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Ich komme aus Ludwigsburg!

 

Ich wurde 1992 geboren, bin heute also 21 Jahre alt. Meine Mutter brachte mich im Krankenhaus Ludwigsburg zur Welt. Die Geburt im Krankenhaus ist bei uns Standard. Hausgeburten gibt es bei uns nicht. Als kleines Kind sprachen meine Eltern Türkisch mit mir. Erst im Kindergarten lernte ich Deutsch. Ab da sprach ich überwiegend Deutsch. Ich empfinde Deutsch als meine Muttersprache. Meine Eltern sprechen Türkisch, das mit Kurdisch vermischt ist. Wenn Sie über etwas reden, was mein Bruder und ich nicht verstehen sollen, reden sie Kurdisch miteinander. Das ist ihre Geheimsprache.

 

Schule und Beruf

           Nach der Grundschule besuchte ich die Hauptschule in Eglosheim. Nachdem wir nach Grünbühl gezogen waren, wechselte ich auf die Justinus-Kerner-Schule in der Stadtmitte. In meiner Klasse waren 90 Prozent der Schüler Sunniten. Am Anfang waren sie nett zu mir. Als ich ihnen gesagt hatte, dass ich Alevitin bin, haben sie mich links liegen lassen. Heute würde ich sagen, dass sie mich gemobbt haben. Nach der siebten Klasse Hauptschule wechselte ich auf die Realschule und machte dort die Mittlere Reife. In der Mathilde-Planck-Schule besuchte ich das Duale Berufskolleg Soziales. Dreieinhalb Tage in der Woche arbeitete ich im Krankenhaus, eineinhalb Tage hatte ich Unterricht. Ich dachte, ich könnte dann im Anschluss das einjährige Berufskolleg zum Erwerb der Fachhochschulreife erlangen. Erst als es zu spät war, erfuhr ich, dass ich mich für dieses Berufskolleg hätte bewerben müssen. Zugegeben, meine Noten waren auch nicht so besonders. Ich habe in der Zeit nicht so gern für die Schule gelernt. Ich bewarb mich danach für eine

Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin. Die Ausbildung begann aber erst im nächsten April. Um die zu überbrücken, jobbte ich. Dadurch habe ich viel Zeit verloren. Im ersten Halbjahr an der Krankenpflegeschule hatte ich zwei Arbeitseinsätze im Krankenhaus, die restliche Zeit war Unterricht. Das Personal auf der Station im Krankenhaus erwartete, dass ich sie nach Krankheitsbildern und Fachbegriffen fragte. Das tat ich auch, aber nicht so häufig. Jedenfalls machten sie mir nach dem Arbeitseinsatz zum Vorwurf, dass ich zu wenig gefragt hätte. Außerdem warfen sie mir einen Verstoß gegen die Dienstvorschrift vor. Ich hatte mein Handy in der Hosentasche, weil ich einen Anruf meines Bruders erwartete. Das Handy klingelte nach Dienstschluss, aber ich war noch auf der Station und so hörte das Personal mein Handy klingeln. Ich entschuldigte mich, aber mein Lehrer akzeptierte meine Entschuldigung nicht. Obwohl der zweite Arbeitseinsatz gut verlief, kündigte mir das Krankenhaus am Ende der Probezeit. Ich fühlte mich von der Schule nicht wirklich anerkannt. Das Krankenhaus bot mir an, die Ausbildung zu wiederholen. Zur Überbrückung hätte ich auf der neurochirurgischen Station als Pflegeassistentin arbeiten können. Nach einem Probearbeitstag auf dieser Station sagte mir die Stationsleiterin: „Sie passen nicht in unser Team!“ Ich fühlte mich tatsächlich fehl am Platz, denn ich wollte ja Kinderkrankenpflegerin werden.

           Nun stand ich vor einer Schwarzen-Loch-Welt. Ich hatte die Ausbildung abgebrochen und keinen Job. Dazu kam der Druck von außen: Was machst du jetzt? Meine Eltern machten sich Sorgen um mich. Sie wollten, dass ich eine Ausbildung mache. Mein Vater sagte nicht viel, er ist sehr ruhig. Meine Mutter sprach mehr mit mir über meine Zukunft.



Eine Bekannte machte mich auf das Abendgymnasium aufmerksam. Sie ist dreißig und studiert. Sie ermutigte mich, das Abitur auf dem Abendgymna- sium zu machen. „Wir haben doch Zeit!“, sagte sie. Mein Ziel muss ja nicht sein, mit 25 Jahren verheiratet zu sein und Kinder zu haben. Ich will erst einmal etwas aufbauen und auf eigenen Beinen stehen. Heiraten will ich erst gegen 30, wenn der richtige Typ kommt. Mein Ziel ist, das Fachabitur zu machen. Neben der Schule arbeite ich auf 400-Euro-Basis. Ich möchte meine Eltern nicht unnötig finanziell belasten. Ich wohne noch bei ihnen. Ich lege immer etwas Geld beiseite, für Notfälle und zur Sicherheit.

           Mein Berufswunsch ist schwer zu realisieren, aber er ist realisierbar. Meine Gedanken kommen immer zum selben Punkt: Ich möchte eine künstlerische Richtung einschlagen – Tanz, Theater und Gesang.

           Türken sind nicht so offen wie Deutsche, sie sind mehr auf Sicherheit bedacht. Die Deutschen lassen sich eher auf neue Erfahrungen ein. Meine Eltern sähen mich lieber in einer Bank mit einem geregelten Tagesablauf als in einem künstlerischen Beruf, der unsicher ist. Man weiß nie, was morgen kommt. Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, gehen aber wenig darauf ein, was die Kinder wollen. Wenn ich im Büro arbeiten müsste, würde ich nach

einem Ausgleich suchen, zum Beispiel Tanzen oder Körpertraining.

          Ich beobachte gern Menschen. Nach der Schule setze ich mich gern auf eine Bank und sehe den Menschen zu, die vorübergehen. Mir ist aufgefallen, dass Menschen oft in Hektik leben. Wenn man in Hektik ist, nimmt man ande- re Menschen nicht wahr. Umso schöner ist es, wenn Leute mal lächeln kön- nen, „danke“ oder „tschüss“ sagen. Ich erwische mich auch manchmal, dass ich hektisch bin, zum Beispiel, wenn ich bei Aldi in der Schlange stehe. Dann sage ich mir: „Lächle!“ und dann lächle ich und meine Stimmung wird gleich besser.

          Manche verstehen das nicht, aber ich finde es sehr interessant, Menschen zu beobachten. Auch wenn ich einen Film ansehe, mache ich oft die Mimik und Gestik der Schauspieler und Schauspielerinnen nach. In der S-Bahn sind die Menschen meist mit ihrem Handy beschäftigt. Sie nehmen selten Kontakt mit anderen auf. Manchmal regt man sich über Menschen auf, ohne die Gründe für ihr Verhalten zu kennen. Einmal stand ein Mann im Zug am Fenster und rauchte. Viele regten sich über ihn auf, weil Rauchen im Zug verboten ist. Vielleicht hatte er einen harten Tag hinter sich oder etwas Schlimmes erlebt, sodass er zur Entspannung rauchen musste.



Eltern und Familie

           Mein Vater kam mit 26 Jahren nach Deutschland. In der Türkei hatte er Pädagogik studiert. Zuerst war er Lehrer, später arbeitete er bei einer Bank. Meine Mutter kam als Kind nach Deutschland. Mein Vater lernte meine Mutter kennen, als sie in der Türkei Urlaub machte. Ihretwegen kam er nach Deutschland.

           Mein Vater arbeitet in Deutschland nicht in seinem Beruf, sondern als angelernter Arbeiter in der Fabrik, weit unter seiner Qualifikation. Mir tut sehr, sehr Leid, dass er so hart arbeitet. Er arbeitet im Drei-Schicht-Rhythmus. Ich finde, er ist überarbeitet. Mein Vater ist ein sehr ruhiger und zurückhaltender Mensch. Er ist sehr sportlich. Er hat meinen Bruder und mich zum Karatetraining mitgenommen. Mein Bruder und ich haben dann zu anderen Sportarten gewechselt. Mein Vater ist bei Karate geblieben.

           Meine Mutter ist das Gegenteil meines Vaters. Sie ist sehr aktiv. Sie redet gern und viel, sie kann auch Leute gut unterhalten. Sie hat nach dem Hauptschulabschluss keine Ausbildung gemacht, sondern als Verkäuferin gearbeitet. Als wir klein waren, hatte sie einen 400-Euro-Job, jetzt hat sie eine volle Stelle.

           Meine Mutter ist extrem ordentlich und sauber. Ich bin gelassener, kann mehr Unordnung ertragen. Bei mir können Kleider rumliegen, ohne dass der Tag gleich untergeht. Meine Mutter macht einen Aufstand, wenn sie nach Hause kommt und es ist nicht aufgeräumt. Meine Mutter ist wie ein Vulkan. Mein Vater ist diszipliniert, gelassen, nicht gleich so aufgebracht, eher wie einruhiger See. Mein Bruder besuchte die Hauptschule. Jetzt besucht er die zweijährige Berufsfachschule, um den Realschulabschluss zu machen.

Leben in zwei Kulturen

           Unsere Leute sind nicht so offen. Ich könnte denen nie erzählen, was ich so mache. Bauchtanz zum Beispiel kommt aus dem Orient, aber Türken finden ihn zu erotisch. Ich will mich dieser Kultur gar nicht anpassen.
           Meine Eltern sind offen für Vieles. Ich durfte ins Ballett gehen, synchron schwimmen und Karate machen. Aber Paartanz wollen sie nicht wegen des Körperkontakts zwischen Mann und Frau. Ich darf einen Freund haben, meine Eltern erlauben das. Aber andere Eltern nicht. Extrem wichtig ist, was andere Leute über einen denken. Doch meine Eltern würden hinter mir stehen, auch wenn ich gegen türkische Verhaltensweisen verstoßen würde. Mit meiner Mutter kann ich auch über Sex sprechen.
           Warum soll ein Junge Sex haben und ein Mädchen nicht? Als sich bei meiner Mutter ihre Freundinnen trafen, hörte ich, wie sie über Sex sprachen. Meine Mutter sagte zu einer Freundin: „Was ich mit meinem Mann habe, ist etwas Schönes. Warum soll es meine Tochter nicht haben?“ Die anderen Frauen schauten etwas merkwürdig drein, als sie meine Mutter so reden hörten. Sie waren offensichtlich anderer Meinung, sagten es aber nicht.
          Meine Mutter will aber, dass ich nur Sex mit einem Mann habe. Von vielen Mädels habe ich gehört, dass sie total Angst vor der Hochzeitsnacht haben, weil da so ein großer Druck aufgebaut wird. Meine Mutter vertraut mir. Ich konnte ihr von meinem Freund erzählen. Ich wollte ihn nicht verheimlichen, so wie das andere Mädels machen.



Religion

           Meine Eltern sind Aleviten, sie glauben an Allah. Mein Bruder und ich sind nie mit diesem religiösen Druck aufgewachsen. In der Alevitischen Gemeinde war ich schon immer. Die Gebete beim Cem gefallen mir, aber ich fühle nichts dabei. Manche kommen beim Cem an Grenzen und weinen, weil sie etwas Schweres erlebt haben.

           Ich glaube nicht, ich bin Agnostikerin. Ich kann nicht sagen, dass es Gott gibt oder nicht gibt. Gott und Engel sind so Sachen, die ich nicht sehe. Der Koran wurde halt mal geschrieben und die Menschen halten sich an ihn. Die Buchstaben fallen ja nicht vom Himmel.

           Ich bin mit dieser alevitischen Lebensweise aufgewachsen. Irgendwann habe ich angefangen, selbst zu denken und habe die Religion in Frage gestellt. Ich habe die Probleme zwischen Sunniten und Aleviten erlebt. In der Hauptschule waren 90 Prozent der Schüler Sunniten. Nachdem ich in der Hauptschule gesagt hatte, dass meine Eltern aus Dersim kommen, wurde ich gemobbt. Danach hatte ich Angst zu sagen, dass ich Alevitin bin. Früher sagte ich: „Ich komme aus Dersim“, obwohl ich in Ludwigsburg geboren bin. Heute sage ich: „Ich komme aus Ludwigsburg!“

           Ich sage auch: „Ich bin Deutsche.“ Ich habe auch die deutschen Werte

wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Disziplin. Meine Erfahrung mit Sunniten hat mich an der Religion zweifeln lassen. Sunniten überschreiten Grenzen, wie die, dass Frauen ein Kopftuch tragen müssen oder Sunniten zu mir sagen: „Halte dich fern von mir!“

          Meine Eltern würden einen sunnitischen Mann nicht akzeptieren. Mein erster Freund war ein Sunnite. Er war aber anders als die meisten Sunniten, er war sehr freundlich und tolerant. Sie würden einen Mann mit jeder anderen Religion oder Kultur eher akzeptieren.

           Religion und Kultur werden für meine Familie und mich immer unwichtiger. Man sollte für die Religion und Kultur des Anderen Interesse zeigen, ohne auf die eigene Religion zu verzichten. Ich wollte keinen Mann, der religiös oder politisch extrem ist. Eine extreme Einstellung drückt sich auch in der Lebensweise aus. Das würde nicht zu meiner offenen Art passen.        

          An der alevitischen Kultur liebe ich vor allem die Musik. Mir gefällt nicht, wie sich Jüngere gegenüber Älteren verhalten sollen. Zum Beispiel will ich nicht die Hand von Älteren küssen. Respekt gegenüber Älteren kann man auch anders ausdrücken. Einmal streckte mir ein Opa seine Hand zum Küssen hin.Ich nahm seine Hand und drehte sie um, sodass daraus ein Handschlag wurde.

 

Visionen und Wünsche

           Ich fände es schön, wenn ich nur so viel arbeiten müsste, wie ich zum Leben brauche, ohne extremen Luxus. Schafft man das in Deutschland? Mir gefallen auch Luxusautos, aber wie lange müsste ich dafür arbeiten?

           Ich möchte in einer Welt leben, in der alle in Frieden leben, wo Religion und Herkunft nichts über einen Menschen aussagen. Ich möchte glückliche Menschen um mich haben und möchte andere Menschen glücklich machen.

            Ich möchte ein Leben führen, wie ich es will. Arbeiten muss man immer. Ich möchte sorgenfrei leben, keine Zwänge haben und nicht so viel Nachdenken. Wir haben zu viel Angst vor Fehlern. Ich möchte Fehler machen dürfen. Ich möchte gern von meinen Erfahrungen erzählen, ohne sie zu bereuen: „Ich habe mein Leben so gelebt, wie ich es wollte.“ Die Kultur soll mich nicht einschränken. Einfach mal auf der Straße tanzen wie die Latinos, so locker, so schön. Vielleicht finde ich das Künstlerische so schön, weil man viel reist und mal hier, mal dort ist.

            Ich finde es auch schön zu heiraten. Letztendlich ist es nur dieses Stück Papier. Ich kenne das gar nicht anders. Ich finde Hochzeiten auch schön. Schon als Kind wollte ich immer eine Braut sein. Meine Hochzeit sollte kleiner sein als die türkischen Hochzeiten, ich wollte keine tausend Gäste einladen. Eine Tochter würde ich schon gern haben.

           Mir gefällt die englische Sprache, die Art, sich auszudrücken. Ich würde gern nach Großbritannien oder in die USA reisen. Thailand interessiert mich auch, und Südamerika. Ich möchte gern reisen und die Lebensart anderer Kulturen kennen lernen.



Mit Günes wurde Anonymität vereinbart.

Aufgeschrieben und bearbeitet von Regina Boger 2014

Titelbild: fotografiert von Peter Pöschl