Mein größter Erfolg ist meine Familie

          Letztes Jahr bin ich 50 geworden. Das ist die Zeit, in der man zurückblickt und sich fragt: Was habe ich gemacht? Die Antwort: Ich habe aufgebaut, Geld verdient, eine Familie gegründet, eine Immobilie gekauft. Es wäre ein Fehler zu glauben, Erfolg ließe sich nur am Geld ablesen. Mein größter Erfolg war und ist die Familie. Meine wichtigste Frage lautet:

 

Wo komme ich her?

          Ich stamme aus einer typischen italienischen Gastarbeiterfamilie. Mein Vater kam 1959 aus dem Bergdorf Acquaformosa in Kalabrien nach Kornwestheim. In Acquaformosa gab es Arbeit vor allem in der Land- und der Bauwirtschaft, aber nicht genug für die jungen Männer. Da mein Vater durch Arbeit nicht genug verdienen konnte, suchte er Arbeit im Ausland und fand sie in Kornwestheim. In Kornwestheim gab es drei große Arbeitgeber: die Bahn, Salamander und Kreidler. Mein Vater fand Arbeit beim Rangierbahnhof.

          1963 kam mein Bruder Enzo auf die Welt und mein Vater wollte zur Geburt seines ersten Sohnes zu seiner jungen Frau nach Acquaformosa fahren. Doch die Geschäftsleitung gab ihm keinen Urlaub. Das erzürnte meinen Vater so sehr, dass er kündigte und beschloss, wieder in Italien zu leben. Die Verdienstmöglichkeiten in seinem Dorf waren noch immer gering und mein Vater konnte auf Dauer nicht Fuß fassen. Das lag auch daran, dass der größte Unternehmer gleichzeitig den einzigen Laden betrieb. Die Frauen gingen einkaufen und ließen ihre Einkäufe anschreiben. Am Ende des Monats hieß es im Laden: Sie haben den gesamten Lohn Ihres Mannes schon verbraucht. Es ist nichts mehr übrig. Er sah für sich keine Zukunft in Kalabrien und ging 1964 wieder zurück nach Kornwestheim, zum Rangierbahnhof, wo er schon zuvor gearbeitet hatte. Zwei Jahre später kam meine Mutter nach. Meinen Bruder ließen sie bei ihren Eltern, bis er 15 war.1972 kam ich auf die Welt und verbrachte meine ersten sieben Lebensjahre bei meinen Eltern in Kornwestheim, ohne meinen Bruder. 1979 kam die große Wende in meiner Kindheit, die Einschulung stand bevor. Meine Eltern wollten verhindern, dass ich durch die deutsche Schule zu deutsch würde und schickten mich zurück nach Acquaformosa, wo ich eingeschult wurde.

          Wie mein Bruder Enzo lebte ich bei meinen liebevollen Großeltern. Als ich zu meinen Großeltern kam, war Enzo schon in Deutschland bei meinen Eltern. Wir lebten also nie längere Zeit zusammen. In Aquaformosa besuchte ich die Grundschule, lernte die italienische Grammatik, Rechtschreibung, Geschichte und Kultur. Und natürlich fand ich Freunde in der Schule und im Dorf. Als ich in der vierten Klasse war, starb mein Großvater und ich musste in die Familie meines Onkels ziehen. Der betrieb zusammen mit seiner Frau im Dorf einen Lebensmittelladen und bei Bedarf war er auch Taxifahrer, um Leute in die nächste Stadt zum Arzt zu fahren. Nach der Schule musste ich die Einkäufe alter Damen zu ihnen nach Hause tragen. Manchmal übernahm das auch mein Cousin, der auch bei meinem Onkel wohnte. Der war ein paar Jahre älter als ich und wurde von meinem Onkel und seiner Frau wie ein kleiner Prinz behandelt. Ich dagegen fühlte mich wie ihr Diener. Onkel und Tante hatten keine Kinder und behandelten meinen Cousin wie ihr eigenes Kind. Ich dagegen hatte bei ihnen ein Zimmer und einen Koffer, zuhause fühlte ich mich dort nicht. Nachmittags ging ich so oft es ging zu meiner Großmutter, bei ihr fühlte ich mich wohl und geborgen. Die drei Monate Sommerferien verbrachte ich bei meinen Eltern in Kornwestheim. Das Gute war, dass ich dadurch Deutschland nicht verloren habe, auch die Sprache nicht. Ich spreche beide Sprachen gern, ich empfinde sie als gleichwertig. Durch die Schulzeit in Italien kann ich sehr gut Italienisch. In Mailand zum Beispiel hört man nicht, dass ich aus Kalabrien komme.

          Meine Lehrerin empfahl meinen Eltern, mich nach der
8. Klasse ins Liceo (Gymnasium) zu schicken. Ich wollte das auch und danach studieren. Steuerrecht hatte ich mir vorgestellt. Aber meine Eltern bereuten inzwischen ihre Entscheidung, mich acht Jahre lang allein in Italien gelassen zu haben. Ich war in diesen Jahren ohne meine Eltern ganz gut zurechtgekommen und hätte das auch weiterhin geschafft. Doch meine Eltern wollten diesen Fehler wiedergutmachen und holten mich zurück nach Kornwestheim. Die Trennung hatte eine Wunde in mein Herz geschlagen und auch in die Herzen meiner Eltern. Wir wissen es, aber wir reden bis heute nicht darüber.

          Mit 15 musste ich also zurück nach Kornwestheim und die Vorbereitungsklasse für ausländische Kinder besuchen. Der Schulleiter merkte, dass ich gut Deutsch konnte und steckte mich in die 8. Hauptschulklasse. Das war sehr schwierig für mich. Zwar konnte ich Deutsch sprechen, aber ich beherrschte die deutsche Grammatik und Rechtschreibung nicht. Wenn ich „Wasser“ hörte, schrieb ich entsprechend den italienischen Regeln „Vasa“. Diktate waren natürlich der Horror. Die hatte ich in Italien zuletzt in der 3. Klasse geschrieben. In Italien war ich anerkannt und gehörte zu den Klassenbesten, hier dagegen wurde ich von einigen anderen Jungs schikaniert. Zum Glück gab es ein nettes Mädchen in der Klasse, das mir half. Das Pech meiner Klassenlehrerin, Frau Rohde, wurde ebenfalls zu einem Glücksfall für mich. Sie hatte im Italienurlaub einen Autounfall gehabt. Ich wurde ihr Übersetzer für die Korrespondenz mit italienischen Behörden. Als Gegenleistung gab sie mir Nachhilfe und unterstützte mich im Unterricht. Dadurch konnte ich einen besseren Hauptschulabschluss hinlegen als manche der Jungs, die neun Jahre in der deutschen Schule waren. Darauf war ich sehr stolz.

 

Mit Mama und Papa in meiner Heimatstadt Kornwestheim

Geburtstagsfest in der Großfamilie

Von Kornwestheim 1550 km ins Heimatdorf der Eltern
nach Acquaformosa. Allein.

Meine erste Klasse

Fußballteam ESG Kornwestheim



Die Belegschaft meines Ausbildungsbetriebs

Mit meinem alten Golf in Italien

Der Autoliebhaber

22 Jahre alt

Allein gegen die Mafia

Das Arte-Moda-Team

Mit Nunzia und unseren Kindern

 

 

Erzählt von Antonio Costante,
aufgeschrieben von Regina Boger
im April 2023

Herr Blum war ein großartiger Friseurmeister
und ein überaus anständiger Mensch

          Ich vermisste Italien, meine Freunde und Freundinnen und wollte wieder zurück. Mein Papa sagte: Wenn du Friseur wirst, kannst du überall auf der Welt arbeiten, also auch in Italien. Das leuchtete mir ein, ich suchte einen Ausbildungsplatz und fand ihn beim Salon Blum in Kornwestheim. Bei Herrn Blum lernte ich viel. Nicht nur die Grundlagen und Feinheiten des Handwerks, sondern ich lernte auch einen überaus anständigen Menschen kennen.Herr Blum war ein großartiger Friseurmeister und überaus anständiger Mensch. Er war der loyalste Mensch in meinem Beruf, den ich jemals kennen gelernt habe. Er bezahlte mir schon im zweiten Ausbildungsjahr ein Gehalt, das weit höher war als die Ausbildungsvergütung, weil er meine Leistung honorieren wollte. Er war ein einzigartiger Mensch. Eines Tages, als ich fragte, ob es wirklich nötig wäre, schon wieder bei einer Modeproklamation neue Frisuren zu zeigen, sagte er mir: „Wenn du heute deine Wochenenden opferst, kann es sein, dass du später etwas wirst. Wenn du heute deine Wochenenden nicht opferst, ist es sicher, dass du nichts wirst.“ Also opferte ich weiterhin meine Wochenenden. Und Herr Blum hatte Recht.

 

 

 

Glück und Verhängnis

          Nach der Gesellenprüfung arbeitete ich drei Jahre im Haarstudio Franco in Marbach, dann wechselte ich 1994 zu Wings in Ludwigsburg, das damals in der Mathildenstraße war und blieb dort bis 2001. Wings war Glück und Verhängnis gleichermaßen. Das Glück bestand in dem Angebot von Uwe Volz, Teilhaber eines vergrößerten Salons in der Seestraße zu werden. Zum Verhängnis wurde, dass ich 20 Jahre lang viel arbeitete, ohne einen entsprechenden Gewinn zu erzielen. Diese Zeit verbuche ich heute als Erfahrung. Nach reiflicher Überlegung gab ich meine Geschäftsanteile auf und trat als Mitarbeiter in den Salon Arte Moda meines alten Freundes Enzo ein. Die Umstellung war für uns beide groß, aber wir haben ein gutes Miteinander gefunden.

 

 

Es geht nicht nur um die Frisur

          An meinem Beruf liebe ich nicht nur das Handwerk, wichtig sind mir die Beziehungen zu den Menschen. Da ist die Frisur, da sind die Gespräche, da ist der Zustand, in dem die Kundin kommt und in dem sie geht. Das ist kein oberflächliches Vorher–Nachher, sondern ein Prozess von der Beratung über das Gespräch bis zur gelungenen Frisur. Es ist schön, wenn man eine Kundin so glücklich machen kann, dass sie sagt: „Ich möchte dich umarmen.“ Viele Kundinnen kenne ich seit Jahren und zu vielen habe ich ein Vertrauensverhältnis. Wir kennen unsere Höhen und Tiefen, unsere familiären Themen, Freud und Leid, einfach alles, was zum Leben gehört.

 

 

Deutschland und Italien

          Italiener sind stolz auf ihr Land. Das Land, die Infrastruktur, funktioniert nicht so gut, aber die Leute halten zusammen. Italiener haben sich immer arrangiert, um mit allen Problemen klarzukommen. Und darauf sind sie stolz. Und außerdem ist das Land einfach unglaublich schön! Da ich mit beiden Ländern verbunden bin, fühle ich mich als Deutsch-Italiener. Ich habe noch immer die italienische Staatsbürgerschaft, aber nur weil das zuständige deutsche Amt von mir zu viele Unterlagen für meine Selbständigkeit verlangt hat. Danach habe ich mich nicht mehr um die deutsche Staatsbürgerschaft bemüht. Am liebsten hätte ich die doppelte Staatsbürgerschaft wie meine Frau und meine Kinder.

 

 

Bilanz

          Eigentlich habe ich verwirklicht, was ich mir gewünscht habe: eine Familie zu gründen, die miteinander lebt und die zusammenhält. Das, was ich nicht gehabt habe. Dass mir das gelungen ist, empfinde ich als Erfolg. Erfolg messe ich nicht nur am Geld, der finanzielle Erfolg ist mir unwichtiger geworden. Meine Familie zählt, sie ist das Wichtigste.

 

 

Perspektive

          Zwanzig Jahre war ich Unternehmer, von 27 bis 47. Wenn ich diese Erfahrung nicht gemacht hätte, würde mir etwas fehlen. Jetzt denke ich daran, wie ich meine beruflichen Erfahrungen weitergeben könnte. Ich würde gern andere Salons beraten, wie man Prozesse im Salon optimieren kann, dazu gehören auch Mitarbeiterführung oder Gesprächsführung mit Kundinnen. Diese Beratung können bestehende Salons brauchen, aber auch Neugründungen.

          Meine Eltern sind nach dem Herzinfarkt meiner Mutter zurück nach Italien gezogen, um ihren Lebensabend in der Heimat zu verbringen. Sie haben über viele Jahre ein großes Haus mit sechs Wohnungen gebaut. Meinem Bruder und mir haben sie je eine Hälfte geschenkt. Man könnte fast sagen als Wiedergutmachung für die lange Trennung in der Kindheit. Sie haben ihr Leben für dieses Haus geopfert. Wenn wir zu Besuch sind, wohnen wir dort in einer eigenen Wohnung, aber dort leben wollen wir beide nicht. Ich lebe hier, mein Bruder lebt in Brescia, meine Eltern sind allein in ihrem großen Haus in einem Bergdorf in Kalabrien, weit weg vom Meer.

          Wenn ich an den Ruhestand denke, träume ich manchmal davon, ein kleines Haus in einem Dörfchen auf Sizilien in der Nähe des Meeres zu bewohnen. Im Hof würde ich ein Zelt aufstellen, Männern die Haare schneiden und dabei über Politik diskutieren.

 

 

Ludwigsburg

          Ludwigsburg ist für mich zur Heimat geworden, ein wichtiger Teil meines Lebens. Die Vorzüge der Stadt sind für mich so selbstverständlich geworden, dass mich manchmal Fremde auf sie aufmerksam machen müssen, damit ich sie wieder wahrnehme, z.B. die Schönheit des Marktplatzes. Die Stadt ist genau richtig, nicht zu klein und nicht zu groß.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Meine Familie

          Nach Italien wollte ich nicht mehr. Inzwischen hatte ich hier viele Freunde und Kollegen gefunden. Mit 23 oder 24 hätte ich in einem Salon in Spanien arbeiten können. Zu der Zeit hatte ich jedoch eine junge Frau kennen gelernt und blieb lieber hier. Inzwischen sind Nunzia und ich 26 Jahre verheiratet und haben einen Sohn und eine Tochter. Unser Sohn Saverio kam 1998 auf die Welt, unsere Tochter Maria Teresa 2003. Saverio ist Tänzer, Maria Teresa arbeitet im Gesundheitswesen. Auf beide bin ich sehr stolz. Die Kinder veränderten mein Leben. Aber sie sind meine beste Investition in die Zukunft. Man gibt viel und sieht, wie sie sich entwickeln.

Nunzia ist eine sehr starke und fleißige Frau, die eine Arztpraxis managt. Mir hat von Anfang an gefallen, dass sie ein großes Herz hat und sich oft für andere aufopfert. Diese Art habe ich schon immer an ihr bewundert.