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Weiße Flecken        Weiße Flecken

Weiße Flecken

    Weiße Flecken                                           Weiße Flecken  


1

           Es war einer jener heißen Sommertage, die in den letzten Jahren so häufig geworden sind. Die heiße Luft stand in den Straßen, die Bäume hatten welke Blätter, auf den Steinen hätte man Spiegeleier braten können. Schon um 11 Uhr zeigte das Thermometer 30 Grad an. Ich hatte einen Termin mitten in der Stadt. Einem Schulleitungsteam sollte ich ein Konzept zur Leitbildentwicklung vorstellen. Keine Herausforderung für einen Profi. Die Herausforderung war die Hitze. Business-Kleidung ist bei einem Erstkontakt Pflicht, um Kompetenz, Professionalität und Seriosität auszustrahlen: Schwarzer Hosenanzug mit Nadelstreifen und weiße Bluse. Als einziges Zugeständnis an die Hitze hatte ich mir extravagante Sandaletten aus schwarzem Samtziegenleder mit Fesselriemen und lederbezogenen Blockabsätzen erlaubt. Natürlich mit einer Gummisohle. Ledersohlen machen müde Füße auf harten Böden.

           Ich war früh dran. Bei wichtigen Terminen plane ich einen großzügigen Zeitpuffer. Pünktlichkeit ist ein Erfolgsfaktor. Und ich würde erfolgreich sein, dessen war ich mir sicher. Noch genug Zeit, um in der Raucherecke des Schulhofs unter dem Schatten einer Kastanie eine Zigarette zu rauchen. Den Aschenbecher in der prallen Sonne ignorierte ich, bis ich die Zigarette ausdrücken musste. Als ich mich zum Gehen wandte, blieb der rechte Schuh am Boden kleben. Mit etwas Mühe hob ich ihn. Weiße Fäden verbanden die Sohle mit einem der weißgrauen Flecken. Auch der linke Schuh war mit weißlichen Fäden mit einem der zahllosen Flecken auf dem Boden verbunden. Auf dem Weg zum Schulhaus rieb ich die Sohlen auf dem Boden hin und her, aber die klebrige Masse ließ sich nicht abrubbeln. Bei jedem Schritt klebte der Schuh wieder am Boden. Auf der Treppe zog ich die Schuhe aus. Die dünnen Fäden hatten sich inzwischen auf der Lauffläche verteilt, ein Klumpen in der Mitte. Ich nahm ein Papiertaschentuch und versuchte das zähe Zeug von den Sohlen zu ziehen. Teile des Taschentuchs klebten fest. Als ich es abziehen wollte, legten sich weiße Fäden um den schwarzen Absatz. In der Schülerinnentoilette ließ ich Wasser über die Schuhsohlen laufen, in der Hoffnung, das Zeug würde fest und ich könnte es abziehen. Doch es hatte sich auf den Erhöhungen und Vertiefungen des leichten Profils so gut verteilt, dass ich Stunden gebraucht hätte, um es abzuziehen.

           Schweißperlen standen mir auf der Stirn. Als ich sie mit der Hand abwischte, blieb ein Kaugummifaden in meinen schwarzen Haaren hängen. An den Händen klebten Fäden und inzwischen auch an meinem schwarzen Jackett. Weiß der Teufel, wie sie da hinkommen konnten. Mein Zeitpuffer war aufgebraucht. Die Schulleitung warten zu lassen, wäre ein Zeichen von Unprofessionalität gewesen. Notgedrungen stieg ich die Treppen zum Rektorat hoch. Die weiße Bluse klebte am Körper, unter den Achseln zeigten sich Schweißflecken. Die Schuhe klebten bei jedem Tritt am Boden. Der Schulleiter begrüßte mich freundlich und führte mich zu dem Konferenztisch, an dem das Leitungsteam saß. Auf dem Teppichboden fiel mir das Gehen noch etwas schwerer als auf den Steinfliesen. Nach den üblichen Präliminarien, die kühler ausfielen als üblich, stellte ich mein Konzept anhand einer PowerPoint-Präsentation vor. Als ich den Stick mit der Präsentation in das Notebook des Schulleiters stecke, blieb die Hülle an meiner Hand hängen, auch hatte ich Mühe, meine Hände vom Laserpointer zu lösen. Mein Vortrag geriet nicht so überzeugend wie sonst, auch verhaspelte ich mich einige Male. Unruhig scharrte ich mit den Füßen, wenn ich spürte, dass meine Schuhe an den Fasern des Bodens kleben blieben. Die Verabschiedung fiel noch kühler aus als die Begrüßung. Zwischen der Türe und dem Konferenztisch sah ich eine weißgraue Spur von Kaugummifäden auf dem dunkelbraunen Teppichboden. „Sie hören von uns“, sagte der Schulleiter, als er mich zur Türe brachte.

           Ich weiß nicht mehr, wann mir die weißen und grauen Flecken rund um Bushaltestellen und auf den Gehwegen in der Innenstadt aufgefallen sind. Sie sahen aus wie die Spuren einer Schnitzeljagd, die man vergessen hatte zu beseitigen, nachdem man den Schatz gefunden hatte. So sind halt Kinder, hatte ich damals gedacht, leben ganz im Hier und Jetzt. Ich war schließlich auch mal ein Kind gewesen und nicht immer eine Freude für die Erwachsenen. So hatte ich diese Flecken hingenommen, wie ich den Verkehrslärm, die schlechte Luft und den Kaffeedunst hingenommen habe, der manchmal über Ludwigsburg hängt. Und mit der Zeit fielen sie mir nicht mehr auf.

           Jetzt fielen sie mir auf. Auf dem Weg zur S-Bahn lief ich Schlangenlinien, um den weißgrauen Flecken auf dem Boden auszuweichen. Die Passanten schauten mich an, als sei ich betrunken und wichen mir kopfschüttelnd aus.

          Zu Hause angekommen, zog ich meine Schuhe an der Haustüre aus, lief barfuß in die Wohnung und dachte nach. Keine zündende Idee stellte sich ein. Ich telefonierte so lange, bis ich einen brauchbaren Tipp bekommen hatte: Leg die Schuhe in das Eisfach. Dann wird der Kaugummi hart und du kannst ihn entfernen. Diesen Rat befolgte ich.

           Am nächsten Morgen holte ich die Schuhe aus dem Kühlschrank. Der Kaugummi war hart, das Leder auch. Mit einem Schraubenzieher kratzte ich zwei Stunden lang die vielen kleinen Partikel zwischen den Rillen des Profils ab. Doch es blieben Reste. Mit Universalreiniger bürstete ich die Sohlen in der Badewanne. Dem schwarzen Veloursleder tat die Behandlung nicht gut. Es sah aus, als wäre ich bei Hochwasser über eine Wiese gewatet. Ich stellte sie in den Flur und hoffte, sie würden mit der Zeit ihre alte Schönheit wieder erlangen. Nach drei Tagen warf ich sie in den Mülleimer.

           Von dem Schulleiter hörte ich nie wieder etwas.

2

           Mich wurmte, dass ich den Auftrag nicht bekommen hatte. Es waren diese verdammten Kaugummis, die diese obercoolen Schüler einfach ausspuckten und die lässigen Lehrer übergingen. Und ich musste nun die Folgen des nachlässigen Umgangs mit Sauberkeit und Ordnung tragen. Nun habe ich in meinem Beruf gelernt, nicht lange zu jammern und im Selbstmitleid stecken zu bleiben, sondern das Problem zu analysieren und dann zu einer Lösung zu kommen.

           Als Erstes machte ich eine Bestandsaufnahme. Ich streifte durch die Stadt, den Blick auf den Boden gerichtet.  

           Das Ergebnis: Geballte weiße Flecken am Bahnhof, an Bushaltestellen, Restaurants, Kneipen, Clubs und auf den Wegen vom Bahnhof und Bushaltestellen zu den Schulen. Mein Ziel: Ludwigsburg wird eine kaugummifreie Zone. Dieses Problem konnte ich nicht alleine lösen. Ich brauchte mächtige Verbündete, die meine Sicht der Dinge teilten. Es bot sich eine konservative Partei an, deren Werte Ruhe, Ordnung und Sauberkeit sind. Ansonsten neige ich nicht zum Konservatismus, aber in diesem Fall konnte mir keine andere Partei helfen. Bei den Mitgliedern stieß ich mit meiner Vision einer kaugummifreien Zone auf große Zustimmung. Wir stellten einen Antrag, den die Gemeinderatsfraktion meiner neuen Partei einbrachte. Wir forderten ein Kaugummiverbot in der Öffentlichkeit. Das Zuwiderhandeln sollte mit einem weit höheren Bußgeld als seither belegt werden. Wir argumentierten aus ästhetischer (passt nicht zum Stadtbild einer Barockstadt), touristischer (wirkt abstoßend auf Besucher/innen), ökonomischer (Entfernung der Placken mit einem Hochdruckreiniger kostet pro Quadratmeter 15 Euro und dauert 20 Minuten) und staatbürgerlicher (Verursacherprinzip) Sicht. Die Stadtverwaltung unterstützte im Gemeinderat unser Anliegen, verwies auf die hohen Reinigungskosten und das Bußgeld, welche Bürger zahlen müssten, wenn sie in flagranti erwischt würden. Allerdings würden so gut wie nie Kaugummi-Spucker erwischt. Mit einer knappen Mehrheit wurde unser Antrag im Gemeinderat abgelehnt. Unsere politischen Konkurrenten übergossen uns mit Hohn und Spott: Haben die denn keine andere Sorgen? Jetzt haben die Schwarzen endlich ein Thema gefunden, das ihrem politischen Niveau entspricht. Die wollen doch nur, dass alle den Mund halten. Damit wollen sie von den Skandalen in der Partei ablenken. Als nächstes beantragen sie, dass alle, die die Kehrwoche bis Samstag 16 Uhr nicht erledigt haben, an den Pranger gestellt werden. Die Lokalzeitung schrieb eine süffisante Glosse über die Kleingeistigkeit mancher Lokalpolitiker, deren Blick sich nicht über das Niveau der Bordsteinkante erhebe. Unsere Initiative wurde der Lächerlichkeit preisgegeben. Damit war klar, dass das Problem politisch nicht zu lösen war. Mein Stern in der Partei sank.

3

           Im Internet findet man ja beinahe alles. Also gab ich „Kaugummi Hasser“ in eine Suchmaschine ein, in der Hoffnung, Gleichgesinnte zu finden. Erfolglos. Es gibt ja Hundehasser, Autohasser, Frauenhasser, Rot-Grün-Hasser und so weiter, also musste es doch auch Kaugummihasser geben. Wenn es sie denn geben sollte, outen wollten sie sich jedenfalls nicht. Ich hatte es anscheinend mit einem Eisbergthema zu tun: viele sind gegen Kaugummis auf den Gehwegen, wollen sich aber nicht dazu äußern, um nicht als spießig zu gelten. Ich musste also unspezifischer suchen. Unter „Kaugummi“ fand ich einen Bericht über die Diplomarbeit eines Studenten der Visuellen Kommunikation, der auf nahezu 400 Seiten den Kommunen Vorschläge zur Vermeidung der Kaugummiflecken gemacht hatte: Plakate mit Appellen, den Kaugummi nicht auszuspucken, sondern in den Mülleimer zu werfen und Bußgeldandrohungen im Falle des Zuwiderhandelns (Frau mit Reitpeitsche). Dass diese Kampagne zum einen teuer und zum anderen wirkungslos verpuffen würde, war mir sofort klar. Auch die Kommentare zu der Diplomarbeit betrachtete ich als nicht realisierbar, wenn auch durchaus berechtigt. Ein Kommentator schlug vor, analog zum Dosenpfand ein Kaugummipfand einzuführen: 25 Cent für jeden Kaugummi. Ein anderer plädierte für das Verursacherprinzip: Jeder gebrauchte Kaugummi sollte beim Händler abgegeben werden. Ein Dritter empfahl eine Sozialtherapie für ehemalige Manger, die Steuern hinterzogen hatten: Sie sollten die Kaugummis mit den Fingernägeln von den Bürgersteigen kratzen.

           Ich suchte weiter, dieses Mal unter Kaugummi-Spucker. Dieses Stichwort führte mich zu der Webseite frag.mutti.de. Neben vielen Tipps zur Kaugummi-Entfernung aus Haaren und Pullis fand ich den Tipp eines Joggers, wie er der Fliegen Herr werden konnte, die ihm beim Joggen in den offenen Mund flogen: „Die einfachste und leckerste Lösung: Ich laufe nie mehr ohne Kaugummi, denn was rein will, lass rein ... knete es dazu, ausspucken und fertig.“

           Ich wertete meine Erfahrungen und Erkundigungen aus. Es gab keine Initiative, der ich mich anschließen wollte. Also musste ich selbst initiativ werden. In den siebziger und achtziger Jahren hatte ich einschlägige Erfahrungen in der Bürgerinitiative gegen Atomkraft gesammelt. Damals hatten wir Flugblätter an Infoständen verteilt, Transparente gemalt und zu Demonstrationen und Kundgebungen aufgerufen. Das war nicht mehr zeitgemäß. Heute gab es das Internet, um Menschen zu informieren und anzusprechen. Dazu brauchte ich eine Webseite. Der Partner einer Bekannten erstellte mir eine Webseite „Kaugummi-Spucker – nein danke“. Die 300 Euro, die ich dafür bezahlen musste, waren ein Freundschaftspreis. Wenn man etwas erreichen will, muss man investieren, diese Regel stellte ich nicht in Frage, auch wenn mein Anliegen ideeller Natur war.



4

           Nach drei Tagen schaute ich zum ersten Mal auf die Seite. Die Zahl der Interessenten hielt sich in Grenzen: Ein Querulant, der über alles schimpfte, was sich ihm bot, das Bier, das Wetter, die Frauen, die Politik. Nicht zu gebrauchen. Ich strich ihn auf meiner Liste. Eine Dame, die den alten Zeiten nachtrauerte, in der die Jugend noch Respekt vor dem Alter hatte. Zeiten, in denen Junge selbstverständlich Älteren einen Sitzplatz im Bus angeboten hatten und in denen noch Sitte und Anstand herrschten. Gestrichen. Zwei Männer in den Vierzigern, denen mein Motto „Klebt an den Sohlen und brennt unter den Nägeln“ gut gefiel. Sie wollten in Ludwigsburg einen Ableger der Pegida gründen: Plugida – Patrioten Ludwigsburgs gegen die Islamisierung des Abendlands. Was hat der Islam mit den Kaugummiflecken auf der Straße zu tun? wollte ich wissen. Das sei ein Symptom für den Untergang des Abendlands, meinten sie, zugegeben, eine Randerscheinung, dennoch wichtig. Ebenso der Bildungsplan der grün-roten Regierung, welcher dem Sittenverfall Tür und Tor öffne. Ihnen gehe die Hilfescheiße der grün-rot versifften Republik gewaltig auf den Sack. Die Asylanten seien doch alles getarnte Islamisten. Bald stehe neben der Stadtkirche ein Minarett. Siebzig Prozent der Asylbewerber seien Asylbetrüger, die das Sozialsystem Deutschlands ausnutzten. Gegen die müsse man was unternehmen. Sie seien Männer der Tat und wüssten, was zu tun sei. Gestrichen. Blieb noch Bruno, ehemaliger Zeitsoldat der Bundeswehr, der es bis zum Hauptfeldwebel gebracht hatte und nun nach neuen Aufgaben suchte, für die es sich zu kämpfen lohnte. Er war gegen alles Amerikanische, gegen Dreck und Unordnung. Dementsprechend erfüllten ihn die weißen, grauen und schwarzen Flecken auf den Gehwegen und Plätzen mit Abscheu.

            Mit ihm traf ich mich. Ein Ausbund an Unauffälligkeit, bis auf die Bügelfalten seiner Jeans. Ansonsten kurze graue Haare, kariertes Hemd, braune Lederjacke, mittelgroß, schlank, drahtig. Er schlug vor, in Eigeninitiative die festgeklebten Kaugummis zu entfernen. Man müsse mit gutem Beispiel vorangehen, den Kontrast zwischen sauber und dreckig zeigen. Als ein bei den Pionieren geschulter Soldat hatte er schon eine technische Lösung parat: Hochdruckreiniger – und er wusste auch, woher man sie bekommen konnte und wie man sie bedient.

           Zwei Wochen später hatte Bruno zwei Hochdruckreiniger und zwei Helme organisiert. Regenhosen, Gummistiefel, Schutzbrillen und Sicherheitswesten kauften wir im Baumarkt. Morgens um 6 begannen wir den Gehweg vor dem Schulgebäude zu reinigen. Als die Schülerströme kamen, hatten wir acht Quadratmeter geschafft. Der Gehweg glänzte in seiner reinen Asphaltpracht. Zufrieden machten wir Pause in einem Café in der Myliusstraße. Bruno tüftelte an Optimierungsmöglichkeiten, ich dachte über den Zusammenhang von Schönheit und Vandalismus nach. Je schöner ein Ort, desto weniger Vandalismus, lautete meine Hypothese. Um der Verschmutzung vorzubeugen, müssen wir die gesamte Stadt reinigen. Auf einen sauberen Gehweg wagt niemand einen Kaugummi zu spucken. Bruno brummte Unverständliches vor sich hin.

           Als wir zurückkamen, klebten auf unseren sauberen acht Quadratmetern drei Kaugummiplacken. Meine Hypothese von der Sogkraft der Schönheit war innerhalb einer Stunde widerlegt worden. Die Stadt sauber zu halten, würde eine Lebensaufgabe werden, der wir uns nicht widmen wollten.  Wir mussten also unsere Strategie ändern. „Goethe“, sagte Bruno, als wir in meinem Wohnzimmer saßen. Ich schaute ihn verständnislos an. „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“ fuhr er fort, „die Spucker brauchen sofort eine Reaktion auf ihr Verhalten. Wir müssen sie auf frischer Tat ertappen und …“ – „Und dann?“ unterbrach ich ihn, „eins auf die Mütze geben? Wir sind nicht im Krieg, Herr Hauptfeldwebel. Kaugummi ausspucken ist eine Ordnungswidrigkeit, kein Angriff einer feindlichen Macht.“ – „Ich rede von einem Bußgeld.  Wer einen Kaugummi auf die Straße spuckt, muss ein Bußgeld bezahlen!“ trumpfte Bruno auf. „Sinnlos!“, entgegnete ich, „erstens gibt es das Bußgeld schon und zweitens: wer will das nachweisen?“ – „Wir“, grinste Bruno.

5

           Bruno verfügte natürlich wieder über die nötige technische Ausrüstung. An meinem nächsten freien Tag standen wir früh am Morgen in der Alleenstraße und beobachteten den Schülerstrom. Ich hatte mich bemüht, möglichst unauffällig auszusehen. Eine beige Hose, ein beiger Trenchcoat, eine blonde Perücke mit halblangem Haar. Eine dunkel getönte Brille verdeckte meine Augen. Ich hätte mich fast selbst nicht erkannt, als ich in den Spiegel blickte. Bruno musste sich nicht verkleiden, er sah unauffällig genug aus.

           Als ein älterer Herr seinen Kaugummi ausspuckte, stürzte ich auf ihn zu: „Sie haben gerade einen Kaugummi auf die Straße gespuckt. Ist Ihnen bewusst, dass ein Teil des Kaugummis, den Sie eben ausgespuckt haben, an den Schuhsohlen eines Mitbürgers kleben und den Fußboden in dessen Wohnung oder an seinem Arbeitsplatz verschmutzen wird? Wissen Sie, dass eben dieser Kaugummi, fünf Jahre lang hier kleben bleibt und den Gehweg verdreckt? Ist Ihnen weiterhin bewusst, dass die Reinigung eines Quadratmeters des Bodens mit Kaugummiflecken 15 Euro kostet? Und diese Kosten vom Steuerzahler getragen werden müssen?“ – „Das war ich nicht“, stotterte er und zog den Kopf ein. „Ich habe gesehen, wie Sie den Kaugummi ausgespuckt haben!“ Bruno spielte ihm seine Videoaufzeichnung vor. „Die Stadt Ludwigsburg verhängt für diese Ordnungswidrigkeit ein Bußgeld von
25 Euro! Der Herr drückte mir hastig 25 Euro in die Hand und verschwand. Die anderen Spucker waren nicht so einsichtig. Sobald ich einen erwischt hatte, hielt ich meinen Vortrag. Ein kurzer Blick: „Haben Sie ein Problem?“ Oder: „Wir leben in einem freien Land und ich kann meinen Kaugummi ausspucken, wo ich will!“ Oder: „Dann werden meine Steuern ja mal sinnvoll verwendet“ waren die gängigen Reaktionen. Die Spucker waren so schnell verschwunden, dass Bruno seine Videoaufzeichnungen nicht anbringen konnte.

           Einer allerdings blieb stehen, nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte. Als ihm Bruno seine Videoaufzeichnung unter die Nase hielt, fragte er: „Sind Sie von der Polizei?“ –„Nein“, gab Bruno zu. „In wessen Auftrag handeln Sie dann?“ wollte er wissen. „Im Auftrag der Stadtbewohner, die eine saubere Stadt wollen“, gab ich zurück. „In Ihrem eigenen Auftrag also“, stellte er fest.

Der Junge, bestimmt noch keine 18, hatte es offenbar faustdick hinter den Ohren. Aber es kam noch dicker. „Löschen Sie die Videoaufzeichnung“, verlangte er. –„Moment, die brauchen wir als Beweismittel, dass Sie auf Ihren Kaugummi auf den Boden gespuckt und damit eine Ordnungswidrigkeit begangen haben“, trumpfte ich auf. „Sie handeln weder im Auftrag der Stadt noch im Auftrag der Polizei, also haben Sie kein Recht, Videoaufzeichnungen zu machen. Sie verstoßen gegen das Recht auf informationelle Selbstbestim-mung!“ – „Gegen was?“, griff Bruno ein. – „Gegen das Recht auf informatio-nelle Selbstbestimmung. Das ist das Recht des Einzelnen, über seine Personen bezogenen Daten zu bestimmen!“ – „Gut, Fabian“, griff eine Dame ein, „du hast im Unterricht gut aufgepasst, „erklär doch dieser Bürgerwehr, gegen welches Grundrecht sie gerade verstößt!“ Der Junge wandte sich mit einem unerträglich belehrenden Ton wieder uns zu.“ Es handelt sich um ein Datenschutzrecht, das im Grundgesetz nicht extra erwähnt wird, sich aber aus Artikel 2, dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, ableitet. Außerdem aus der Europäischen Menschenrechtskonvention § 8, Absatz 1 ….“ Bruno löschte die Aufzeichnung, während der Junge seine Rechtskenntnisse zum Besten gab. „Danke, das genügt. Sie haben Recht. Wir hatten mehr das Recht der Bürgerschaft auf eine saubere Stadt im Blick als die Datenschutzbestimmungen. Einen schönen Tag noch!“ wiegelte ich ab. Der Schüler zeigte grinsend auf seinen ausgespuckten Kaugummi und stolzierte mit seiner Lehrerin triumphierend zum Schulhof.

 

6

           Bruno lud mich zum Weißwurstfrühstück ein. In dem Maße, wie sich mein Magen füllte, beruhigte sich mein Gemüt. Das Bier tat ein Übriges. Wir zogen Bilanz: Die Selbsthilfe-Reinigungsaktion hatte nichts bewirkt, die Androhung eines Bußgeldes auch nicht. Ich begann wieder strategisch zu denken. „Man muss den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen“, verkündete ich. – „An dir ist eine Soldatin verloren gegangen.“ Bruno grinste. Schon die zweite Niederlage durch die Rotzlöffel dieser Schule. Scheitern ist nicht meine Stärke. „Wenn die Lehrer die Schüler beschützen, wenn diese eine Ordnungswidrigkeit begehen, dann sollen sie die Konsequenzen am eigenen Leib spüren! Dieses Lehrerpack wird mich noch kennen lernen!“ Bruno war interessiert.

           Die nächsten Tage verbrachten wir damit, bei jeder Gelegenheit Kaugummis zu kauen: vor dem Essen und nach dem Essen, beim Staubsaugen, Einkaufen, Autofahren, Lesen, Schreiben, Unterhalten und Rasenmähen. Danach spuckten wir sie in eine Dose. Wir warteten einen heißen Tag ab. In eine Kühltasche legten wir Kühlelemente, die wir nicht ins Eisfach, sondern in heißes Wasser gelegt hatten. Darauf betteten wir unsere Kaugummidosen, darüber wieder die heißen Elemente. Zu Brunos Ausrüstung gehörte ein Paar Einmal-Handschuhe, eine Tarnung war nicht nötig. Ich zog graue Freizeitkleidung an und besprühte meine Haare mit grauem Spray. Nun war ich die graueste Maus von Ludwigsburg. Eine große Sonnenbrille verdeckte meine Augen. Wir setzten uns in den türkischen Imbiss gegenüber der Schule und warteten die große Pause ab. Nachdem die letzten Raucher in das Schulhaus getrottet waren, wartete Bruno noch ein paar Minuten, dann zog er die Handschuhe über und machte sich auf den Weg. Die erste Reihe gut gekauter Kaugummis klebte er an den Eingang des Schulhofs, die zweite auf die Treppe, die dritte vor das Lehrerzimmer, die vierte vor das Sekretariat, die fünfte vor die Toilette für Lehrer und die sechste vor die für Lehrerinnen.

          Dann warteten wir wieder, diesmal im Innenraum des Imbisses. Durch die Scheiben beobachteten wir, wie nach Schulschluss einige Schüler und Lehrer ihre Schuhsohlen auf dem Boden hin und her rieben. Wir schauten zufrieden zu. Einige Lehrkräfte kehrten in das Schulgebäude zurück. Nach kurzer Zeit kamen sie mit dem Leitungsteam aus der Türe und gingen mit gesenkten Köpfen durch den Schulhof. Danach standen sie eine Weile zusammen. Der Schulleiter hatte einen roten Kopf und fuchtelte mit den Armen. Das freute mich besonders.

           Wir beschlossen, vorerst nichts mehr zu unternehmen, sondern uns aufs Beobachten zu beschränken. Bruno bezog morgens seinen Posten im Imbiss gegenüber der Schule. In den ersten Tagen konnte er nichts Auffälliges erkennen. Nach einer Woche rief er mich an: „Auf dem Schulhof stehen Schüler mit einer gelben Binde am Arm. Wenn sie einen Schüler erwischen, der seinen Kaugummi ausspuckt, zwingen sie ihn, diesen aufzuheben und in den Abfalleimer zu werfen! Danach kommen die Lehrer, die Pausenaufsicht machen, dazu und reden auf die Sünder ein!“ – „Kannst du das fotografieren?“ bat ich ihn.

7

          Diese Fotoserie hing einige Wochen in meinem Wohnzimmer. Sie brachte mich auf eine neue Idee. Warum nicht das Hässliche in etwas Schönes verwandeln? Bruno hatte keine Lust auf eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Wir hätten ja unser Ziel erreicht. Außerdem verstehe er nichts von Kunst. „Feigheit vor dem Feind“, sagte ich. Um zwei Uhr nachts zog ich allein los, in jeder Jackentasche eine Spraydose.

          Am nächsten Morgen schlenderten wir mit Einkaufstaschen von der Rathaustiefgarage zum Marktplatz. Vor der Bushaltestelle am Rathaus bildeten sich Menschentrauben. Um die vielen Kaugummiflecken waren gelbe Kringel gesprüht. Ich heuchelte Überraschung. Wir setzten uns in das Eiscafé an der Ecke und beobachteten das Geschehen. Als sich Journalisten mit Kameras zeigten, mischten wir uns unter die erstaunte Bevölkerung. Bruno ließ sich interviewen. „Eine gute Idee“, sagte er, „hier macht jemand auf konstruktive Weise auf ein Problem aufmerksam!“ Unter den Passanten entwickelten sich lebhafte Gespräche.

          Wir setzten uns ins BarOn am Marktplatz. „Bruno, du bist ein feiner Kerl. Schade, dass ich dich nicht vor dreißig Jahren kennen gelernt habe!“ Ich legte meine Hand auf seinen Arm. „Sei froh“, brummte er und starrte in die Ludwigsburger Zeitung. Seine Mundwinkel zogen sich in Richtung Ohren. Das entging mir nicht.

          „Hier steht“, er hob den Kopf, „im Meer sammelt sich Plastikmüll in ungeahnten Ausmaßen, die Meerestiere verenden daran elend. Dagegen müsste man etwas tun.“ Er wandte sich mir zu. „Meinst du?“, fragte ich. „Ja, meine ich. Ich hätte da auch eine Idee!“


 

          Die Geschichte ist frei erfunden. Eine
Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig.

 

Regina Boger 2016