Nachkriegskindheit im Lerchenholz

1. Herkunft

          Mein Vater Karl Scheichenzuber (geb.1908) stammte aus dem niederbayerischen Grafenau, arbeitete dort als Meister in der väterlichen Schreinerei, bis er zu Beginn des 2. Weltkriegs zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er war unter anderem auch am Standort Ludwigsburg kaserniert. Dort lernte er meine Mutter Irma Bürkle (geb.1922) kennen. Sie arbeitete zu dieser Zeit als Kontoristin bei der Süddeutschen Elektron C. Frizlen, Schloßstraße 3, in Ludwigsburg.

          Meine Großeltern Paul und Klara Bürkle und ihre Töchter Irma und Friedel lebten in Ludwigsburg im Trompetergäßle 17. Meine Großmutter war Hausfrau, mein Großvater arbeitete als Schneider bei Breuninger in Stuttgart. Einer seiner Brüder, Carl Bürkle, war Orgelbauer und später Inhaber der Orgelbaufirma Paul Faust in Schwelm. Eine der Bürkle-Orgeln steht noch heute in der Neuapostolischen Kirche in Kernen-Rommelshausen.        

Meine Eltern heirateten am 6. Juni 1942 in der Garnisonskirche (heute evangelische Friedenskirche), vom Trompetergäßle also leicht zu erreichen. Einige Monate nach der Hochzeit bekam das junge Paar die Möglichkeit, eine eigene und größere Wohnung zu beziehen. Eltern und Schwester Friedel zogen mit um, so dass die ganze Familie jetzt im Haus "Im Lerchenholz 27" zusammenwohnte. Mein Vater war natürlich die meiste Zeit im Kriegseinsatz. Es war ein schönes Haus mit einem herrlichen Obstgarten dahinter und vor dem Haus ein kleiner verträumter Vorgarten mit Staketenzaun und Steinpfosten. Dieser wird heute für PKW-Stellplätze verwendet. Der damalige

 

Hausbesitzer, Herr Nägele, verteidigte zur Reifezeit seine Obsternte erbittert gegen Amseln und Stare. Schon früh am Morgen stand er täglich auf der Veranda und klatschte laut in die Hände, rief und schimpfte. Wie erfolgreich er damit war, ist mir nicht bekannt.

          Noch war es eine relativ ruhige Wohngegend, aber mit der Ausweitung des Luftkrieges wurde es auch dort gefährlicher. Vor allem der nahe gelegene Güterbahnhof und der nicht weit

entfernte Verschiebebahnhof in Kornwestheim waren lohnende Ziele für die alliierten Bomber. Eine fehlerhafte Zielmarkierung für die Bomber hätte genügt und das Viertel wäre in Schutt und Asche versunken. Die Bewohner "unseres" Hauses flüchteten oft genug in die Keller und warteten, bis das Dröhnen der Einschläge und das Zittern des Bodens aufhörten und die Sirenen Entwarnung signalisierten. Ich war ab 1944 als Embryo "dabei" und meine Mutter erzählte mir, dass ich bei den Explosionen besonders heftig gezappelt hätte.



2. Frühe Kindheit

          Im eiskalten Februar 1945 war es dann soweit. Meine Mutter stand kurz vor der Entbindung und begab sich zu Fuß(!) ins Kreiskrankenhaus (heute Medizinische Klinik I, Posilipostr. 2). Kein Taxi, kein Bus, kein Krankenwagen – nur Chaos des NS-Staates im Endstadium. Mutter und Schwester begleiteten sie. Ich war sozusagen blinder Passagier. Mein Geburtsdatum war dann der 23. Februar, also rechtzeitig zum Geburtstag meiner Mutter.

          Kriegsende für Ludwigsburg war am 21. April 1945 – als die französischen Soldaten die Stadt übernahmen. Anscheinend gab es Plünderungen auch bei Wohnungsdurchsuchungen. Als auch in unserer Wohnung Soldaten auftauchten, hatte meine Großmutter das wenige an Familienschmuck im Kinderwagen unter der Matratze versteckt. Ein Soldat beugte sich herunter und scherzte mit mir, während meine Großmutter vor Angst fast starb. Es blieb aber beim Scherzen, die Soldaten zogen friedlich wieder ab, ohne etwas mitzunehmen. Erinnern kann ich mich natürlich nicht daran, die Begebenheit wurde mir so erzählt.

         Mein Vater kehrte glücklicherweise kurz nach der Kapitulation des Deutschen Reiches im Mai 1945 nach Hause zurück. Das Lerchenholz und (soweit mir bekannt) auch die umliegenden Straßen waren von den Bombardierungen verschont geblieben, so dass wenigstens intakter Wohnraum vorhanden war. Inzwischen hatte die US-Armee die Kontrolle über die Stadt übernommen; so boten sich Möglichkeiten, an überlebenswichtige Güter wie Heizmaterial und Lebensmittel zu kommen.

Dabei halfen die handwerklichen Fähigkeiten meines Großvaters Bürkle, der für die Damen der US-Army Änderungen und Reparaturen der Kleidung vornahm oder auch einmal ein Stück komplett neu nähte. Mein Vater war ebenfalls für die Damen tätig, er fertigte Schmuckschatullen und kleine Möbel an. Ebenso Holzspielzeug und auch Schaukelpferde für ihren Nachwuchs. Material und Werkzeug wurden, falls nötig, von den Auftraggebern bereitgestellt. Alles wurde in Naturalien entlohnt, ein höchst willkommenes Zubrot, denn vor der Währungsreform (1948) gab es nur die Notwirtschaft über Bezugsscheine und Schwarzmarktgeschäfte in Zigarettenwährung.

Als ich das Schulalter erreichte, hatte ich schon enge Kontakte zu der in einem Nachbarhaus einquartierten Familie US-Amerikaner hergestellt. Ihr Sohn Charlie und ihre Tochter Lee waren etwa in meinem Alter. Ich besuchte sie dort regelmäßig zum gemeinsamen Spielen. Die Sprache war kein Problem und ihre Mom versorgte uns immer mit herrlichen, unbekannten Dingen zum Naschen: Ice cream, Dubble Bubble chewing gum, cheesecake, Hershey's Chocolate Syrup etc.

          Überhaupt waren das Lerchenholz und seine Seitenstraßen bis zur Solitudeallee ein einziger Spielplatz für mich und die Kinder der dort wohnenden Familien. Die leicht abschüssige Straße konnte man wunderbar mit den Hudora-Rollschuhen hinunterrasen und deren Eisenräder sorgten dabei für ordentlichen Lärm. Die Streifzüge gingen hinaus bis zum Wasserturm Römerhügel, rundum nur Felder und Wiesen von Kornwestheim. Kein Schulzentrum, kein Gewerbegebiet, und weit und breit keine Autos, die uns die Straßen streitig gemacht hätten. Räuber und Gendarm, Cowboy und Indianer, Fangen, Verstecken – für alle denkbaren Spiele war Platz in Hülle und Fülle.

          Natürlich gab es dabei auch Streitereien, Tränen, aufgeschürfte Knie etc. Eines unserer Lieblingsspiele war Kartoffelschießen auf Ziele oder Gegner. Hierzu gab es ein Schussgerät aus Kunststoff zu kaufen.

          Wahrscheinlich kennt kaum noch jemand die Bedienung dieses Spielzeugs, deshalb hier eine kurze Beschreibung meiner Kanone:

          Die Munition wurde aus einer rohen Kartoffel gewonnen, indem man nacheinander mit beiden Enden des Rohres in die Kartoffel hineinstach und vorsichtig (Bruchgefahr des Kunststoffes) jeweils einen kleinen Pfropfen der Kartoffel heraushebelte. Dann schob man am Griffende des Rohres den Schießstab ein und hielt das gelbe Rohr an den Griffstücken zwischen Zeige- und Mittelfinger fest. Der Daumen drückte dann solange den grünen Schießstab in das Rohr hinein, bis am anderen Ende der vordere Kartoffelpfropfen mit einem lauten "Plopp" herausflog. Wenn man Glück hatte, traf man auch das anvisierte Ziel. Der hintere Pfropfen blieb im Rohrende, so dass für den zweiten Schuss nur noch einmal am kurzen Ende "geladen" werden musste. Ein einfaches, billiges Spielzeug mit sehr viel Effekt und trotzdem harmlos. Bei unseren Aktionen wurde niemals jemand verletzt – außer der Kartoffel.[1]

          1950 starb meine Großmutter Bürkle, im gleichen Jahr heiratete auch meine Tante Friedel und zog mit ihrem Mann Helmut Thum in eine eigene Wohnung. Mein Großvater blieb bei uns in der Wohnung und half uns, weiterhin mit Schneiderarbeiten finanziell über die Runden zu kommen. Im gleichen Jahr pachteten meine Eltern einen Kleingarten für Gemüse- und Obstanbau und auch für die Freizeit. Mein Vater zimmerte eine kleine Gartenhütte für die Gartenwerkzeuge, aber man konnte dort auch schön sitzen zum Essen und Trinken und hatte Schutz vor Regen.

          Diese Kleingartenanlage war wie gemacht für mich, es gab einen Spielplatz, Gärten, Kinder, Platz für Abenteuer und aufgeschürfte Knie und Platzwunden – einfach perfekt. Leider kann ich mich nicht mehr genau an die Lage erinnern. Ich vermute, die Gartenanlage war in der Nähe von Grünbühl am Oßweiler Weg. Meine Eltern fuhren mit ihren Fahrrädern von zu Hause los, am Salonwald entlang, ich wurde auf den Gepäckträger gesetzt. Nach ca. 20 Minuten waren wir im Garten.

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[1] Ein ähnliches Exemplar meines Schussgerätes wird auf der Website des Spielzeugmuseums Nürnberg gezeigt: Auf der sich öffnenden Seite in Zeile "Inventarnr." eingeben "1983.1404" dann klicken auf "Suchen".

https://www.vino-online.net/spnb/



3. Schule und Freizeit

          1951 war Schluss mit der endlosen Freiheit. Ich wurde eingeschult in der Feuerseeschule (heute Schiller/Mörike-Gymnasium). Der Schulweg wurde, wie damals üblich, zu Fuß zurückgelegt – bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit (kein Bus, kein Elterntaxi). Ich lief zunächst zur Einmündung in die Solitudeallee, dort befand sich im Eckhaus rechts eine Metzgerei, im Eckhaus links ein Lebensmittelgeschäft. Dieser Laden war bei uns Schulkindern auch beliebt für Nachschub an Frigeo-Brausepulver in Tüten, welches beim Auflecken aus der Handfläche herrlich im Mund schäumte. Und dazu noch eine Rolle Lakritz (Bäradregg) und man war für den Schultag gestärkt. Fast immer war es eine kleine Gruppe, welche den Weg zur Schule und zurück zusammen ging. Weiter ging es an der damaligen GETRAG vorbei, über die Eisenbahnbrücke hinein in die Solitudestraße. Dort gibt es heute noch die Firma Spielwaren Zinthäfner, für mich damals ein absolutes Traumland unerfüllbarer Wünsche: Gama-Blechbagger, Wiking Automodelle, Märklin Eisenbahn, Distler-Porsche mit Elektromotor und kabelgebundener Fernsteuerung usw. An den Schaufenstern habe ich mir jeden Tag die Nase plattgedrückt.

          Die Schule brachte aber auch neue Freundschaften und damit mehr Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Besonders aufregend war es mit einem Kumpel, der im Bahnhofsviertel irgendwo zwischen Schillerstraße und Karlstraße wohnte. Er wusste von den Luftschutzkellern unter vielen der Gebäude in diesem Quartier und wie man hineinkam. Zusammen durchstöberten wir mehrfach diese stockdunklen Räume mit Hilfe einer Taschenlampe – ohne jedoch etwas Aufregendes zu finden. Der Gruseleffekt war trotzdem gegeben. Ich war besonders beeindruckt von den Verbindungsgängen zwischen den einzelnen Schutzkellern, dadurch konnte man oftmals unterirdisch von Haus zu Haus gehen. (Heute würde man solche Expeditionen als Urban Exploring bezeichnen und Videos davon zu YouTube hochladen.) Für die Bewohner des Viertels ging es in den Kriegsjahren allerdings nur ums Überleben der Luftangriffe auf den Bahnhof.

          Ein weniger harmloses Abenteuer war unsere Aktion auf der Eisenbahnbrücke Keplerstraße/Friedrichstraße. Auf einer nahegelegenen Baustelle besorgten wir uns einen langen Draht und warfen ihn mit Schwung über die Sicherheitsgitter der Brücke hinunter auf die Oberleitung. Wir wollten sehen, ob es Funken gibt, oder was sonst geschieht. Es gab jedenfalls einen gewaltigen Knall und auch die erwarteten Funken. Der Draht hatte wohl nicht nur die 15kV Oberleitung getroffen, sondern auch ein Metallteil der Tragkonstruktion. Wir waren zu Tode erschrocken, aber trotzdem noch in der Lage, so schnell zu verschwinden, dass wir nicht erwischt wurden. Wir hatten zwar keine Ahnung, dass uns der Lichtbogen des überspringenden Stroms hätte töten können, dennoch haben wir niemandem über diese lebensgefährliche Aktion erzählt – irgendwie fühlten wir, dass wir Mist gemacht hatten, und dass es besser war, den Mund zu halten.

          Mit der Heirat meiner Tante Friedel erweiterte sich der Verwandtschaftskreis. Mein Onkel Helmut Thum stammte aus dem oberen Täle, wo sein Vater Christian Thum in der Bietigheimer Straße 4 eine Schreinerei betrieb. Helmut hatte ebenfalls Schreiner gelernt, hatte sich jedoch weitergebildet und fand eine gute Stelle bei DKW-Kegreiß in der Schorndorfer Straße 172. Zunächst arbeitete er dort erfolgreich als Autoverkäufer, Jahre später erhielt er Prokura.

           Es gab noch einen weiteren Sohn, Karl Thum, mit Tochter Hella und Sohn Frank. Diese angeheirateten Verwandtenkinder

         

in meinem Alter waren willkommene Spielkameraden bei sonntäglichen Familientreffen in der Bietigheimer Straße. Zunächst stand jedoch das gemeinsame Mittagessen auf dem Plan, zu dem uns die herzensgute "Oma" Thum schon an der Tür in schönstem Schwäbisch begrüßte: "Ezd ganged noo rae on deend ässa!"

          Nach dem leckeren Sonntagsessen konnten wir uns in unsere Spielecke verziehen und so den langweiligen Erwachsenengesprächen entgehen. Ganz besonders intensiv beschäftigten wir uns mit dem uns zur Verfügung gestellten "View-Master" und den fantastischen, stereoskopischen Bildern mit Fotomotiven aus der ganzen Welt. Ein spannender und lehrreicher Zeitvertreib in der Zeit vor Einführung des Fernsehens.

          Die beginnende Wirtschaftswunderwelt erlaubte auch meinen Eltern einen (sehr) bescheidenen Wohlstand. Unvergesslich wird mir die Begegnung mit der ersten Banane meines Lebens bleiben. Meine Mutter hielt mir die kostbare, etwas überreife Frucht vor den Mund. Doch statt begeistertem Mampfen hörte sie nur wütendes Geschrei: "Nein, das mag ich nicht, das stinkt nach Alkohol!!"

          Woher ich wusste, wie Alkohol riecht, kann ich nicht sagen. Jedenfalls endete der erste Kontakt mit einem tropischen Erzeugnis nach mehreren Versuchen mit einer total frustrierten Mutter, einem brüllenden, angeekelten Kind – und einer zermatschten Banane.

          Die bunte Konsumwelt bot jetzt mehr und mehr Waren, die auch wir uns leisten konnten. Unsere Kleidung wurde nun nicht mehr nur von Opa geändert oder neu geschneidert. Jetzt ging man öfters zu Oberpaur in der Asperger Straße, um sich schick einzukleiden. Für mich waren diese Einkäufe nicht so interessant. Während meine Eltern mit Aussuchen und Anprobieren beschäftigt waren, durfte ich bei Spielwaren Rees um die Ecke (Kirchstraße 11) die neuesten Spielzeugträume bewundern. Einiges davon bekam ich dann auch zu Geburtstagen oder zu Weihnachten. 

Das schönste Spielzeug blieb jedoch immer die von meinem Vater zusammen mit einem befreundeten Mechaniker gebaute elektrische Spielzeugeisenbahn, Spurweite 45 mm. Der Mechaniker baute die Lokomotive und die Waggongestelle aus allerlei merkwürdigen Metallteilen zusammen (der Kessel der Lok z.B. aus einer entsprechend zurechtgeschnittenen Würstchendose). Mein Vater steuerte die Holzteile bei, also den Aufbau der drei Waggons, einen Bahnhof, einen Tunnel, eine Mühle mit Motor und ein Riesenrad mit Motor. Die Gleise in Standardgröße Spur 1 konnten gebraucht gekauft werden. Alles sehr preiswert und robust. Trotz wenig Ähnlichkeit mit Originalbahnen war das alles für mich genauso schön wie eine unerschwingliche, gekaufte Modelleisenbahn. Leider ist mir von der ganzen Anlage nur noch die Lokomotive geblieben, der Rest wurde wohl bei diversen Wohnungswechseln zurückgelassen.



4. Sommerferien im Bayerischen Wald

          In der ersten Hälfte der 1950er Jahre war eine Urlaubsreise in den Süden für meine Eltern finanziell nicht möglich. Anstatt bella Italia gab es ein paar Tage in den Bayerischen Alpen – Oberstdorf, Berchtesgaden oder auch Oberaudorf – jeweils in einfachen Pensionen. Alles mit der Bahn und/oder dem Omnibus. Danach – es waren Sommerferien – wurde ich zu den Großeltern nach Grafenau gebracht. Ich durfte mich dann drei Wochen von meiner Oma verwöhnen lassen. Das tat sie auch ausgiebig bis zur Schlafenszeit. Während ich dann im Bett lag, die Hauskatze schnurrend am Fußende, erzählte sie mir aus gruseligen Volkssagen von "Weihrazn, Deifi und Boandlkramer" – bis ich einschlief.

          Der Kontakt mit den Nachbarschaftsbuben war im Handumdrehen hergestellt, mein Schwäbisch und ihr Niederbairisch vertrugen sich gut. Ich war ja durch meinen Vater mit ihrem Dialekt vertraut und wurde deshalb als Nicht-Preuße anerkannt. Bei schlechtem Wetter war das Holzlager in der Bau- und Möbelschreinerei des Großvaters unser Lieblingsort. Dort konnte man zwischen den zum Trocknen aufgestapelten Brettern herrlich Verstecken spielen. Zwischen den Brettern lagen allerdings Leisten zum besseren Trocknen des Holzes, wodurch die hohen Stapel nicht sehr stabil standen. Deshalb jagte uns mein Großvater hinaus, sobald er merkte, dass wir im Lager aktiv waren: "Schleichts eich, deads woondasch umonond deifin!"

          Daneben war auch noch das Sarglager ein gern besuchter Ort. Die Schreinerei verkaufte auch Särge und führte Leichentransporte durch. Die Särge konnten auf Kundenwunsch zuvor noch mit geprägten und metallisierten Pappornamenten verziert werden. Genau an diesen Ornamenten waren wir interessiert. Damit werteten wir unsere aus Holzresten selbst gebastelten Schwerter, Schilde, und sonstigen Spielgeräte nach Geschmack kräftig auf. Einfach mit ein paar kleinen Nägeln angeheftet – und schon hatte man eine beeindruckende Ausrüstung.

          Die Schreinerwerkstatt war ein Ort voll mit tonnenschweren Ungetümen zum Sägen, Hobeln, Fräsen, Schleifen. Die Geräusche der Holzbearbeitung, der Geruch von heißem Knochenleim – all das zog mich magisch an. Ich durfte mir das nur aus sicherer Entfernung ansehen, aber Hobelspäne zusammenkehren war erlaubt. Es gelang  mir jedoch einmal, an die etwas abseits stehende Bandschleifmaschine

 

zu kommen und sie einzuschalten. Das Geräusch ging im allgemeinen Lärm der Werkstatt unter. Ich streute etwas Holzmehl auf das umlaufende Schleifband, das Mehl verschwand unter der Antriebswelle und fiel von oben wieder herunter. Als dieser Kreislauf zu langweilig wurde, nahm ich kleine Holzstückchen und legte diese auf das Schleifband. Der Erfolg blieb nicht aus. Die Hölzchen wurden von der Welle erfasst und das Schleifband riss mit einem Knall auseinander. Mein Großvater kam fluchend um die Ecke, ich verschwand durch die Hintertür und sah zu, dass ich ihm für den Rest des Tages aus dem Weg ging. Das teure Band war hinüber, ich bekam einen Tag Werkstattverbot, aber letzten Endes war er heilfroh, dass mir nichts passiert war.

          Im Wohnhaus befand sich auch ein kleiner Krämerladen meiner Großmutter. Ein Paradies für Kinderaugen, gefüllt mit Haushaltsartikeln, Spielzeug und Krimskrams. Der Höhepunkt war allerdings etwas Anderes: Ein Kühlschrank voll mit Knackwürsten aus Pferdefleisch. Diese wurden an Kunden verkauft und ich wurde auch zum Kunden. Die Dinger schmeckten kalt und warm gleich gut und ich habe mir fast jeden Tag eine davon genehmigt. Davor bin ich zur Bäckerei Rohrmeier im Haus nebenan geeilt und holte mir für 5 Pfennig ein Brötchen dazu. Das Geld für Knacker und Brötchen bekam ich von meiner Großmutter im Voraus für eine Woche.

          Solche grandiosen Ferientage konnte ich drei Sommer lang genießen. Im Frühjahr 1955 starb dann leider auch meine Grafenauer Oma, die Schreinerei wurde von einem der Söhne übernommen, und durch diese neue Situation waren meine Ferienaufenthalte im "Boarischn Woid" für immer vorbei.

          Im Jahr 1955 wurde die Bundeswehr gegründet. Mein Vater muss wohl in der Zeitung über die Anwerbung von Freiwilligen gelesen haben. Ich habe ihn in meinem ganzen Leben nicht mehr so fassungslos wütend erlebt wie bei der Lektüre dieses Artikels. Mit hochrotem Kopf brüllte er Schimpfwörter, die ich nicht verstand, wahrscheinlich waren es ausgesucht heftige Beleidigungen aus dem niederbayerischen Wortschatz. Meine Mutter beeilte sich, mich aus dem Zimmer zu drängen und mich mit Spielsachen abzulenken. Ich hörte aber noch genug um zu verstehen, dass er unter keinen Umständen "für diese Verbrecher" wieder eine Waffe in die Hand nehmen würde. Danach wurde das Thema nie mehr angesprochen, ebenso schweigsam war er auch in Bezug auf seine Kriegseinsätze.



5. Umzug nach Münchingen-Kallenberg

          Ein erster Wohnungswechsel stand im Jahr 1955 bevor. Mein Vater arbeitete trotz Meistertitel zu einem Hungerlohn in einer örtlichen Schreinerei und suchte nach einem besser bezahlten Arbeitsplatz. Während dieser Zeit schärfte er mir immer wieder ein, ich solle die Finger "vom Holz" lassen, damit könne man kein Geld verdienen. Obwohl ich an seinen Möbelarbeiten in der Kellerwerkstatt sehr interessiert war, schickte er mich mit diesen Worten hinaus. Diese Ablehnung bedauere ich bis heute, denn ich hätte so viel Nützliches von ihm lernen können, egal welchen Beruf ich später ergreifen würde.

          Schließlich fand er bei der Lackfabrik Votteler (Korntal-Münchingen, Am Kallenberg) eine gut bezahlte Stelle als "Poliermeister". Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Tätigkeiten diese Bezeichnung umfasste, wahrscheinlich waren seine Kenntnisse über Hölzer und ihre Eigenschaften wichtig, eventuell um neue Lacke zu entwickeln und zu testen.

Anscheinend war es Teil des Arbeitsvertrages, in der Nähe der Firma zu wohnen, eine komfortable Werkswohnung in der Daimlerstraße 21 (heute Nr. 15) wurde gestellt. Das bedeutete nun Abschied nehmen von Ludwigburg und vom Lerchenholz, vom Schrebergarten, von der Schule und allen Spielkameraden. Heutzutage wäre die Entfernung zwischen beiden Wohnorten überhaupt kein Thema. Aber damals, ohne ausgebaute Verkehrsinfrastruktur und ohne Kommunikationskanäle – Telefon hatten nur wenige – war das fast schon wie ein Umzug ins Ausland. Damit war die Zeit meiner Nachkriegskindheit in Ludwigsburg zu Ende.

          Die Fortsetzung erfolgte 7 km weiter südlich, dort wo die Solitudeallee bei Neuwirtshaus auf die Schwieberdinger Straße stößt. Der erste Eindruck war mehr als enttäuschend. Kallenberg 1955 – ein kleiner, abgelegener Wohnplatz, bestehend aus Lackfabrik, Spedition, Gärtnereien und ein paar anderen Gewerbebetrieben, sowie einigen älteren und neueren Wohnhäusern. Jedenfalls kein Vergleich zum Lerchenholz als Wohnviertel in einer barocken Residenzstadt.

          Neben dem Votteler-Mehrfamilienhaus mit unserer neuen Wohnung befanden sich damals zwei hölzerne Wohnbaracken (heute Haus Nr. 7). Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand – und steht noch – das Wohnhaus der Familie Jehle (Spedition Karl Jehle) mit einem, heute überbauten, großen Gartengrundstück links daran schließend. Wenn ich mich richtig erinnere, war der Garten von Hühnern und Gänsen bevölkert.

          Die Wohnung selbst war für damalige Verhältnisse durchaus komfortabel, allerdings nicht groß genug für Eltern, Opa und mich. Ich bekam ein eigenes Zimmer im Tiefparterre, also außerhalb der Erdgeschosswohnung, die Kellertreppe hinunter. Das Untergeschoss war schon ein typischer Neubaukeller, trocken und warm. Ich hatte dort zwei Tageslichtfenster und der Raum war mit einem Kanonenofen ausgestattet, welcher auch benutzt wurde. Ansonsten war die Einrichtung streng "funktional": Bett, Kleiderschrank, Tisch, Stuhl, Schreibtisch, Bücherregal "String"[1]. Neben meinem Zimmer lag der Raum, den mein Vater als kleine Werkstatt mit Hobelbank benutzte.

          Diese "Auslagerung" mag heutzutage merkwürdig erscheinen, für mich selbst brachte sie jedoch die Möglichkeit, nachts so lange zu lesen, wie ich wollte. Die teilverglaste Tür war abschließbar und der dicke Vorhang ließ kein Licht nach außen in den Kellerflur. Und es wurde viel geschmökert: Pete – Billy Jenkins – Tom Prox – Micky Maus – Rasselbande – Prinz Eisenherz – Karl May – Tarzan – Sigurd – Akim – alles was erreichbar war. Das einzige Problem war nachts die fehlende Toilette. Ich musste in die Wohnung ins Erdgeschoss hinauf und wieder zurück. Meistens bin ich jedoch in die nahe gelegene Waschküche gehuscht, habe den Gully im Boden benutzt (abr bloos fira Rolle!), mit Wasser nachgespült – fertig.

          Links neben dem Haus war zu dieser Zeit eine betonierte Fläche mit Metallgerüsten zum Aufhängen der Wäsche und zum Teppichklopfen. Ansonsten wurde dieser Bereich hauptsächlich als Spielplatz für unsere Spielzeugautos benutzt. Diese Fläche ist heute überbaut mit einer Erweiterung des Wohnhauses. Der Anbau ist breiter als das alte Haus und bei Google maps leicht zu erkennen.

          Es gab im Haus - und auch in den Häusern in der Nähe - einige Kinder in meinem Alter. Die ersten Freundschaften waren schnell geschlossen, ich lebte mich trotz meiner anfänglichen Enttäuschung schnell ein. Die neue Umgebung war zwar grundlegend anders als in Ludwigsburg, aber alles in allem nicht schlechter für meine Bedürfnisse. Das direkt hinter den Wohnhäusern gelegene Waldstück bot mehr als genug Platz für gemeinsame Abenteuer. Der Seewald und darin das Seele jenseits der B10 waren schon etwas Besonderes. Das tümpelartige Gewässer befuhren wir mit selbst gefertigten, floßartigen Konstruktionen aus Totholz, wobei ein Sturz in die grünliche Brühe Normalität war. Entweder war die Pfütze nur knietief, oder wir konnten alle schon schwimmen (zweifelhaft) – jedenfalls ist keiner ertrunken. Im Wäldchen lagerten gelegentlich auch US-Soldaten, von denen wir die üblichen Leckereien schnorren konnten – unter anderem das heiß begehrte Trockenmilchpulver, „zom schlotza“.

           Einer der Kumpels erzählte mir, dass er beim CVJM sei, und wie toll es dort wäre. Das musste ich auch ausprobieren und schloss mich der Gruppe an. Die Leitung hatte ein älterer Mann (ca. 25 Jahre alt), der es gut verstand, den quirligen Haufen von ca. 10 Jungs zu motivieren. Unter anderem machten wir nachts im Wald Such- und Orientierungsspiele, wobei das Stolpern und Stürzen über Wurzeln, Steine oder Baumstümpfe einfach dazugehörte. Er erklärte uns, wie man sich mit Kompass, Karte und Sternenhimmel orientiert. Der richtige und vorsichtige Umgang mit unserem Fahrtenmesser[2] gehörte auch dazu. Die Krönung waren die Abende um ein Lagerfeuer mit Gitarrenspiel und Singen von (vermutlich) Wanderliedern. Das gesamte Angebot einschließlich des Gruppenabends gefiel mir sehr gut. Ob dabei religiöse Inhalte vermittelt wurden, weiß ich nicht mehr, hängengeblieben ist davon jedenfalls nichts. Inzwischen hatte ich ein gebrauchtes 

 

Fahrrad bekommen und der große Hof der Spedition Jehle

(rechts vom Wohnhaus Jehle) bot genügend Platz für Fahrübungen etc. Der Clou war jedoch, dass der Sohn Klaus(?) Jehle die Schlüssel zu einem dort vorhandenen Motorrad besorgen konnte. Er hatte den kleinen Zweitakter schon selbst gefahren und ich wollte das natürlich auch können. Ich drängte ihn so lange, bis er mir die Handhabung erklärte. Der Motor lief noch, als ich mich auf den riesigen Sattel schwang und vorsichtig den Kupplungsgriff losließ. Anfangs lief es ganz gut, ich drehte einige Runden, wurde mutiger und gab Gas. Zum Verhängnis wurde mir dann, dass auf dem Hof stellenweise Kies lag, sodass in der nächsten Kurve das Vorderrad wegrutschte. Das Motorrad landete krachend auf dem Boden, ich zum Glück daneben und nicht darunter. Der Maschine war nichts passiert, Kratzer hatte sie schon zuvor gehabt. Bei mir gab es auch Kratzer – vom Oberschenkel bis zur Wade, auch Ellbogen und Unterarm hatten etwas abbekommen. Die Lederhose hatte alles gut überstanden, die Standpauke zuhause habe ich auch überlebt. Meine Begeisterung für Motorräder war aber restlos erloschen – bis heute.

          Mein Schulunterricht war in der Neuwirtshausschule. Den Weg dorthin legte ich mit dem Fahrrad zurück. Es gab auch eine Buslinie nach Zuffenhausen mit Haltestelle Kallenberg und in der Nähe der Schule. Ein bisher ungewohnter Luxus. Ich benutzte den Bus jedoch nur bei schlechtem Wetter. Auf dem Heimweg mit dem Fahrrad fand ich einmal im Straßengraben eine Brieftasche. Sie enthielt Führerschein, Personalausweis, Fahrzeugschein und Bargeld. Zuhause zeigte ich meinen Eltern aufgeregt den Fund. Sie erklärten mir die Wichtigkeit dieser Dokumente und sagten, dass sie so schnell wie möglich an den Eigentümer gesandt werden müssten. Ich schrieb einen Begleitbrief dazu und meine Mutter veranlasste noch am gleichen Tag den Versand per Post. Einige Tage später kam vom Empfänger ein Brief für mich an, beigelegt waren 5 DM. Der Eigentümer bedankte sich und erklärte mir, dass er in den zwei Wochen seit dem Verlust der Brieftasche schon viel Ärger mit der Neubeschaffung seiner Papiere gehabt hätte. Und dass ich bei sofortiger Zusendung mit 10 DM belohnt worden wäre. Wir konnten es nicht glauben. Er war wohl der Meinung, ich hätte sie eine Weile zuhause herumliegen lassen. Meine Eltern meinten, man solle die Sache auf sich beruhen lassen, und so geschah es. Geärgert habe ich mich aber doch – weniger wegen des entgangenen Geldes, sondern wegen der unterstellten Wurstigkeit. 

          Das Jahr 1956 brachte ein wichtiges Ereignis für die Siedlung. Es gab zwar schon ein Lebensmittelgeschäft, aber keinen Ort für die Ernährung der Seele. Kurz, es gab dort keine Kirche, so dass sich Dr. Helmut Votteler entschloss, einen solchen Bau zu finanzieren. Tatsächlich wurde das Projekt realisiert und seitdem hat der Kallenberg seine Emmaus-Kirche.[3] Wir Kinder durften beim Bau, bzw. bei den Vorbereitungen mithelfen. Unsere Aufgabe war es, von gebrauchten Ziegelsteinen den Mörtel abzuklopfen. Das gesäuberte Material wurde dann für den Bau verwendet (Schwäbische Sparsamkeit oder schon nachhaltiges Handeln?). Ich habe keine Erinnerung daran, ob auch Betriebsangehörige der Lackfabrik und/oder andere Erwachsene beim Abklopfen mitmachen durften(?), ob es Essen und Trinken gab, oder wie das Ganze geplant und organisiert war. Ich weiß aber sicher, dass mir das Hämmern großen Spaß gemacht hat. Weniger spaßig war für mich dann das vorweihnachtliche Krippenspiel in der Kirche, ich hasste die Rolle, verhedderte mich im Text, und das alles vor der Kirchengemeinde, einschließlich meiner Eltern.

 

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[1] s. Wikipedia

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Fahrtenmesser

[3] Hier der link zur Gemeindeseite: https://www.korntal-muenchingen.de/de/Stadt-Land/Unsere-Stadt/Kallenberg

Meine Mutter fand in der Lackfabrik einen Büroarbeitsplatz, was es ermöglichte, dass meine Eltern schon Anfang 1956 stolze Eigentümer eines gebrauchten VW-Käfers wurden. Er bekam noch Nummernschilder nach der alten Zulassungssystematik: AW 44 – 4473. Das AW stand für Amerikanisch Württemberg, 44 stand für Leonberg Land, die Zahl hinter dem Querstrich war die Nummer des Fahrzeugs bei der Zulassungsstelle. Schon ein Jahr später gab es die neuen Kennzeichen und unser Käfer lief jetzt unter LEO I – 793. Durch die Motorisierung waren jetzt Ausflugsfahrten in weiter entfernte Gebiete möglich, welche mit Fahrrädern nicht mehr erreicht werden konnten. Auch Verwandtschaftsbesuche in Ludwigsburg waren bequem möglich, leider hatten wir noch kein Telefon, so dass eine vorherige Abstimmung immer noch umständlich war.

          Die Respektsperson Dr. Votteler, Direktor der Lackfabrik, war für uns Jungs auch Anlass für ein erfundenes Spiel mit dem Namen "Dr. Votteler kommt!". An die selbstgemachten Regeln erinnere ich mich nicht mehr. Es kam jedenfalls darauf an, dass jeder nach diesem Warnruf so schnell wie möglich in Deckung ging. Für dieses Spiel tummelten wir uns vorzugsweise auf fremden Grundstücken, in Rohbauten, Geräteschuppen etc., immer auf der Hut vor Eigentümern oder Aufsichtspersonen. Meine letzte Teilnahme an diesem Spiel endete mit dem Bruch des rechten Unterarms nach einem Sturz aus 3 m Höhe. Das brachte mir  zwei Wochen Gipsverband ein und die Unmöglichkeit, Hausaufgaben oder Klassenarbeiten zu schreiben.



6. Hohensteingymnasium Zuffenhausen

          Ab 1956 war ich nicht mehr in der Neuwirtshausschule, sondern bereits im Progymnasium Stuttgart-Zuffenhausen (heute Hohensteinschule bzw. Robert-Bosch-Schule). Der Bus brachte mich bis zum Bahnhof Zuffenhausen. Dort überquerte bzw. unterquerte ich die Gleisanlagen in die Burgunderstraße. Nach wenigen Minuten erreichte ich dann das Z-förmige Schulgebäude. Vor dem Armbruch und auch wieder nach dessen Ausheilung bevorzugte ich bei gutem Wetter mein Fahrrad für den Schulweg. Von zuhause ging es durch den Witthauwald nach Stammheim zur Freihofstraße und zur Stammheimer Straße bis zur Bahnunterführung. Der Autoverkehr war noch sehr gering, als viel gefährlicher empfand ich die unangenehm nahen Schienen der Straßenbahn. Deshalb fuhr ich auch öfters über die Schwieberdinger Straße, am Porsche-Werk vorbei, und über die Zahn-Nopper-Straße kam ich wieder zur Bahnunterführung. Und das alles ohne Navi oder Smartphone!

          Nach der Schule wurden gerne und häufig die nahe gelegenen Wohn- und Grüngebiete für die Freizeitgestaltung mit den Klassenkameraden genutzt. Hausaufgaben machen konnte man später immer noch. Mit dabei war auch Ingbert Jaus, Sohn des Brotfabrikanten Jaus (Stammheimer Str. 41, heute Kletteranlage "rockerei"), gelegentlich auch sein Bruder Hartwig. Bei diesen Aktivitäten machten auch einige Mädchen aus unserer Klasse mit. Ich nahm sie als "anders" wahr, ohne zu 

 

wissen, was außer Frisuren und Kleidung anders sein sollte. Zu zweien der Mädchen fühlte ich mich dennoch seltsam hingezogen: Elfie Bechtle und Brigitte Hamann. Beide gefielen mir gut, ich machte ihnen schöne Augen, aber wahrscheinlich haben sie es gar nicht bemerkt. Sexualkunde in der Schule oder Aufklärung zuhause – Fehlanzeige. Der Biologieunterricht beschränkte sich auf Inhalte aus "Schmeil Pflanzenkunde" und "Schmeil Tierkunde". Wir sind ja immer noch in den verklemmten 1950er-Jahren! Reaktionäre Institutionen wie der Volkswartbund[1] sorgten mit dafür, dass die bigotte Einstellung zur Sexualität in der Adenauer-Ära bis in die 1960er Jahre erhalten blieb. Die ab 1962 erschienene Zeitschrift "pardon" trug schließlich durch ihre verschiedenen Aktionen mit dazu bei, dass solche unsäglichen Fortschrittsbremser bloßgestellt wurden und Veränderungen in Gang kamen.

          Doch zurück zu meinen Angehimmelten. Bei einem unserer Versteckspiele irgendwo im Zuffenhausener Grün ergab sich dann zufällig, dass ich zusammen mit Brigitte in ein Versteck unter einem großen Strauch hechtete. Dort lagen wir eng nebeneinander und warteten atemlos kichernd, bis das Spiel weiterging. Die Körperwärme und der Duft ihrer Haare gaben dann den Ausschlag: sie war die richtige! Nun ja, es war eben "puppy love".


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Volkswartbund



7. Der erste Auslandsurlaub

          In den Sommerferien 1957 stand unser erster Auslandsurlaub bevor – in Jugoslawien. Der Käfer war vollgepackt bis zum Dach, für mich blieb hinten links ein beengter Sitzplatz, auf dem ich in Rechtskurven mit dem rutschenden Gepäck zu kämpfen hatte. Die Strecke führte über die A8 über München nach Salzburg. Den größten Teil durch Österreich mussten wir auf Landstraßen zurücklegen, entsprechend zerschlagen waren wir, als wir irgendwo vor Villach übernachteten. Am nächsten Tag ging die anstrengende Fahrt weiter über Ljubljana und Rijeka bis zu unserem Urlaubsort Crikvenica. Schon der erste Eindruck war überwältigend. Blauer Himmel, Meer, Strand, gepflegte Blumenanlagen, Palmen, Hotelbauten aus der Zeit der Donaumonarchie.

          Es gab zwar keinen Sandstrand, dafür aber feinen Kies, eine hohe Rutschbahn im knietiefen Wasser, kleine hölzerne Inseln in Ufernähe. Ich konnte schon ganz gut schwimmen und war mit Flossen, Maske und Schnorchel unterwegs. Es wurde nie langweilig, jede Menge Kinder aus Deutschland und anderen Nationen schwärmten herum.

          Wir machten Schiffsausflüge zur Insel Krk, besuchten mit dem Käfer die Plitvicer Wasserfälle, das ehemals mondäne Seebad Opatija und das römische Amphitheater in Pula. Es war alles großartig und beeindruckend – bis zu jener schrecklichen Nacht, als meine Mutter eine heftige Gallenkolik bekam, vielleicht war es eine Reaktion auf die ungewohnte südliche Küche. Im Hotel war das Wasser abgestellt, es war auch niemand erreichbar, der hätte helfen können. Mein Vater entschied sich, den Urlaub sofort abzubrechen und schnellstens nach Hause zu fahren. Er wollte über Triest nach Villach, in der Hoffnung, dass es auf den italienischen Straßen schneller ginge. Wir kamen durch häufige Pausen nur langsam voran, und am Nachmittag waren wir erst in Koper angelangt. Dort standen wir auf dem Marktplatz und mein Vater suchte nach einem Hotel. Ein Mann in seinem Alter sah unser D-Schild und fragte in fließendem Deutsch, ob er helfen könne. Als er von unserem Problem erfuhr, bat er uns mitzukommen, seine Frau würde sich um meine Mutter kümmern. Was hätten wir in unserer Lage anderes tun können, als das Angebot anzunehmen? Es waren nur wenige Meter bis zu einer großen Wohnung in der 

Altstadt. Der Mann erklärte seiner Frau die Sachlage, sie legte den Arm um meine Mutter, führte sie in einen Raum mit einem Bett und eilte in die Küche. Dort braute sie wohl irgendeinen Wundertee, denn nach einigen Tassen davon ging es meiner Mutter schon viel besser. Das Ehepaar Karel und Dragica Miklavčič hatte einen Sohn namens Luči, etwas jünger als ich. Sie bestanden darauf, dass wir bei ihnen bleiben sollten, bis es meiner Mutter wieder gut ginge. Es lief darauf hinaus, dass sie nach weiteren Tassen des Tees am nächsten Morgen völlig wiederhergestellt war, und dass unsere Samariter jetzt darauf drängten, dass wir den Rest unseres Urlaubs bei und mit ihnen verbringen sollten. Es half alles nichts, sie ließen uns einfach nicht gehen.

          Dies war der Beginn einer jahrelangen Freundschaft mit gegenseitigen Besuchen und Urlaubsaufenthalten. Karel sprach ja perfekt Deutsch, auch Dragica konnte vieles verstehen, tat sich aber mit dem Sprechen schwer. Also verständigte sie sich mit einer lustigen Mischung aus Kroatisch, Italienisch, Deutsch und mit Gesten. Luči und ich kamen sowieso miteinander klar, ebenfalls mit einer Mischung aus Slowenisch und Deutsch. Ich werde niemals vergessen, unter welchen Umständen dieses Paar uns wildfremde Menschen - Ausländer und noch dazu Deutsche - mit einer selbstlosen Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft bei sich aufgenommen hatte. Wir erfuhren erst später, dass sie kurz zuvor die Nachricht erhalten hatten, dass ihr älterer Sohn nach einer Schiffsreise vermisst wurde. Dragica glaubte trotzdem immer fest daran, dass er aus Tito-Jugoslawien geflüchtet wäre, um in den USA zu leben.



8. Schulische Misserfolge und endgültiger Abschied

          Leider betrachtete ich damals die Schulzeit immer nur als eine unliebsame Unterbrechung der Freizeit. Das hatte in der Grundschule noch ganz gut funktioniert, aber nach dem Übergang zum Progymnasium wurden höhere Anforderungen gestellt und neue Fächer gelehrt. Sehr schnell zeigte sich, dass Abschreiben von Hausaufgaben beim Klassenkameraden (am Morgen vor Schulbeginn) keine Problemlösung war, sondern noch mehr Probleme erzeugte. Vor allem dann, wenn die Lehrerin mehrere identische Fehler bei zwei Schülern feststellte. Die Lerndefizite zeigten sich dann in den miserablen Noten der Klassenarbeiten, so dass meine bedauernswerte Klassenlehrerin, Frau Ratzmann, schon nach dem ersten Jahr im Zeugnis festhalten musste: "Wird nicht versetzt".

          Meine Eltern blieben trotz all dem Ärger weiterhin bemüht, mir eine gute Schulausbildung zu ermöglichen, sogar mit Nachhilfeunterricht in den schwächsten Fächern. So stolperte ich irgendwie durch die drei Jahre in Zuffenhausen, immer am Rande einer erneuten Nichtversetzung, welche mich dann wohl gezwungen hätte, die Schule zu verlassen. Neben den unterdurchschnittlichen Leistungen bei Klassenarbeiten fiel ich auch durch häufiges Stören des Unterrichts auf. Es hagelte Einträge ins Klassenbuch wegen nicht gemachter Hausaufgaben, Schwatzen, Schwänzen, Nichtverbessern von Schularbeiten, Nichterscheinen zum Arrest etc.

          Diese beachtliche Liste von Fehlverhalten kulminierte in einer spektakulären Aktion kurz vor Ende des Schuljahres 1958/59. Ein irgendwo gefundener Vierkantschlüssel hatte die passende Größe, um WC-Türen abzuschließen. Die Erlaubnis zu einem Toilettengang nutzte ich dann dafür, alle Toiletten in zwei Etagen von außen stillzulegen. Jemand sah mich bei dieser Aktion und kurz nachdem ich wieder an meinem Platz saß, marschierte der Schulleiter herein. Er sah mich an, streckte die Hand aus, und sagte nur: "Den Schlüssel her!" Ich hatte

verloren. Durch Konventsbeschluss brachte mir der hirnlose

 

Streich drei Stunden Karzer ein. So etwas gab es wirklich noch an dieser Schule. Er befand sich hinter dem Treppenturm oberhalb der Turnhalle (von der Straße aus gesehen der hintere Querbau). Er hatte kein Tageslicht, aber ein Fenster zur Turnhalle. Die Wände waren beschrieben mit mehr oder weniger geistreichen Sprüchen bis zurück in die 1930er-Jahre. Zum Zeitvertreib wurden mir einige Schulaufgaben mitgegeben, die ich lustlos, dafür aber fehlerbehaftet erledigte. Die Krönung der Schmach war jedoch, dass der Tag der Arreststrafe mit der Zeugnisausgabe zusammenfiel. Das Zeugnis wurde mir nicht ausgehändigt, sondern mein Vater durfte es nach meiner Strafzeit beim Hausmeister abholen. Diese Peinlichkeit hat er lange nicht verwunden.

          Im Rückblick erscheint mir mein Verhalten und das unbekümmerte Desinteresse an der Schulausbildung völlig unverständlich. Ich gebe auch niemandem die Schuld für meine desaströsen Leistungen in dieser Phase. Meinen Eltern nicht, den verschiedenen Lehrkräften nicht, es lag allein an mir, die Ergebnisse besser zu gestalten.

          Offensichtlich hätte ich mit diesem Sündenregister in der Hohensteinschule keine große Zukunft mehr gehabt. So traf es sich gut, dass die Lackfabrik Votteler für die technische Betreuung ihrer Kunden im Raum Odenwald – Spessart – Main/Tauber eine Außenstelle einrichten wollte. Dazu war noch ein kleines Auslieferungslager mit den gängigsten Lacktypen geplant, damit die Möbelhersteller und Schreinereien in der Region ihren Bedarf kurzfristig decken konnten, ohne sich selbst ein Lager anlegen zu müssen. Diese Außenstelle sollte mein Vater übernehmen, meine Mutter war für die kaufmännische Abwicklung zuständig. Dafür kaufte die Firma ein großes Wohnhaus mit einem riesigen Grundstück. Die Lacke wurden wegen Brandgefahr in einem separaten Bau eingelagert.

          Die Ära Kallenberg war damit im Jahr 1959 beendet. Wieder hieß es Abschied nehmen von allen und von allem. Diesmal verließen wir jedoch das Schwabenland für immer.



9. Fazit

          Seither sind 63 Jahre vergangen, aber die Erinnerungen an meine Kindheit in Ludwigsburg und Kallenberg sind immer noch sehr lebendig. Ich verbrachte zwar nur die ersten 14 Jahre meines Lebens dort, aber diese Zeit hat mich nachhaltig geprägt. Alle schwäbischen Tugenden (und Untugenden) habe ich mitgenommen, einschließlich Dialekt. Von meinen

 

 

Verwandten lebt leider niemand mehr, deshalb war ich seit Jahren nicht mehr in Ludwigsburg. Das ändert aber nichts  daran, dass ich mich mit meiner Geburtsstadt noch verbunden fühle. Dort, wo es die besten Brezeln der Welt gibt, dort, wo es zuhause den besten Sonntagsbraten "mid handgschaabde Schbäzzla ond warma Grombierasalad mid Aggrsalad gäba hodd." Ha no!

 


 

2022 Rolf Scheichenzuber

 

Ich bedanke mich bei Regina Boger (Lektorat)
für die Unterstützung bei
der Abfassung des Textes.
Danke auch an die hilfsbereiten
Mitarbeiter*innen
des Stadtarchivs Ludwigsburg für ihre Unterstützung
bei
der Recherche.

Impressionen aus einer "Ludwigsburger Kindheit" der Nachkriegsjahre