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Jugendgeschichten

 

 

Die Pfirsichernte.

 

          Es war Herbst im Jahr 1953 und Drachenzeit. Wie jedes Jahr brauchten wir zwei entsprechend zugeschnittene Holzleisten, stabiles, möglichst leichtes Papier und viel dünne Schnur. Das zu beschaffen, war auch oft das größte Problem. Aber dann, wenn alles besorgt war, waren wir auch schon am Drachen

bauen. Drachen gab es zwar auch schon zum Kaufen, aber erstens waren sie zu teuer und zweitens war das Wichtigste, den Drachen selbst zu bauen und auszubalancieren. Leisten zu einem Kreuz gebunden, Schnurbespannung außen herum und dann mit Papier bespannt, das war der erste Teil. Die Waage aus Schnur auszurichten, war eine schwierige Angelegenheit, da sonst der Drachen nicht aufstieg oder sich überschlug und so heftig auf dem Boden aufschlug, dass die ganze Pracht und die Mühe im Eimer waren. Das letzte, aber ebenso wichtiges Teil, war der Schwanz des Drachens. Er war der ganze Stolz des Erbauers. Er musste bunt und so lang als möglich sein. Aber auch nicht wieder so lang, dass er zu schwer wurde und deshalb die Höhenflugeigenschaft des Drachens stark einschränkte. Waren der Drachen selbst und der Schwanz  sehr schwer, war das Fliegen bei starkem Wind kein Problem, allerdings konnte die Schnur, an der der Drachen aufgelassen wurde, reißen. Die Schnur durfte aber wegen des Eigengewichtes auch nicht zu dick sein. War sie aber zu dünn, kam es nicht selten vor, dass der Drachen erst wunderbar im Wind stand und plötzlich war die Schnur gerissen und der Drachen weg.

 

          So geschah es eines Tages, als Roland, ein Schulkamerad von mir, und ich unsere  Drachen steigen ließen. Es gab nicht zu viele Stellen in Ludwigsburg ohne Häuser und ohne Hochspannungsleitungen und genügend Fläche, um Drachen mit Schnüren bis zu 300 Metern steigen lassen zu können. Eine gute Stelle, heute fast schon zugebaut, war zwischen der Reichertshalde und Hoheneck. Das einzige, was etwas störte, waren kleine eingezäunte Gärten, alles andere war Acker oder Wiese.

 

          Wie schon so oft, der Drachen stand schön im Wind und die Schnur riss. Er pendelte nach unten und vom Wind weitergetrieben, landete er weitab in einem dieser kleinen Gärten, genau auf einem Pfirsichbaum. Es war klar, ein Hindernis war der Gartenzaun in keinem Fall. Und schon standen wir vor dem Pfirsichbaum, dessen schöne reife Pfirsiche uns lockten. Der Baum war nicht besonders groß, so war es ein leichtes,  den Drachen zu holen.

 

          Die Pfirsiche aber waren auch leicht zu pflücken. Kurzer Kampf mit der Moral. Die Moral unterlag, und kurze Zeit später war der Pfirsichbaum bis auf den letzten Pfirsich abgeerntet. Erst Jahre später kam mir die Frage in den Sinn, wie „freudig" überrascht wohl die Eigentümer waren, als sie dann eventuell am Wochenende kamen, um zu ernten. C'est la vie. Brecht hatte recht: Erst kommt das Fressen und dann die Moral.

 

Schreck im Autobus

 

          Einer meiner Kollegen, der mit mir eine Ausbildung bei der Firma Burr (LUMAG) in Ludwigsburg machte, wurde „Blechle" genannt. Ich habe keine Ahnung, wie er zu diesem Namen gekommen war.

 

           „Blechle“ war ein sehr lustiger und immer zu Späßen aufgelegter Junge. Er wohnte in Oßweil, und hatte auch viel Kontakt zu amerikanischen Besatzungssoldaten, die in der Flakkaserne stationiert waren. Dies hat sicher auch sein Verhalten mitgeprägt. Seine Lieblingskneipe war das Weinhaus Kurz in Ossweil, das sich unmittelbar hinter der Flakkaserne an der Neckarweihinger Straße befand. Die Kundschaft waren fast ausschließlich amerikanische Soldaten. Das wichtigste neben dem Bier und der Musikbox waren die Bedienungen, die nicht nur Getränke servierten, sondern  auch sehr zugänglich waren, wenn es um die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ging.

 

Einer seiner nicht ungefährlichen Späße war, die MP (Military Police) der US-Soldaten zu veräppeln. Das Lokal hatte zwei Eingänge. Einen offiziellen und einen im Biergarten. Wenn die MP auftauchte, kam es manchmal vor, dass Soldaten, die vermutlich keinen Ausgang hatten, sehr schnell über den Biergarten verschwanden. „Blechle“ machte sich daraus einmal einen Spaß. Es muss so um 1957 gewesen sein. Als die MP wieder einmal auftauchte, sprang er auf und rannte los. Die MPs, in der Annahme, es handele sich um einen Soldaten, verfolgten ihn. Als er sich umdrehte und in reinstem Schwäbisch fragte: „Was wollt ihr eigentlich von mir?“ überraschte er die zwei MPs, die  erstaunt erstarrten, und erst als „Blechle“ wieder im reinsten Schwäbisch ergänzte: „Kann man hier nicht einmal in den Garten gehen?“  feststellten, dass ein Deutscher sie auf den Arm genommen hatte. Es war mir unklar ob „Blechle“ sich bewusst war, dass sein Verhalten nicht ungefährlich war, denn die MPs fragten häufig nicht lange, sondern schlugen oft sofort zu. Auch in diesem Fall hätte er trotzdem Prügel beziehen können. Aber er hatte anscheinend Glück, dass die MP-Soldaten den Spaß akzeptierten.

 

          Über diesen Kollegen waren wir, mein Freund Günter und ich, zu Stammkunden des Weinhauses geworden. Manchmal waren auch andere Freunde dabei. So an einem schönen Tag, als meine Freunde und ich wieder einmal das Weinhaus Kurz besuchten. Angetrunken marschierten wir vom Weinhaus in Richtung Innenstadt. Auf dem Weg dahin kamen wir auch bei der Wohnung meines Freundes Günter vorbei, der in der Fuchshofstraße wohnte. In Kenntnis, dass seine alleinerziehende Mutter Nachtschicht hatte, lud er uns zu einem Drink ein. So trampelten spät am Abend fünf Freunde, darunter auch „Blechle“, die Holztreppen in den dritten Stock hoch, was nicht ohne eine gewisse Lärmbelästigung abging.

 

          Besonders der Wodka, das Lieblingsgetränk von Günter, wurde von den „Gästen“ bis auf den letzten Tropfen vernichtet. Selbst Pitralon, ein damals sehr bekanntes Rasierwasser, musste daran glauben. Auch die Nahrungsmittel im Kühlschrank wurden bis auf den letzten Rest vertilgt. Wir Gäste verursachten bei unserem Aufenthalt nicht nur Lärm, sondern auch eine große Unordnung. Die meisten waren Raucher und damit war bald der Aschenbecher voll. Einer machte sich den Spaß, in den Aschenbecher zu blasen, was eine große Heiterkeit, aber auch eine gewaltige Sauerei auslöste.

          Dann trampelten alle wieder die Holztreppen hinunter und Günter war allein in dem Chaos. Als seine Mutter nach Hause kam, musste er eine gewaltige

 

 

Werner Hillenbrand  

 

geboren am 20. Dezember 1940 in Ludwigsburg

 

Eltern: Margarete Krebs verw. Hillenbrand, geb. Becker und Peter Hillenbrand

 

Wohnung bei Geburt: Leonberger Straße 38 im zweiten Stock

 

 

 

Lektorat: Hedwig Seibt, Regina Boger

 

Schimpfkanonade ertragen. Besonders, da sich auch die Hausbewohner über den Krach beschwert hatten.

 

          Einige Tage später im Bus nach Ossweil. „Blechle“ erblickte Günter und stürzte, mit den Worten auf ihn zu: „Hallo Günter, wann machen wir wieder einmal bei dir zu Hause eine Party?“ Günter reagierte sehr distanziert und verzog verzweifelt sein Gesicht. Was „Blechle“ nicht wusste, war, da er die Mutter von Günter nicht kannte, dass diese im Bus neben Günter saß. Seine Begeisterung kam also bei Günter in diesem Fall nicht gut an. Als Günter seine Mutter zu erkennen gab, fuhr „Blechle“ der Schreck in alle Glieder. Am nächsten Tag schilderte er mir seine Reaktion: „Peinlich berührt und voller Sorge, wie Günter mit dieser Situation fertig werden würde, verstummte ich und verzog mich in die letzte Ecke des Busses.“

Polizei verhindert Kneipenbesuch

 

          Den Stammkunden des Weinhauses Kurz schlossen sich zu einem Besuch der Lokalität weitere meiner Freunde an. Nach dem Besuch unseres Stammlokales „Zum Kronprinzen“ in der Bietigheimer Straße und der Vertilgung einiger Biere, zog es uns nach Ossweil. Also marschierten wir im Sommer 1958, sechs meiner Freunde und ich, Richtung Ossweil. In der Schorndorfer Straße auf Höhe des Schlossgartens vor der Südseite des Schlosses, kam einer auf die Idee, den weiteren Marsch als Kandeltritt zu gestalten. (Kandeltritt: Gleichmäßiger Gang mit einem Bein auf dem Gehweg und dem anderen Bein auf der Straße) Der Vorschlag wurde sofort umgesetzt, wir schritten unter Absingen liederlicher Lieder, in denen die Altersversorgung unserer Vorfahren in Frage gestellt wurde, voran. „Wir versaufen unserer Oma ihr klein Häuschen,  unser Oma ihr klein Häuschen und die Erste und die Zweite Hypothek“.

 

         

 

Kaum begonnen und schon wieder zu Ende. Denn plötzlich, wie aus dem Nichts, hielt ein Streifenwagen der Polizei neben uns. Zwei Polizisten erklärten uns, dass wir wegen ruhestörendem Lärm gebührenpflichtig verwarnt würden. Als wir die Polizisten darauf aufmerksam machten, dass sich auf der einen Seiter die Bärenwiese und auf der anderen Seite der südliche Schlossgarten befanden und deshalb niemand von unserem Gesang belästigt werde, änderten sie ihre Anklage in „Groben Unfug“.
           In Unkenntnis der Tatsache, dass „Grober Unfug“ nur vorliegt, wenn dabei die Öffentlichkeit belästigt wird, was unsere gesellige Veranstaltung ebenfalls nicht war, und verbunden mit unserem anerzogenen Respekt, um nicht zu sagen, unserer Angst vor der Staatsmacht, wehrten wir uns nicht und jeder von uns musste 5 Mark bezahlen. Ja wir hatten noch Respekt vor der Polizei!

 

Die Folge war, dass vier von uns danach zu wenig Geld hatten, um einen weiteren Gaststättenbesuch zu finanzieren. Das Angebot der Anderen, zusammenzulegen, lehnten sie ab, da sie über das Verhalten der Staatsmacht sehr verärgert waren. Bis heute habe ich den Verdacht, dass die beiden Polizisten uns schon einige Zeit beobachtet hatten und unberechtigter Weise ihre Macht, in Kenntnis unserer Unwissenheit, ausspielten. Daraus resultierte, dass ich auch heute noch ein sehr kritisches Verhältnis zur Staatsmacht habe. Da wir für die 5 Mark keine Quittung bekamen, frage ich mich, ob die 35 Mark jemals in der Staatskasse angekommen sind.

 

          Nach dem Besuch des Weinhauses Kurz, durch den Biergenuss stark alkoholisiert und noch immer mit Wut gegen die Polizisten im Bauch, geschah auf dem Heimweg die eine oder andere Schandtat. Darüber aber schweigt des Sängers Höflichkeit.

 

 

 

Nicht nur schön war die Jugendzeit

 

          Da stand er nun, ein junger Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht voller Wut über die Niederlage und Gemeinheit, die ihm widerfahren war. Er stand mitten auf der Straße vor der Gaststätte „Metropol" in der Bietigheimer Straße und der größte Teil seiner linken Wange fehlte. Da wo noch vor wenigen Minuten eine Backenhälfte seinem Gesicht Form und Rundung gegeben hatte, war nun ein großes Loch. Blut schoss aus dieser von einem abgebrochenen Flaschenhals aufgerissenen Wunde, und lief über sein Kinn auf sein zwischenzeitlich blutig rotes, einmal weißes Hemd.

 

          Wütend schaute er sich um, aber Günter, der ihm diese klaffende Wunde beigebracht hatte, war schon verschwunden. Diese zwar nicht lebensgefährliche Verletzung war das Ergebnis der Stippvisite eines Bauernjungen vom Lande in das Nachtleben der Stadt Ludwigsburg, die er mit einer hässlichen Narbe als Erinnerung für sein ganzes Leben bezahlte.

 

          Günter war in Ludwigsburg als rücksichtsloser Schläger bekannt, der, wenn er getrunken hatte, mit jedem, der ihn nur leicht anmachte, sofort Streit begann. Die Methoden, die er dabei praktizierte, waren so einfach wie gemein. Wer ihm im Weg stand oder ihn ansprach oder gar frech anschaute, wurde sofort beschimpft und beleidigt, bis der Betroffene keine andere Wahl mehr hatte, als sich zu wehren. Das war seine Stunde. Er forderte jeden auf, mit ihm auf die Straße zu kommen, um die Sache, wie er es ausdrückte, unter Männern auszumachen. Die meisten, im Glauben, dass es sich um eine der üblichen Keilereien mit Fäusten handelte, gingen dann auch darauf ein. Günter war aber nicht besonders stark, dies war auch an seiner schmächtigen Figur zu erkennen. In der Vorstellung, mit ihm leichtes Spiel zu haben, war auch der junge Mann vom Lande mit Günter auf die Straße gegangen, um das „unter Männern auszumachen".

 

          Er kannte aber die Hinterlist von Günter nicht. Dieser hatte noch nie einen sogenannten fairen Kampf geführt. Sicher wusste er überhaupt nicht, was das war. Seine Kampfmethoden waren immer die gleichen. Entweder völlig überraschend dem Gegner in den Unterleib treten oder mit einer abgeschlagenen Bierflasche den Kontrahenten schwer zu verletzen. So auch an diesem Sommerabend. Kaum auf der Straße, zog der Bauernbursche  sein Sakko aus, ging auf Günter zu und packte ihn am Hemd. Günter hatte unbeobachtet seine Bierflasche aus dem Lokal mitgenommen. Er beugte sich vor, zerschlug die Flasche auf dem Boden und ehe der verkannte Ringkämpfer wusste, wie ihm geschah, hatte ihm Günter mit einer Armbewegung die messerscharfe Kante des abgebrochenen Flaschenhalses durch das Gesicht gezogen.

 

Diese Gewalt war auch schon damals nicht meine Sache, aber sie blieb unkommentiert, denn ich wollte doch dazugehören. Der Einfluss meiner Mutter, welche mir gegenüber immer betonte, wie sie die Mutter von Günter wegen ihres gewalttätigen Sohnes bedauerte, führte zur Distanzierung von Günter. Unsere Wege trennten sich. Meiner endete ganz im Sinne von Bertha von Suttners Devise „Niemals Gewalt“, die ich allerdings damals noch nicht kannte, das gebe ich gern zu, in friedlicher und sozialpolitischer Richtung.