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Mir fehlt ein Stück meines Lebens

 


Die ersten Jahre in Deutschland

           Die Ankunft in Bietigheim-Bissingen war schlimm. Wir lebten zuvor in einem Dorf in Sizilien. In Deutschland war alles kalt, das Klima und die Menschen. Es war, als ob da kein Leben wäre. Tagsüber waren keine Menschen auf der Straße oder im Hof. Nur ausländische Kinder spielten auf der Straße. Das wurde von den Nachbarn nicht gern gesehen. Die älteren Leute haben die Kinder gern gehabt. Unsere Hausbesitzerin hat sich immer gefreut, wenn sie uns gesehen hat. Sie hat uns dann ab und zu Bonbons oder ein bisschen Geld zugesteckt.

           1956 zog meine älteste Schwester mit ihrem Mann nach Deutschland, mein Vater 1963. Zwei Jahre später holte er meine Mutter, mich, meine Zwillingsschwester, meine ältere Schwester und meinen Bruder nach Bietigheim-Bissingen. Meine älteren Geschwister blieben in Italien. Ich bin so alt wie die Zwillinge meiner ältesten Schwester.

           Die Schule war schrecklich. Ich war zehn Jahre alt, konnte kein Wort Deutsch und wurde vom Schulleiter einfach in eine Klasse gesetzt. Meine Schwester und ich verstanden kein Wort.

          Wir wollten zurück, aber unsere Eltern ließen uns nicht. Zum Glück lernten wir von den Kindern eines deutsch-italienischen Ehepaares etwas Deutsch. Im nächsten Schuljahr bekamen wir eine sehr nette Lehrerin, die Italienisch sprach. Sie nahm uns in den Arm, wenn wir weinten. Die meisten Lehrer haben uns nicht ernst genommen. Sie haben nicht geglaubt, dass wir Deutsch schreiben konnten und benoteten unsere Arbeiten nicht. Sie glaubten, wir hätten von den deutschen Kindern abgeschrieben.

          Meine Eltern wollten wieder zurück nach Italien. Deswegen nahmen sie uns mit 14 Jahren aus der Schule. Wir sollten so früh wie möglich Geld verdienen. Bei der Firma SWF in Bietigheim fing ich als Vespermädchen an. Wir waren mehrere ausländische Jugendliche, die dasselbe machten. Bei SWF gab es viele italienische Landsleute, so hatten wir auch unseren Spaß. Für mich war es erniedrigend, in diesem Alter arbeiten zu müssen. Ich wäre lieber noch auf die Schule gegangen und hätte gern den Hauptschulabschluss gemacht und dann Friseurin geworden. Ich fühlte mich wie eine Gefangene, die funktionieren muss.

Eine strenge Erziehung

           Meine Eltern erzogen uns sehr streng. Sie hatten Angst, dass wir mit Jungen etwas anfangen und dann nicht mehr als Jungfrauen heiraten könnten. Deswegen durften wir nicht mit Freunden ausgehen. Dabei wollten wir nur mit unseren Freundinnen ausgehen. Wenn wir unsere Eltern etwas fragten, bekamen wir keine richtigen Antworten. Deswegen fingen wir an zu lügen. Wenn ich gelogen habe, haben mir meine Eltern geglaubt. Wir sagten, wir besuchten eine ältere Freundin, sind aber tatsächlich in die Disco gegangen. Wir hatten einen starken Drang nach ein bisschen Freiheit. Unsere Eltern erlaubten nicht, dass wir zum Faschingsfest gingen. Deswegen behaupteten wir, wir gingen zu einem Klassentreffen. Unser alter Lehrer wollte uns mal wieder sehen. In zwei Stunden seien wir zurück. Wir gingen aber auf den Fasching, lachten und tanzten und vergaßen die Uhr. Plötzlich war es zwölf Uhr. „Unsere Eltern bringen uns um“, sagte ich zu meiner Schwester. Als wir nach Hause kamen, brannten alle Lichter. Meine Mutter war in der Küche. Meine Schwester und ich hielten uns an der Hand und rannten die Treppe hinauf. Meine Mutter hinterher. Ich riss die Badezimmertüre auf, meine Mutter erwischte meine Schwester. Ich schloss die Türe ab. Meine Mutter trommelte mit den Fäusten gegen die Türe und schrie: „Mach die Türe auf.“ Ich machte sie aber nicht auf. Meine Mutter schloss von außen auf, ich stemmte mich mit den Füßen gegen die Türe. „Ich springe aus dem Fenster, wenn du mich verhaust!“, schrie ich. Schließlich gab sie auf und verprügelte nur meine Schwester. Ich verbrachte die ganze Nacht im Bad. Am nächsten Morgen war die Wut meiner Mutter etwas verraucht und die Schläge milder. Meine Eltern sprachen eine Woche lang nicht mit uns. Meine Schwester nahm mir lange übel, dass ich mich allein im Badezimmer verschanzt hatte. Aber meine Mutter hatte sie ja schon am Arm gepackt, als ich ins Bad rannte. Ich hatte mich auf eine Art durchgesetzt und das war gut. Drei Monate durften wir gar nicht mehr fortgehen, nur unter der Aufsicht meiner älteren Schwester.

           Meine ältere Schwester hatte einen Freund, von dem meine Eltern nichts wussten. Wir gingen zusammen fort, sie traf sich mit ihrem Freund und meine Zwillingsschwester und ich gingen in die Disco. Das ging ein Jahr lang gut. Dann verlobte sich meine ältere Schwester und nahm uns nicht mehr mit.



Erste Liebe

          Mit 16 lernte ich meinen Mann kennen. Eine befreundete Familie nahm meine Schwester und mich zu einer italienischen Weihnachtsfeier mit. Beim Tanzen lernte ich Nico kennen. Er arbeitete in einer Eisdiele in Bönnigheim und fuhr in der Mittagspause nach Bietigheim zu SWF, um sich mit mir zu treffen. Eines Tages saßen wir in Nicos Auto, als mein Bruder vorbei kam. „Wenn er das heute Abend meiner Mutter erzählt, bringt sie mich um“, sagte ich zu Nico. „Dann sag ihr doch, dass morgen ein junger Mann vorbei kommt, der euch kennen lernen will“, schlug Nico vor. Wir vereinbarten 15 Uhr. Ich informierte meine Eltern. Es war Samstag, 15 Uhr. Niemand kam. Es wurde
16 Uhr. Wir wurden unruhig. Schließlich kam er um 17 Uhr mit seinem Vater zusammen. Mein Vater war von dem jungen Mann begeistert und vor allem von seinem Vater. Hinter meinem Rücken forderten meine Eltern die Papiere, die man zum Heiraten braucht, in Italien an. Eigentlich hatte ich nur ausgehen und ein bisschen Tanzen gewollt. Ein Jahr später waren wir verheiratet. Ich hatte mich durch die Heirat von meiner Familie befreit, und nun hatte ich eine neue Verpflichtung. Gott sei Dank war Nico immer sehr nett.

Familie und Arbeit

          Mit 18 habe ich geheiratet, mit 19 bekam ich mein erstes Kind, Domenico. Ein Jahr später kam Maurizio. Meine Eltern gingen nach meiner Heirat zurück nach Italien, zu meinen Geschwistern nach Mailand. Die Eltern Nicos lebten auf Sardinien. Ich fühlte mich im Stich gelassen und überfordert. Nach der Geburt von Maurizio starb meine Mutter. Das war eine schlimme Zeit. Es war eine große Verpflichtung, für zwei kleine Kinder zu sorgen. Ich war den ganzen Tag allein mit den Kindern und musste alles allein bewältigen. Nico arbeitete von morgens bis Mitternacht in der Eisdiele. Ein bisschen Kontakt hatte ich zu meinen Schwägerinnen und zu einigen wenigen Freunden. Das war für eine junge Mutter nicht genug. Ich war so verzweifelt, dass ich mein Leben beenden wollte.

          „Such dir eine andere Arbeit, ich mach‘ das nicht mehr mit“, sagte ich zu Nico. Nico sah meine Not und suchte sich eine Stelle bei SWF. Aber das war nicht sein Leben. Deswegen fing er nach einiger Zeit wieder in einer Eisdiele an, diesmal in Ludwigsburg. Der Lohn war so gering, dass er davon keine Familie ernähren konnte. Deswegen hörte er dort auf und arbeitete zwei Jahre lang bei Mann und Hummel. Ich war froh, dass er nur acht Stunden am Tag arbeiten musste und wir die Abende und Wochenenden miteinander verbringen konnten. Schließlich bekam er ein Angebot von einer Eisdiele, von Olivier. Das Gehalt war so hoch wie das bei Mann und Hummel. Außerdem konnte er dort Schicht arbeiten. Auch ich habe in der Eisdiele gearbeitet. Von sechs bis acht Uhr morgens habe ich die Eisdiele geputzt. Nico war solange bei den Kindern. Wen ich nach Hause kam, brachte ich die Kinder in den Kindergarten und in die Schule. Das ging so lange, bis meine Söhne ihre Lehre beendet hatten. Danach arbeitete ich den ganzen Vormittag in der Eisdiele.

 

Selbständigkeit

           Herr Betz, der Besitzer der Eisdiele, baute eine kleine Eisdiele in der Kirchstraße. Außer Nico arbeitete dort kein Kellner gern. Herr Betz bot Nico an, diese Eisdiele zu übernehmen. Nico war 50 und er fragte sich, wie lange er noch als Kellner arbeiten könnte. Die Eisdiele in der Kirchstraße lief gut und wir beschlossen, das Risiko einzugehen. Das erste Jahr arbeitete ich arbeitete weiterhin morgens bei Olivier. Weil es in unserer Eisdiele so viel zu tun gab, gab ich meine Arbeit bei Olivier auf.

           Nun sind wir schon 24 Jahre selbständig. Mir macht die Arbeit Spaß. Durch sie habe ich viele Freunde gewonnen. Viele unserer Kunden wurden zu Freunden. Es gibt so viele herzliche und offene Gespräche. Mir macht diese Arbeit sehr viel Freude. Jetzt sind wir unser eigener Herr. Wenn man für jemanden anderes arbeitet, macht man es nie hundertprozentig richtig. Wenn dich jemand unterdrücken will, macht er es. Es war eine richtige Entscheidung. Aber auf der anderen Seite raubt mir die Eisdiele meine Familie. Ich habe keine Zeit, meine Enkel zu genießen. Mir fehlt ein großes Stück meines Lebens. Als ich jung war, hatte ich die Vorstellung, zuerst auf eigenen Füßen zu stehen. Das fehlt mir. Ich war nie wirklich frei. Ich bin froh, dass ich Kinder habe und dass aus ihnen etwas geworden ist. Sie haben mir Kraft und Freude gegeben.

Religion

           Ich glaube an Gott, aber ich mache mir nichts aus der Kirche. Den Glau- ben trage ich in meinem Herzen.

 

Heimat

           Ich will hier bleiben, auf keinen Fall zurück nach Italien. Was soll ich dort? Ich kenne ja niemanden in Italien. In den letzten Jahren hat mich die Sehnsucht nach Italien geplagt. In den 44 Jahren, in denen ich in Deutschland lebe, war ich nur zwei Mal in Sizilien. Als ich das erste Mal nach Sizilien
geflogen bin, saß ich mit klopfendem Herzen im Flugzeug. Traurigkeit und Freude waren gleichzeitig in mir. Ich habe den ganzen Flug über nur geheult. Als ich in das Dorf kam, hatte ich das Gefühl, immer dort gewesen zu sein. Obwohl unser Haus nur noch eine Ruine war, habe ich mich sehr gefreut, dort zu sein. Es war schön, meine Verwandten zu besuchen. Mein Cousin und ich lagen uns lachend und weinend in den Armen. Wir konnten nicht glauben, dass wir uns nach 44 Jahren wiedersahen.

           Ich liebe Ludwigsburg. Es ist meine Heimat. Hier habe ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht. Ludwigsburg gehört zu mir. Die Kirchstraße ist immer voll. Hier ist Leben. Ich mag alle Nationalitäten. Alle haben schöne Seiten. Die Türken sind die höflichsten Menschen. Auch Bietigheim liebe ich. Es war meine erste Stadt in Deutschland.

 

Flüchtlinge

           Die Flüchtlinge tun mir Leid. Ich fühle mit ihnen. Es ist schwer, aus der Heimat weggehen und alles zurücklassen zu müssen. Diesen Schritt haben sie nicht gern gemacht. Jeder hat einen guten Grund, weshalb er weggehen muss. Das Wort „Flüchtlinge“ hört sich so hart an, so bestrafend. Ich habe keine Angst vor den Flüchtlingen. Jeder kriegt ein bisschen, was er braucht. Ich glaube nicht, dass sie mit großen Erwartungen kommen.

 

Wünsche

           Ich möchte mal allein, ganz allein verreisen. Zwei bis drei Wochen würden mir reichen, irgendwo am Meer, in einem kleinen Fischerdorf. Spaziergänge am Meer. Das ist alles, was ich mir wünsche. Die Arbeit hindert mich, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Ende Oktober schließen wir die Eisdiele. Dann müssen wir liegen gebliebene Sachen erledigen. Danach machen wir ein bisschen Urlaub. Aber er will mit. Wir stören uns nicht. Wenn ich allein an den Strand will, mache ich das. Einfach nichts tun und nichts denken.



Erzählt von Pina die Gloria
im Oktober 2015
aufgeschrieben von Regina Boger