unternehmen. Wenn ich daran denke, was ich alles erlebt, gelernt und gemacht habe, wundere ich mich selbst ein bisschen. Obwohl ich gegen Ende des Krieges auf die Welt kam, habe ich den Krieg nicht als bedrohlich erlebt, in Ludwigsburg merkten wir nicht viel davon. Lebendig in meiner Erinnerung ist vor allem die Währungsreform 1948. Mein Vater schenkte mir und meinem Bruder mit den Worten: „Das ist nichts mehr wert. Damit könnt ihr spielen“ eine Handvoll Scheine. Wir überprüften sofort, ob dieses Wissen schon bei allen angekommen war. In der Bäckerei hielten wir die Handvoll Scheine hin und wollten dafür etwas kaufen. Die Bäckersfrau gab uns ein Stück Hefe, das wir auf dem Gehsteig sitzend sofort aßen. Wir dachten, wir hätten ein gutes Geschäft gemacht, erfuhren aber später, dass die alte Währung zu der Zeit zwar nicht mehr gültig war, jedoch einige Geschäfte sie noch annahmen.

 

Von der Oststadtschule zum Schuhhaus Braun

          1950 wurde ich in die Pestalozzischule eingeschult und kam ein Jahr später auf die neugebaute Oststadtschule. Die Hälfte der Klasse waren Kinder von Flüchtlingen, die in der Jägerhofkaserne untergebracht waren. Mit denen aus meinem Schuljahrgang, die in Ludwigsburg geblieben sind, habe ich noch heute Kontakt. In der Schule hatte ich das Gefühl, nicht genug zu lernen. Das lag aber nicht an den Flüchtlingskindern, sondern zum einen daran, dass der Unterricht häufig ausfiel und wir uns oft selbst überlassen waren und zum anderen an den Lehrern, die nicht zu Lehrern ausgebildet waren, sondern über Umwege an die Schule gekommen waren. Es gab allerdings einige wenige gute Lehrer wie unser Klassenlehrer in der 8. Klasse. Er machte uns klar, dass wir nur noch ein Jahr hatten, um das zu lernen, was wir bis dahin versäumt hatten. Und wir waren bereit, diese Chance zu nutzen. Nach dem Abschluss der Volksschule machte ich eine Lehre als Einzelhandelskauffrau im Schuhhaus Braun. In der Berufsschule lernte ich alles über Schuhe, die ganze Fachkunde bis zur Schuhherstellung. Im Laden lernte ich, wie man Schuhe verkauft und wie man mit Kunden und Kundinnen umgeht. Mir war wichtig, mit den Kundinnen und Kunden eine persönliche Beziehung aufzubauen; wir sprachen nicht nur über Schuhe, sondern auch über Höhepunkte und Schicksalsschläge. Manch eine Kundin kam nicht, um Schuhe zu kaufen, sondern um über belastende Erfahrungen zu reden.

  

Als Meitschi in die Schweiz        

          Bei meinen Eltern fühlte ich mich nicht gut aufgehoben, aber zum Glück hatte ich liebevolle Großeltern, bei denen ich mich sehr wohl fühlte. Dennoch wollte ich die familiäre Situation verlassen und bewarb mich als Meitschi, das ist eine

 

 

Haustochter, in der Schweiz. Inzwischen lernte ich bei dem evangelischen Jugendwerk einen jungen Mann kennen. Als es ernster mit uns wurde, gestand ich ihm, dass ich einen Vertrag als Haustochter in der Schweiz unterschrieben hätte. Er war bereit, ein Jahr auf mich zu warten, woraus jedoch zwei Jahre wurden, und so fuhr ich 1961 frohgemut in die Schweiz.

Als Meitschi lebte ich bei der Familie und lernte, wie man einen Haushalt führt, und ging meiner Chefin fleißig zur Hand. Diese war die Gattin eines Fabrikanten, dadurch lernte ich eine gehobene Küche, Haushaltsführung und Abendgesellschaften kennen. Von meiner Chefin habe ich viel gelernt, unter anderem, wie man seine Arbeitszeit effizient einsetzt. Davon profitiere ich noch heute. Nur einen Tag im Monat hatte ich frei. Meiner Chefin gefiel es nicht, wenn ich mit einer Freundin in das nächste Städtchen zum Tanzen ging. Das schicke sich nicht für junge Mädchen, meinte sie. Aber die ganze Zeit wollte ich auch nicht zu Hause sitzen. Deshalb nahm ich an mehreren Nähkursen teil und lernte unter anderem, ein Kostüm zu nähen. Auch davon profitiere ich bis heute.

Der Briefträger brachte mir zwei Briefe pro Woche aus Deutschland, es waren die Briefe meines Freundes Werner. Der wollte eigentlich Bäcker werden wie sein Großvater und sein Onkel. Aber seine Mutter, Kriegerwitwe, erlaubte es ihm nicht, da sie keine Bäckerei besaß, die der Sohn übernehmen konnte. Daher machte er eine kaufmännische Lehre bei der Lackfabrik Gebrüder Müller. Anschließend ging er zur Gdf, der Gemeinschaft der Freunde Wüstenrots, so hieß damals die gemeinnützige Bausparkasse. Inzwischen sind wir 60 Jahre verheiratet und mein Mann kocht und backt noch immer gern, sehr zu meiner Freude.

Familiengründung

          Ende September 1963 kam ich aus der Schweiz zurück und am 30. November heirateten wir. In den zwei Jahren hatten wir nicht nur Briefe gewechselt, sondern uns auch im Urlaub in Ludwigsburg oder in der Schweiz getroffen. Wir verstanden uns von Anfang an gut, weil wir durch das Engagement in der Kirche dieselben Werte teilten. Mit Hilfe einer Tante bekamen wir eine Wohnung und mein Großvater lieh mir Geld für eine Waschmaschine, das ich ihm in Raten zurückzahlte. Die letzten Raten schenkte er mir, weil ich mich gewissenhaft an unsere Vereinbarung gehalten hatte. Mein Mann arbeitete weiterhin bei der GdF und ich nahm meine Tätigkeit im Schuhhaus Braun wieder auf.

          Nach zwei Jahren kam unser Sohn zur Welt, 14 Monate später unsere Tochter. Nun erwies es sich für unsere Familie als gut, dass mein Mann nicht Bäcker geworden war, sondern Sachbearbeiter bei der GdF. Als Bäckersfrau hätte ich im Laden stehen müssen und wenig Zeit für die Kinder gehabt. Außerdem bekamen wir von der GdF eine Betriebswohnung, die wir später günstig kaufen konnten. Ich blieb gern zu Hause bei den Kindern. Meine Kinder in eine Kinderkrippe zu geben, hätte ich mir nicht vorstellen können. Als meine Tochter 12 war und mich die Kinder nicht mehr so stark brauchten, arbeitete ich einen Tag in der Woche in einer Bäckerei. Dort konnte mich meine Tochter nach der Schule besuchen. Später wieder bei Schuh Braun, wegen der Kinder aber in Teilzeit.



 

Die Entdeckung der Malerei

          Die Kinder wurden größer und ich hatte mehr Zeit und Energie für andere Dinge. Ich besuchte viele Veranstaltungen und begann, mich für Malerei zu interessieren. In der evangelischen Familienbildungsstätte belegte ich einen Kurs in Bauernmalerei und entdeckte mein Talent zu malen, von dem ich bis dahin nichts gewusst hatte. Voll Begeisterung bemalte ich Truhen und einen Schrank. Meine Werke gefielen mir so gut, dass ich sie auch einem größeren Publikum zeigen wollte. Auf den Erfolg

 

der ersten Ausstellung war ich nicht vorbereitet. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Leute meine Ausstellungsstücke kaufen wollten. Wie viel so ein Stück wert war, konnte ich beim besten Willen nicht sagen und gab meine Erstlingswerke nicht aus der Hand. Damals wusste ich nicht, dass die Malerei später zu meiner Berufung werden würde. Auf jeden Fall nahm ich nach der ersten Ausstellung Aufträge an und produzierte für Märkte kleinere Dinge wie Schächtelchen und Dosen. Bauernmalerei war in den 70er Jahren sehr gefragt. Heute ist der Trend abgeflaut, aber ein neuer entstand.

           Auf einem der Märkte sah ich, dass bemalte Ostereier sehr begehrt waren. Von da an bemalte ich Ostereier und für Weihnachten Glaskugeln. Vor kurzem rief eine ehemalige Kundin an, die vor 30 Jahren Glaskugeln bei mir gekauft hatte und bestellte für ihren Sohn welche nach. Er wollte genau die Kugeln, die seine Kindheit begleitet hatten. Mir machten die Märkte so großen Spaß, dass ich meine Produktion für die Märkte als meine neue Berufstätigkeit betrachtete und die Stelle bei Braun aufgab.



Venezianische Messe – Der Kostümverleih Carino

         1993 muss es gewesen sein, dass mir meine Tochter von der Venezianischen Messe erzählte, die auf dem Marktplatz sattfinden sollte. Dazu brauchte sie eine Maske und ein Kostüm. Also las ich, wie man eine Maske anfertigt und gestaltete für sie eine Mondmaske und nähte ein Mondkostüm. Für mich nähte ich einen Umhang, für eine Maske reichte es nicht mehr.

 

           Ab da waren wir vom Venezianische-Messe-Fieber befallen und buchten einen Urlaub zum Carnevale in Venedig. Dort kauften wir venezianische Masken.

           Für meinen Mann, meine Tochter und mich nähte ich Kostüme und sah mich nach einer Gruppe um, bei der wir mitmachen konnten.

Fürstin Katharina von Langen

          Da gab es eine Gruppe mit Barock-Kostümen in Ludwigsburg, eine andere mit venezianischen Kostümen in Kirchheim. Schließlich schlossen wir uns einer neuen Gruppe in Ludwigsburg mit Barock-Kostümen an. In dieser Gruppe lernten wir einen jungen Mann kennen, der die Modeschule

besuchte. Er war so nett und fertigte für mich einen Schnitt für ein Barock-Kostüm an, dann auch einen für meinen Mann, meine Tochter und später auch für Freundinnen. Und ich nähte und nähte. Mit der Zeit sammelten sich so viele Kostüme an, dass ich sie verleihen konnte. So entstand im Laufe der Jahre der Kostümverleih Carino. Kostüme wurden nicht nur die Venezianische Messe geordert, sondern auch für Hochzeiten oder Mittelalter-Märkte, aber der Barock wurde zum Schwerpunkt.

          Die Veranstalter der Feste wollten oft auch kleine Szenen oder Tänze. Dadurch entdeckte ich meine größte Stärke, nämlich Theaterstücke schreiben. Nebenbei gesagt: Meine Großmutter stammt aus dem Rheinland, aus einer Familie mit Musikern und Laienschauspielern. Die Freude am Theater, an Musik und Tanz ist mir sozusagen in die Wiege gelegt worden.

Bellissima

          Die Leiterin unserer Ludwigsburger Venezianer-Gruppe verliebte sich und zog weg. So übernahm ich 2006 unter einem neuen Namen die Leitung der Gruppe. Als Gemeindediensthelferin durfte ich einen Probenraum in der Kirchengemeinde mieten. Gemeindediensthelferin wurde ich übrigens nach einer schweren körperlichen Krise. Ich betete und versprach Gott: Wenn ich wieder gesund werde, dann gebe ich etwas zurück. Der Gemeindedienst war mein Dank für meine Gesundung. Aber das nur nebenbei. Seither haben wir alle zwei Jahre eine Szene für die venezianische Messe entwickelt und aufgeführt. Meine Tochter und ich entwickeln eine Idee für eine Musiktheaterszene, die ich dann jeweils zusammen mit Christine Demmler, einer Musiklehrerin, ausbaue. Wir sammelten Erfahrungen und wurden Jahr für Jahr besser. Eine unverzichtbare Unterstützerin hatten wir in der Regisseurin Susanne Rebhahn gefunden, die uns wertvolle spieltechnische Tipps gab. Wir spielen auch Szenen der Commedia dell’ Arte, das unterscheidet uns von anderen barocken Gruppen. Schön ist auch die Kooperation mit der ländlichen Barock-Gruppe aus Marbach.

 




 

Wie geht es weiter?

          Wir sind älter geworden, einige sind weggezogen, wieder andere gestorben. Vor der Covid-19-Pandemie bestand Bellissima aus 35 Mitgliedern, durch die Beschränkungen der Pandemie und die Absage der Messe 2020 verloren wir einige Leute. Heute sind es etwa 25. 2022 war es lange Zeit unklar, ob die Messe stattfinden kann, deswegen fiel unsere Szene weniger aufwendig aus als gewohnt.

          Im Oktober 2023 werde ich 80. Da liegt die Überlegung nahe, ob und wie die Gruppe weitergeführt wird. Neue Leute sind dazu gekommen. Wir werden sehen, wer was gut spielen kann. Davon hängt ab, in welche Richtung wir uns entwickeln.

Auf jeden Fall werden wir, wie seit Jahren, am Umzug des Pferdemarkts teilnehmen und wahrscheinlich werden wir auch wieder ein Picknick im Park veranstalten. Das bedeutet, dass wir einen Tag lang auf einer Wiese im Blühenden Barock ein höfisches Picknick zelebrieren. Und die Besucher und Besucherinnen können einen Eindruck gewinnen, wie es bei Hofe zugegangen sein könnte.

 

 

 

Erzählt von Karin Österle,
aufgeschrieben und bearbeitet
von Regina Boger im April 2023

 

          Mit bald 80 Jahren blicke ich heute zufrieden auf mein Leben zurück: Mutter von zwei erwachsenen Kindern, Großmutter von zwei Enkeln und Urgroßmutter einer 8jährigen Urenkelin. Die Ankündigung, dass sich unsere Familie vergrößern würde, überraschte mich damals sehr, denn ich fand meine Enkelin noch etwas zu jung, um Mutter zu werden und ich mich mit 71 auch, um Urgroßmutter zu werden. Aber alle Beteiligten waren einverstanden und von Anfang an ging alles gut und wir sind glücklich mit diesem Kind, das uns viel Freude bereitet. Es ist ein Geschenk zu erleben, wie das Leben von Generation zu Generation weitergeht.

          Ich kann auf das Leben meiner Großeltern und Eltern zurückblicken und meine Entwicklung sehen, aber auch die der Kinder und Enkelkinder sowie der Urenkelin. Ein wahrer Reichtum, der uns dankbar sein lässt und all das über so viele Jahre mit meinem lieben Mann zusammen, der mich bei all meinen Unternehmen immer unterstützt hat. Ich bin gespannt, was noch an Neuem, Schönem und Interessantem in der Zukunft auf mich wartet.