Mein Ludwigsburg – aus Ablehnung wurde Liebe

 

        Meine Gefühle für Ludwigsburg haben sich im Lauf meines Lebens grundlegend geändert, wie auch die Stadt selbst sich zu ihrem Vorteil und dem ihrer Bürger*innen gewandelt hat. Früher dachte ich: Sobald ich alt genug bin, hau‘ ich hier ab.

 

Geborgen im Schoß der Großfamilie 

         Am 12. August 1944 wurde ich im Kreiskrankenhaus geboren, mit Sirenengeheul empfangen und gleich vom Kreißsaal in den Luftschutzkeller gebracht. Laut Aussage meiner Mutter habe ich alles verschlafen, auch als sie mit mir wieder daheim war. Mein Bruder war fünf Jahre alt. Unser Vater war im Krieg, er erfuhr erst später von der Geburt eines gesunden Mädchens.

 

1945. Dieses Bild wurde Vater an die Front geschickt.

 

        Aufgewachsen bin ich sehr behütet und geliebt in der Doppelhaushälfte eines kleinen Siedlungshauses in der Ludwigsburger Weststadt. Heute würde man sagen, ein Mehrgenerationenhaus, denn es lebten in dem Häuschen meine Großeltern väterlicherseits, ein Bruder meines Vaters und meine Eltern, mein Bruder und ich. Es war eng, aber gemütlich und für mich gab es immer einen Schoß zum Draufsitzen, immer jemanden, der Zeit für mich hatte.

 

1947. Papa ist daheim

 

        Ein Badezimmer gab es noch nicht, das wurde dann erst später nach dem Tod der Großeltern in deren Küche eingebaut. Meine Mutter ging mit mir jede Woche ins Stadtbad, sie war eine begeisterte Schwimmerin und Wasserratte, am Neckar geboren und aufgewachsen. Damals konnte man noch im Neckar baden. So vermissten wir das Badezimmer eigentlich zunächst gar nicht. 

 

Kindheit in der Weststadt

         Es gab viele Flüchtlinge aus dem Osten in Ludwigsburg, In der Königin-Olga-Kaserne, bei uns nur die "K.O.-Kaserne" genannt, waren Familien untergebracht. Im vorderen Teil zur Kurfürstenstraße war (und ist noch immer) die Osterholzschule, in die ich eingeschult wurde, natürlich mit Schultüte und fein herausgeputzt.

         Eine Tante hatte einen Fotoapparat und knipste, aber man sagte zu mir: „Ja nicht lächeln, damit man Deine Zahnlucken nicht sieht.“

 

        Die Klassen waren groß, da eben auch die Flüchtlingskinder am Unterricht teilnahmen, und natürlich streng getrennt nach

Buben- und Mädchenklassen. Es gab sogar zwei Eingänge, für jedes Geschlecht einen. Die Kinder, die in der K.O.-Kaserne wohnen mussten, taten mir leid. Die Räume waren vollgestellt mit Stockbetten für mehrere Familien, nur mit alten Militärdecken etwas abgehängt. Es gab nur eine Toilette auf dem Flur und einen Kaltwasserhahn. Wen wundert es, dass die Kinder regelmäßig Läuse hatten und oft von den anderen gehänselt und geärgert wurden. (Heute nennt man das mobben). Auch die Arsenalkaserne war Flüchtlingsunterkunft mit ähnlichen Verhältnissen.

       Im Hinterhof der Kasernen siedelten sich etliche mehr oder weniger obskure kleine Unternehmen in Baracken an, wir Kinder sollten da nicht hingehen. Mein Bruder hielt sich natürlich nicht an das Verbot und stiftete auch mich dazu an, und da er ja der große Bruder war, machte ich alles, was er mich anwies. Es gab natürlich öfter Ärger, und meist wurde nur er bestraft, er sollte doch der Vernünftigere sein.

         Übrigens wollte er mich als Baby an die Nachbarin verkaufen: Er musste mich im Kinderwagen die Straße rauf und runter spazieren fahren, was ihm gar nicht passte. Da kam die Frau und sagte: „Ach hast du aber ein nettes Schwesterle, tätsch mir des verkaufa?“ (Würdest du mir das verkaufen?). Er überlegte kurz, dann: „Hajo, für en fetta Hasa kennet se se han.“ (Ja, für einen fetten Hasen können sie sie haben). Wie kann man auch nur so blöd fragen. (Fleisch war damals Mangelware).

         Bei unserem Haus war ein relativ großer Garten, der in der Nachkriegszeit sehr wichtig wurde, wir ernährten uns praktisch davon: Es gab Beeren, Obst, Gemüse und natürlich auch Blumen und ein Wiesle, wo die Familie im Sommer oft Kaffee trank. Eines Tages in den 1950er Jahren wurde ein Sonnenschirm angeschafft, rot mit weißen Tupfen, der ganze Stolz meiner Mutter. Mein Bruder trug ihn vom Schirm-Früh am Holzmarkt nach Hause. Den Schirm gab es noch lange, er war Qualitätsarbeit, nur das leuchtende Rot war im Lauf der Zeit etwas verblasst. Hungern mussten wir nie, das war ein großes Glück.

         Die Weststadt hatte viele kleine Läden, Supermärkte gab‘s damals natürlich noch nicht, man kaufte fast jeden Tag ein, viele hatten auch keinen Kühlschrank. Fürs tägliche Leben waren mehrere Bäcker, Metzger, Gemüsehändler, Milchläden, ein kleines Lebensmittelgeschäft, wo Mehl und Zucker usw. noch abgewogen wurde, sowie eine Drogerie, ein Schreibwarenladen und ein Elektrogeschäft. Später eine Apotheke und eine Chemische Reinigung. Natürlich auch Schuhmacher, die Schuhe wurden sorgsam gepflegt und geflickt. Mein Großvater mütterlicherseits arbeitete beim Salamander. Deshalb gab ab und zu ein paar feste Lederschuhe.

         Perlonstrümpfe waren kostbar und teuer, aber sehr anfällig für Laufmaschen, so dass es einige Frauen gab, denen man die Strümpfe zum Aufmaschen bringen konnte, gegen Bezahlung waren sie dann wieder wie neu. Ich glaube, pro Maschenreihe 10 Pfennige, aber neue Strümpfe hätten viel mehr gekostet. Man ging eigentlich nur „in die Stadt“, wenn man Schuhe oder was zum Anziehen brauchte. Auch der Spielwaren-Rees war ein starker Magnet für alle Kinder.

         Sonntags ging mein Papa mit mir spazieren, so lange meine Mutter den Sonntagsbraten mit Spätzle für die ganze Familie zubereitete. Der Spaziergang endete meistens in einer Wirtschaft, z.B. im Alexandereck, und ich bekam 10 Pfennige, dass ich auf den damals noch existierenden Aussichtsturm steigen konnte, er wäre heute mitten auf der Kreuzung der B 27. So konnte ich der Mama nachher nicht verraten, wie viele Bierchen der Papa getrunken hatte.

         Es gab den Schlossgarten, den Favoritepark, wo ein kleiner Automat hing und man 10 Pfennig Eintritt einwerfen musste, und den Monrepos mit der Attraktion der Ruderboote, damals alle aus Holz. Jeder gute Ludwigsburger musste im Lauf seines Lebens doch mindestens 1 x vor dem Schloss (Südseite) fotografiert werden. Das Blüba gab es dann später, natürlich kauften meine Eltern mir eine Dauerkarte, mit der man 1 x in den Märchengarten gehen durfte. Die Attraktionen wie Boot fahren oder Herzogschaukel kosteten damals extra.

 

Vom Goethe-Gymnasium in die Höhere Handelsschule

         Am Ende der vierten Grundschulklasse machte ich die Aufnahmeprüfung für das Goethe-Gymnasium für Mädchen und bestand. So musste ich dann mit 9 1/2 Jahren jeden Morgen (auch samstags) zu Fuß in die Stadt gehen, was mir aber nichts ausmachte. Schulbus gab‘s nicht, und der reguläre Bus hätte ja Geld gekostet. Lernmittelfreiheit gab‘s auch nicht. Mein Bruder, der noch ins Mörike-Gymnasium ging, und ich kauften immer die gebrauchten Bücher der Klasse über uns ab. Manchmal hatte man Glück und die Vorbesitzer hatten mit Bleistift Lösungen oder Übersetzungen in die Texte gekritzelt.

        Nach der Mittleren Reife ging ich noch ein Jahr in die Höhere Handelsschule, gegenüber vom Stadtbad, wo ich Stenografie, Schreibmaschine, Buchhaltung, BWL, Handelsenglisch, kaufmännisches Rechnen usw. lernte.



Kontoristin und Vorlesepatin 

         Danach war ich Kontoristin, so hieß die Berufsbezeichnung für Bürokaufleute damals, und ich arbeitete sieben Jahre bei einem Architekten mit fünf Herren, Bauleitern- u. Ingenieuren, als Sekretärin und Mädchen für alles. Ich musste auch Vesper holen, die Hunde des Chefs ausführen, Babysitter sein, man nahm es damals nicht so genau. Dafür hatte ich vollen Familienanschluss. Später war ich dann 28 Jahre in der Zweigstelle der Stadtbibliothek im Bildungszentrum West. Ich machte noch mit 45 die externe Prüfung als Bibliotheks-Assistentin (die Bezeichnung gibt es heute nicht mehr). 2004 ging ich mit 60 Jahren in Rente und übernahm dann als Ehrenamt die Koordination des Vorlesepaten-Netzes der Stadtbibliothek, bis mein Mann so krank wurde, dass ich ihn nicht mehr alleine lassen wollte, und dann kam ja auch Corona. In den besten Zeiten hatten wir ca. 60 Vorlesepaten und Patinnen, und ich organisierte Seminare, Treffen, Führungen, Besichtigungen und ab und zu ein Festle. Es hat mir sehr großen Spaß gemacht, zumal ich auch selber einmal in der Woche in einer Kita vorlas. Auch war ich einige Jahre in der Vesperkirche tätig, habe auch einen Bericht bei den Ludwigsbürger!innen im Netz. 

 

Tanzstunde und Blue Jeans

         Als ich ins Teenager-Alter kam, hasste ich Ludwigsburg: Miefig, klein, spießig, engstirnig. Es gab nicht viel für junge Leute. Discos gab’s noch nicht, im „Täle“ (das fängt an der Bietigheimer Straße an und geht bis runter zur Heilbronner Straße) gab es einige ziemlich verrufene Kneipen, die aber am Wochenende tolle Bands hatten. Rock-n-Roll und Twist z.B. waren angesagt. Im Sommer gab es dann Tanz mit Tanzkapelle im Parkcafé, und wenn ein Abschlussball stattfand, schaute man, dass man hinkonnte. Diese fanden entweder im schönen Ratskellersaal oder in der Musikhalle statt.

         Es war üblich, dass man eine Tanzstunde absolvierte. Das waren mehrere Abende, wo man Gesellschaftstänze lernte sowie gutes Benehmen. Eine Jungensklasse vom Mörike lud eine Mädchenklasse vom Goethe ein, so lief das ab. Vorab traf man sich zum Kennenlernen am Monrepos beim Bootle fahren. Die Tanzschulen Wieda-Vogt in der Schillerstraße (erster Stock über der Zeppelin-Apotheke) und Schreiber am Karlsplatz veranstalteten dann auch sogenannte Tanztees, sonntagnachmittags, da musste es natürlich sehr gesittet zugehen, und auch die Kleidung der Herren und Damen musste angemessen sein. Es war ja die Zeit der Petticoats, kein Mädchen wäre auf die Idee gekommen, da in Hosen hinzugehen.

        Bluejeans kamen gerade auf, ich war ganz stolz, dass ich eine bekam. Wer konnte, legte sich damit in die Badewanne mit heißem Wasser, damit sie einging und schön eng war.

 

        An Läden in der Innenstadt gab es keine große Auswahl, insbesondere nicht für junge Mädchen, alles war irgendwie sehr altbacken und gediegen. Zum Glück konnte meine Mutter nähen, und brachte es auch mir bei, so dass ich mir selber Röcke und Oberteile schneidern konnte. Das Stricken und Häkeln lernte ich von meiner Oma. Der Handarbeitsunterricht in der Schule hat mich nicht begeistert, man musste immer so doofe Sachen machen wie Waschlappen häkeln, Leintücher flicken usw.

         Auch kulturell war nichts los, es gab die Stadthalle, wo ab und zu mal ein Konzert oder eine Theateraufführung eines Tourneetheaters stattfand, aber viel öfters gab‘s dort Viehausstellungen und Ähnliches, also uninteressant. Die

 amerikanische Armee war als Besatzungsmacht stationiert.

         Die „Amis“, wie wir sie nannten, waren im Stadtbild allgegenwärtig. Ständig fuhren offene LKWs und Jeeps mit Soldaten durch die Straßen, sie hatten ihre Clubs in Pattonville. Manche Mädchen waren mit einem Soldaten befreundet, und wenn jemand „beim Ami schaffte“, hatte er viele Vorteile, was Versorgung und auch Unterhaltung betraf.

 

Tanztee und die große Liebe

         Die braven Tanzveranstaltungen waren daher natürlich sehr beliebt. Und bei einem Tanztee bei Wieda-Vogt lernte ich einen jungen Mann kennen, ich war 15, er 2 1/2 Jahre älter als ich. Er war ein wenig schüchtern, aber wie er mir später versicherte, war es bei ihm wie bei mir Liebe auf den ersten Blick. Wir gingen gerne ins Freibad Hoheneck, das ja in der Nachkriegszeit von den Amerikanern besetzt und nun endlich für die Bevölkerung nutzbar war. Schon nach wenigen Wochen waren wir uns einig: Wir heiraten mal, und dann wollen wir auch Kinder. Wir schauten uns am Kinderplanschbecken „Muster“ an – es war uns ernst damit.

An meinem 18. Geburtstag verlobten wir uns und heirateten zwei Jahre später, ich noch mit Genehmigung meines Vaters, da man damals erst mit 21 volljährig war.

          Der stolze Papa mit seinen ein und zwei Jahre alten Töchtern

 

        Wir gingen nun unseren gemeinsamen Lebensweg Seite an Seite durch dick und dünn, insgesamt 62 Jahre lang, 58 davon als Ehepaar. Wir zogen beruflich bedingt ein paarmal um, für kurze Zeit auf die Schwäbische Alb, und auch an den Rhein, aber in den 1970er Jahren dann wieder für immer nach Ludwigsburg. Wir hatten wunderschöne glückliche Jahre, es gab Höhen und Tiefen, die wir gemeinsam meisterten. Unsere Töchter wurden 1967 und 1968 im selben Kreiskrankenhaus wie ich geboren. Kurz danach wurde es bis auf eine Zeile (im Zuckerbäckerstil) vorne an der Straße abgerissen und das Klinikum entstand.

 

Ludwigsburg wandelt sich 

         In der Zwischenzeit fing der Wandel in LB an: es wurde das Forum gebaut, das Kulturzentrum mit der Stadtbibliothek, die Volkshochschule mit ihren interessanten Kursen, das MIK. Es gab auf einmal so viele Veranstaltungen, auch wunderschöne Kirchenkonzerte, etliche auch umsonst, so dass man oft die Qual der Wahl hatte und heute noch hat.

         Auch Läden gibt es inzwischen, obwohl da schon wieder ein leichter Trend zurück erkennbar wird, aber trotzdem kann man gut einkaufen. Es ist übersichtlich, auch die Gastronomie ist sehr gut vertreten. Durch die Supermärkte, vor allem das     Internetshopping und auch die Jahre der Pandemie haben viele Einzelhändler nicht überlebt, z.B. gibt es in der Weststadt es keinen Metzger und keine Apotheke mehr, was für die älteren Menschen sehr schlecht ist. Ich habe mich aber mit meiner Heimatstadt ausgesöhnt und kann jetzt auch wieder Veranstaltungen besuchen und genießen. Ein absoluter Favorit meiner Familie und mir ist der herrliche Weihnachtsmarkt.

Auf dem Riesenrad

 



Dankbar für ein gutes Leben

 

        Leider wurde mein Mann sehr krank und ich pflegte ihn in seinen letzten drei Lebensjahren Tag und Nacht. Das hat mich viel Kraft gekostet, dennoch war ich dankbar, dass er noch bei mir war. Dann kam eine schwere Operation, danach lag er fünf Wochen im Klinikum, völlig hilflos, an Schläuche u. künstliche Ernährung angeschlossen, so dass wir ihm bei all unserem Schmerz seinen Tod gönnten. Letzte Woche war es genau ein Jahr, und ich weiß nicht, ob es schon ein Jahr oder erst ein Jahr her ist. Eigentlich stimmt beides.

 

        Die Töchter wohnen auch in Ludwigsburg und wir waren und sind uns gegenseitig eine große Stütze. Auch habe ich sehr liebe und hilfsbereite Freunde, was ein großes Glück ist. Wenn ich mein Leben mit dem der anderen Schreiber*innen vergleiche, kann ich nur dankbar sein, dass es mir so gut ging, trotz einiger Schicksalsschläge.

 

        Inzwischen bin ich sehr froh, nicht weggezogen zu sein, und hoffe noch auf ein paar gute Jahre in Ludwigsburg.

 



Novembe 2023. Siegrun Hölscher