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Mein Freund Goro

Neugierde siegt

           Goro, so nannten ihn alle, war einer meiner Freunde. Ein Kerl wie ein Schrank, stark wie ein Bär, friedlich wie ein Lamm und gutmütig wie ein Bernhardiner. Nur wenige kannten seinen richtigen Namen. Ich habe ihn auch vergessen. Ich habe Goro, der in der Friedrichstraße aufgewachsen war, also relativ weit weg von der Holzmarktstraße, in der ich aufwuchs, über drei Mädchen kennengelernt. Wenn ich mit meinen Freunden auf dem Fahrrad in der Stadt unterwegs war, zog es uns zu einem Schulspielplatz auf dem Gelände zwischen dem Mörike- und Goethe-Gymnasium. Auf diesem Platz, der nicht mehr existiert, befindet sich heute ein Schulgebäude des Mörike-Gymnasiums. Dort haben die Freundinnen, die am Ende der Seestraße wohnten, gespielt. Als wir uns dann öfters dort aufgehalten hatten, lernten wir neben den Mädchen die dort wohnenden Jungs, darunter auch Goro kennen. Bald waren wir aus dem Bereich der Holzmarkt-, Kronen- und Bietigheimer Straße und der See- und Friedrichstraße eine Gruppe von sechs jungen Männern. Goro war einer der Ältesten in unserer Clique, seine soziale Entwicklung war etwas hinter seiner körperlichen zurückgeblieben. Er wirkte immer wie ein großes Kind. Alle mochten ihn und fühlten sich von ihm beschützt. Goro war immer gut gelaunt und zu irgendwelchen Scherzen aufgelegt. Wenn es dabei darum ging, unsere Mitmenschen auf die Schippe zu nehmen, spielten wir bei seinen Späßen auch mit.

           So auch an diesem schönen Herbsttag, als wir, eine Gruppe von Freunden, mal wieder in der Stadt unterwegs waren. Unser Ziel war, eher zufällig, der Bahnhofsvorplatz, denn da war immer etwas los. Sicher hätten wir uns gewundert, wenn Goro nicht wieder etwas eingefallen wäre. So waren wir nicht sehr erstaunt als er unmittelbar vor dem Eingang zum Bahnhof plötzlich stehen blieb.

1955. Das alte Postamt an der Myliusstraße

 

          Sein Blick richtete sich schräg nach oben in Richtung der kunstvollen Dachaufbauten des dem Bahnhof damals gegenüberliegenden Postamtes. Durch Blick und Körperhaltung Spannung und Interesse zeigend, mit einer Hand auf das Dach weisend, stand er da und rief, nicht sehr laut, aber doch so laut, dass mehrere Passanten es hören konnten: „Schaut mal da!"

           Natürlich richteten sich unsere Blicke ebenfalls nach oben. Zuerst auch, um selbst zu sehen, was es da wohl zu sehen gebe. Da wir Goro kannten und nichts Auffälliges zu entdecken war, schalteten wir schnell.
           Er machte wieder einen seiner unnachahmlichen Scherze. Wir standen also auch, den Blick starr und schräg nach oben gerichtet, mit der Hand die Blickrichtung unterstreichend und sagten nicht zu laut, aber deutlich hörbar für die Menschen um uns herum: „Tatsächlich, das ist nicht zu glauben!“ Einige von
uns äußerten dazwischen scheinheilige Fragen: „Wo denn, ich sehe nichts?", oder  Antworten wie: „Ganz deutlich, etwas rechts!"

           Da standen wir, sechs junge Männer, starrten und zeigten nach oben, als ob es da die wichtigste Sache der Welt zu sehen gebe. Die Zahl der neugierigen Passanten, die ebenfalls den Blick in Richtung Dach gewandt hatten, nahm zu. Neugierig und interessiert, schauten zwischenzeitlich acht oder neun weitere Personen nach oben, ohne etwas zu sehen, denn außer dem Dach gab es auch nichts zu sehen, aber keiner fragte nach. War es aus Unsicherheit, eventuell nicht die richtige Richtung zu erkennen, oder wollte man einfach nicht zugeben, etwas nicht zu sehen, das sechs junge Männer eindeutig im Blick hatten?

           Plötzlich ein lautes Lachen von Goro. Wir drehten wie auf Kommando ab und Goro ließ laut und vernehmlich hören: „Jetzt können wir gehen! Was die wohl alle da oben sehen?" Zurück blieben einige etwas verdutzt dreinschauende Bürger. Wie viele den Spaß mitgetragen haben oder verärgert waren, haben wir nie erfahren. Die Neugierde der Menschen und die Phantasie von Goro hatten wieder einmal gesiegt.

           Wie schon gesagt, Goro war stark. Er war aber trotz seiner stattlichen Figur sehr flink und konnte hervorragend klettern. Einer seiner Lieblingsspäße war immer wieder, am Abwasserrohr der Dachrinne seines Wohnhauses in der Friedrichstraße elegant wie ein Affe hochzuklettern, oben an der Dachkante an die Dachrinne zu klopfen, und schon stand er wieder unten. Dann freute er sich wie ein kleines Kind über unsere erstaunten und bewundernden Blicke.
Besonders erfreute es ihn, dass sich keiner von getraute, es ihm nachzumachen. Nebenbei bemerkt war das Haus, in dem er wohnte, immerhin vier Stockwerke

hoch. Solche Kletterkunststücke vollbrachte er auch an anderer Stelle und bei jeder Gelegenheit.

Das Gaswerk von 1890
  

          So geschah es auch am Abend in der Charlottenstraße. Zur damaligen Zeit gab es noch viele alte Gaslaternen in der Stadt. Sie waren zum größten Teil auf gusseisernen Masten, aber auch an den Häuserwänden auf ebenfalls gusseisernen Trägern angebracht. Die Laternen waren circa drei Meter hoch an der Hauswand befestigt. Sie wurden alle vom städtischen Gaswerk aus über die Erhöhung des Gasdruckes gezündet und gelöscht. Um Mitternacht wurden, ebenfalls durch Erhöhung des Druckes ausgelöst, von sechs Glühstrümpfchen drei gelöscht, um Gas zu sparen. Das Ein- und Ausschalten konnte aber auch an der Laterne selbst vorgenommen werden. Dazu gab es einen kleinen Ring unmittelbar an der Glasampel der Laterne. Wenn man daran zog, erfolgte der Schaltvorgang. Diesen Ring zu erreichen machte aber den Einsatz einer Leiter oder einer entsprechend langen Stange mit Haken notwendig.

 

Die Ludwigsburger Gaslaternen     

         

          Eines Tages, wir waren wieder einmal unterwegs, es wurde langsam dunkel und die Gaslaternen gingen an. Plötzlich erspähte Goro an einem Haus in der Charlottenstraße zwei Dinge, die seinem Spieltrieb sehr entgegenkamen. Eine Gaslaterne und, welch eine Fügung des Schicksals, am Haus ein Baugerüst. Goro stemmte sich mit zwei, drei Klimmzügen am Baugerüst hoch und schon war er an der Laterne. Ein kurzer Zug am Ring und noch ein Zug und schon war das Licht wieder aus. Die plötzliche Dunkelheit und unser Getue, eine Mischung zwischen Lachen und Gebrüll, machten einen Mann im Alter von circa 50 Jahren auf die Vorgänge aufmerksam.

           Der Mann stand auf der anderen Straßenseite und hatte vielleicht auch unser Treiben schon einige Zeit beobachtet, legte plötzlich los und schimpfte furchtbar. Was uns Lausbuben eigentlich einfiele, wir sollten die Laterne schnellstens wieder einschalten, sonst würde er die Polizei rufen. Unsere Reaktion: Zuerst erschrockenes Schweigen. Man hatte uns erwischt. Doch Goro, zwischenzeitlich längst wieder auf sicherem Boden, reagierte in seiner unnachahmlichen Art.

           Kaum war bei ihm die Schrecksekunde vorbei, drehte er sich um, ging auf den Mann zu, sich förmlich aufblasend und größer und größer werdend, brüllte er: „Was willst du Zwerg, aus dir mach ich gleich Hackfleisch!" Goro, an sich schon sehr groß, hoch aufgerichtet, die Arme seitlich vom Körper abgespreizt, muss auf den Mann furchterregend gewirkt haben, denn er reagierte sehr erschreckt, drehte sich um und lief so schnell es ging davon. So war Goro, ein großes Kind, der nie jemandem etwas getan hätte, aber mit seinen körperlichen Kräften so umging, dass er eigentlich nie in Verlegenheit kam, diese auch beweisen zu müssen. Nicht nur aus heutiger Sicht waren das Verhalten von Goro und auch unser Verhalten nicht in Ordnung. Es ist nur mit unserem jugendlichen Alter zu erklären und vielleicht zu entschuldigen. Doch Klagen über die Jugend und ihr Verhalten gibt es schon, solange es Menschen gibt. So hat der Philosoph Sokrates, der von 470 bis 399 v. Chr. lebte geschrieben: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“


        

aufgeschrieben von
Werner Hillenbrand, geb. am 20. Dezember 1940 in Ludwigsburg
Eltern: Margarete Krebs verw. Hillenbrand geb. Becker und Peter Hillenbrand
Wohnung bei Geburt: Leonberger Straße 38 im 2. Stock

 

Titelbild: 1950. Die Seestraße, rechts Haus Nummer 61.
Rechtes Bild. 1957. Drei Burschen vor dem Schulspielplatz in der Seestraße.
Heute steht an dieser Stelle ein Schulgebäude des Mörike-Gymnasiums.


Lektorat Hedi Seibt