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Die Tälesbanditen

Kriegskind

1943. Werner im Garten in der Schorndorfer Straße. Bild mit Schussloch einer Gewehrkugel. Dieses Bild von mir und andere Bilder hatte mein Vater in seiner Brusttasche, als die Kugel sein Leben beendete. Diese ging durch die Brieftasche, durch die Bilder und blieb im Herzen stecken.

 

          Mein Vater ist am 20. Dezember 1944 „für Führer, Volk und Vaterland gefallen“, genau am Tag meines vierten Geburtstags.  Meine Mutter musste nun mit zwei Jungs, mit mir und meinem eineinhalb Jahre jüngeren Bruder Peter, über die Runden kommen. Nach dem Tod meines Vaters zogen wir aus finanziellen Gründen in die Schützenstraße in ein Gebäude am Ende des Fabrikhofes der Firma Schüle, die heute noch existiert.

            Dort mussten wir die Schrecken des Krieges erleben. Die Auswirkungen haben sich in meinem Kopf als ein Trauma verewigt. Der Luftschutzraum für uns befand sich unter dem Wohnhausturm der Firma, dieser war ca. 150 Meter von unserer Wohnung entfernt. Wenn nun Fliegeralarm war und die Bomber schon über der Stadt flogen, mussten wir über den Hof in den Keller laufen. Dabei hatten wir die Propellergeräusche schon im Ohr und die Angst heftete sich in unser Gedächtnis. Noch heute, über 70 Jahre später, überkommt mich ein beklemmendes Gefühl, wenn ich das Geräusch einer hochfliegenden Propellermaschine höre.

 

Schulzeit

           Nach dem Tod meines Vaters musste meine Mutter einen weiteren Schicksalsschlag ertragen. Im März 1947 verunglückte mein Bruder im Alter von fünf Jahren tödlich.

           Meine Einschulung erfolgte in der Feuerseeschule (heute Friedrich-Schiller-Gymnasium) im Herbst 1947. Später besuchte ich bis zum Abschluss der Volksschule in der achten Klasse die Anton-Bruckner-Schule in der Wilhelmstraße 1. Dort in der ehemaligen Kanzleikaserne ist heute die Finanzverwaltung der Stadt Ludwigsburg untergebracht.

1947. Werner Hillenbrand im ersten Schuljahr
an der Feuerseeschule. Heute ist in diesem Gebäude das
Friedrich-Schiller-Gymnasium untergebracht.


          Etwa zur gleichen Zeit zog meine Mutter mit mir in die Planckstraße. Da mein Schulweg immer durch den damals noch offenen Schlosspark ging, war im Winter die Versuchung stets groß, das Eis auf den drei Seen – dem See vor der Südfront des Schlosses, dem Schüsselesee und dem Emichsburgsee – auf die Haltbarkeit zu testen. Den See auf der Planie gab es damals noch nicht. Das Ergebnis war, dass ich schon in allen Seen eingebrochen bin. Da diese sehr flach waren, bestand keine akute Lebensgefahr. Dann eilte ich schnell nach Hause, um die Kleider über dem Herd zu trocknen, bevor meine Mutter von der Arbeit kam. Da die Trocknung der Schuhe zu langsam ging, wurden diese in den Backofen gesteckt. Der sich daraus entwickelnde Geruch war dann aber für meine Mutter ein eindeutiger Beweis meiner Untaten.
 

1955. Die Achtklässler mit ihrem Lehrer
an der Anton-Bruckner-Schule

 

Der Saumarkt

          Am 1. Mai 1949 bezogen nun meine Mutter und ich die Wohnung in der Holzmarktstraße 3 neben der Marstallkaserne und dem als "Saumarkt"

1955. Der Saumarktplatz
Ehemals Paradies der Kinder, musste die Fläche dem Marstall-Center weichen.

 

bezeichneten Spielplatz, der mit Kastanien bepflanzt war. Diesen Platz gibt es heute nicht mehr. Er musste dem Marstall-Center  weichen. Der Spielplatz „Saumarkt“ war dann das Revier, in dem ich und meine Schulkameraden, soweit diese im Bereich der Marstallkaserne, der Bietigheimer-, Kronen-, Holzmarktstraße und des Holzmarkts lebten, unsere Jugend verbrachten. In dem Sandkasten, der selten mit frischem Sand gefüllt wurde, war das Sandburgenbauen eines der wichtigsten Spiele, die dann zu Kugelbahnen ausgebaut wurden. Im Frühherbst, wenn die Kastanien auf dem Platz die ersten Früchte hervorbrachten, waren die mit der korrektesten Kugelform, nachdem wir die kleinen Stacheln entfernt hatten, Ersatz für die mangels finanzieller Mittel nicht vorhandenen Murmeln. Später leisteten wir uns die ersten käuflich günstig zu erwerbenden Murmeln aus Ton, bis dann mit zunehmenden finanziellen Möglichkeiten Glaskugeln ins Spiel kamen. Auf dem Platz und den umliegenden Straßen war es damals mangels Autoverkehr noch möglich, z.B. auf der Kronenstraße Völkerball zu spielen oder um das Quadrat Fahrradrennen zu veranstalten.

 

Die Tälesbanditen

           Unser Revier lag im oberen Bereich der unteren Stadt. Die Jungs, die in der Holzmarkt-, Kronen- und Bietigheimer Straße lebten, zählten sich daher nicht unmittelbar zu den damals in der unteren Stadt lebenden Menschen, die als „Tälesbanditen“ bezeichnet wurden. Die Tälesbanditen waren die Jungs, die im Bereich der unteren Stadt, besonders in der Lochkaserne (Talkaserne) wohnten. Diese Kaserne, die heute nicht mehr besteht, war nach Auszug der Soldaten 1918 zu Sozialwohnungen umgebaut worden. Es waren die Kinder von sogenannten „sozialschwachen“ Familien, die in der Talkaserne untergebracht waren, in der Regel Familien mit vielen Kindern und einem geringen Einkommen, denn die Wohnungen mit wenig Komfort waren preisgünstig.

            In der Natur der Sache liegend, waren die familiären Verhältnisse nicht die besten. Die ständige Sorge um die Ernährung der hungrigen Mäuler und die Diskriminierung durch die bürgerliche Gesellschaft, welche die Bewohner der Talkaserne als „Asoziale“  beschimpften, führte zu einer gewissen Härte unter den Betroffenen und zur Verrohung der Sitten. Auf Grund der schweren finanziellen und familiären Probleme, der Ausgrenzung und Verachtung, entwickelten sich Aggressionen gegen alle, die sich in einer komfortableren Lage befanden als sie es waren. Die bürgerliche Gesellschaft, damit aus ihrer Sicht alle, die nicht „hier unten“ lebten, waren ihre natürlichen Feinde.

            So war es ratsam für alle, die nicht in der unteren Stadt wohnten, nicht alleine durch diesen Stadtteil zu gehen. So konnte es passieren, dass Jungs und junge Männer, die sich auf dem Weg durch die untere Stadt befanden, beispielsweise von einem kleinem Jungen durch einen Fußtritt an das Bein provoziert wurden. Wenn der Provozierte reagierte und dem Kind für die Frechheit eine Tracht Prügel androhte, standen plötzlich die drei älteren Brüder da und drohten dem Provozierten ebenfalls heftige Prügel an. Es war schon ein großes und leider auch ein seltenes Glück, nur mit ein paar Schubsern aus der Sache herauszukommen. In den meisten Fällen gab es eine Tracht Prügel.

            Im Gegensatz zu heute gab es diese Verrohung überwiegend nur bei Männern. Frauen wurden, was körperliche Gewalt betraf, wenig belästigt. Trotzdem war der Weg durch die untere Stadt auch für Frauen nicht ratsam, da sie eventuell sexuellen Belästigungen ausgesetzt waren.

 

Gegen US-Soldaten

            Das aggressive Verhalten, meistens unter Alkoholeinfluss, richtete sich auch gegen US-Soldaten oder gegen die Besucher der im oberen Bereich der Bietigheimer Straße oder am Holzmarkt befindlichen zwielichtigen Lokalitäten. So war es üblich, Soldaten oder Besucher aus dem ländlichen Umland zu provozieren und körperlich zu attackieren. Die historische Gaststätte „Zum roten Ochsen“ am Holzmarkt, die heute leider nicht mehr existiert, war Treffpunkt für US-Soldaten und damit ein rotes Tuch für bestimmte Brüder der unteren Stadt. Für diese Brüder, drei an der Zahl von kräftiger Statur, war es scheinbar eine Genugtuung, von Zeit zu Zeit die Gaststätte zu stürmen und die Soldaten aufzufordern das Lokal sofort zu verlassen.  Wenn das nicht erfolgte, wurde „zwangsgeräumt“. Dabei kam es auch vor, dass der eine oder andere Soldat aus dem Fenster des im Hochparterre gelegenen Restaurants flog.

           Die US-Soldaten waren aber auch unsere „Sponsoren“. In Ermangelung finanzieller Mittel für den Kauf von Zigaretten haben wir Jungs für unsere Väter „Kippen“ gesammelt, aus deren Tabakresten dann Zigaretten gedreht wurden. Da meine Mutter wieder geheiratet hatte, habe auch ich für meinen Stiefvater gesammelt. Um besonders erfolgreich zu sein, „verfolgten“ wir rauchende GI's, um sofort die weggeworfene Kippe zu erwischen. Wenn Soldaten uns bemerkten, kam es vor, dass die kurz zuvor angezündete Zigarette weggeworfen und wir somit gesponsert wurden. Auch wenn die Soldaten darüber lachten und das für uns demütigend und peinlich war, der Zweck heiligte die Mittel.

 

Gegen Flüchtlinge

            Wir, die wir im oberen Bereich der unteren Stadt lebten, gehörten nicht unmittelbar zu den „Tälesbanditen“, zählten aber nicht zwangsläufig zur Zielgruppe für Aggressionen. Im Gegenteil, wenn es gegen andere Gruppen ging, waren wir Verbündete. Eine der Zielgruppen waren auch die Flüchtlinge aus dem Osten, die in der Wilhelmskaserne (heute WilhelmGalerie) untergebracht waren. Wie heute gab es Vorbehalte gegen die Fremden, denen – ähnlich wie heute – unterstellt wurde, dass sie „absahnen“ und die einfachen Leute, besonders die in der Lochkaserne lebenden, benachteiligt würden. Dieser Eindruck zeigte sich in einem gängigen Witz der damaligen Zeit: „Hast du gehört, die Neckarbrücke ist zusammengebrochen! Warum? Da ist ein Flüchtling mit seinem Lastenausgleich darüber gegangen.“ (Der Lastenausgleich war die Entschädigung für verlorenen Besitz in der ursprünglichen Heimat.)

            Aus diesen Vorurteilen heraus, gepaart mit einer aggressiven und überschüssigen Kraft, entwickelten sich ab und zu direkte Angriffe auf die Bewohner in der Wilhelmskaserne. Mitten im Sommer, mit „Kriegsbemalung“ und ausgerüstet mit Pfeil und Bogen, Wurf- und Schleudergeräten, zogen die Tälesbanditen los, um die Kaserne zu stürmen. Die Bewohner verhinderten den Zugang durch die Kasernentore mit Wasser und Steinen, die aus den Stockwerken darüber auf die Angreifer geschüttet, bzw. geworfen wurden, bis die Polizei anrückte. Der Sturm der Kaserne war vermutlich nie das Ziel, es ging nur darum, gegenüber den Flüchtlingen Ablehnung zu demonstrieren. Wir waren dann selbstverständlich auf der Seite der Tälesbanditen, weniger aus Sympathie für die Talbewohner, sondern weil auch wir damals Flüchtlinge als unsere Gegner sahen. Diese Haltung gilt heute für mich nicht mehr!

          Aber auch wir waren nicht sicher, da wir aus der Sicht der Talbewohner nicht zu ihnen zählten. Dennoch gab es unter normalen Bedingungen auch gewisse freundschaftliche Beziehungen. So bezeichnete Günter, ein Junge der unteren Stadt und ungefähr in meinem Alter, mich als seinen Freund, was, so lange er nüchtern war, unbestritten war. Da konnten wir uns aufeinander verlassen. Wehe dem er hatte getrunken, dann war es ratsam, sich von ihm fern zu halten. Dann konnte er auch mal einem Kontrahenten die Wange mit einer abgebrochen Bierflasche aufschlitzen. Seine durch Alkoholkonsum  ausbrechende Rücksichtslosigkeit führte dann auch zu Aggressivität mir gegenüber. Dann drohte er, auch mir Prügel zu verpassen. Es erforderte von meiner Seite ein durch jahrelange Erfahrung gesammeltes Geschick, in diesem Zustand mit ihm umzugehen.



aufgeschrieben von
Werner Hillenbrand, geb. am 20. Dezember 1940 in Ludwigsburg
Eltern: Margarete Krebs verw. Hillenbrand geb. Becker und Peter Hillenbrand
Wohnung bei Geburt: Leonberger Straße 38 im 2. Stock

 

Titelbild: links Gaststätte "Zum Kronprinzen",
rechts Gaststätten "Metropol" und "Zum Kronprinzen"
Lektorat Hedi Seibt